Frische Brise bei Brahms

Eine Gesamtaufnahme der Sinfonien mit Mario Venzago

 

Von Peter Hagmann

 

Vernehmlich knarrt der Holzboden, den die Schweiz ihren musikalischen Künstlern bietet. Der Komponist, Oboist und Dirigent Heinz Holliger hat für seine Lehrtätigkeit Freiburg im Breisgau ausgewählt und wirkt weltweit in den Zentren der klassischen Musik. Sein Komponisten-Kollege Klaus Huber ist ebenfalls nach Deutschland (und Italien) ausgewandert, während unter den Vertretern jüngerer Generation etwa der Dirigent Philippe Jordan zu erwähnen wäre, der seine Standbeine in Paris und Wien gefunden hat. Auch bei Mario Venzago, der eben gerade, am 1. Juli, seinen siebzigsten Geburtstag begangen hat, assoziiert man die Schweiz eher auf den zweiten Blick.

In jungen Jahren arbeitete der in Zürich geborene Dirigent in Winterthur und Luzern, bis er als Generalmusikdirektor nach Heidelberg und als Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie nach Bremen ging. Von dort aus zog es ihn nach Graz und San Sebastian, nach Baltimore und Indianapolis, zu den Schweden, den Finnen und den Briten. In der Schweiz betreute er immerhin einige sehr erfolgreiche Jahre lang das Sinfonieorchester Basel und steht er seit 2010 mit ebenso brillanter Wirkung dem Berner Sinfonieorchester vor. Für Konzertauftritte, erst recht für Leitungsaufgaben bei den führenden Orchestern in Zürich oder Genf scheint Venzago dagegen nicht in Frage zu kommen.

Das ist so typisch wie bedauerlich. Mario Venzago ist ein unbequemer Künstler: ein Interpret in emphatischem Wortsinn. Davon spricht etwa das grosse, wissenschaftliche begleitete Berner Projekt rund um «Das Schloss Dürande», die letzte Oper Othmar Schoecks von 1943, deren braun gefärbter Text umgeschrieben wurde, was zu einer bemerkenswerten Neufassung geführt hat (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 06.06.18). Venzago hat da ebenso in die Partitur eingegriffen, wie er sich erlaubt hat, die «Unvollendete» Franz Schuberts zu vollenden – und wie er sich jetzt mit gleicher Ambition Schuberts Oper «Fierrabras» zuzuwenden gedenkt.

Als Interpret folgt er nicht dem Mainstream, in jedem einzelnen Fall hat er seine eigene Meinung. Das war schon bei der Gesamtaufnahme der Sinfonien Robert Schumanns zu verfolgen, die er in den Jahren 1999 bis 2002 mit dem Sinfonieorchester Basel erarbeitete. Er kam dabei zu Ergebnissen, an denen man sich da und dort reiben konnte, die aber doch wesentlich interessanter wirkten als die wenig später entstandene Einspielung des Tonhalle-Orchesters Zürich mit seinem damaligen Chefdirigenten David Zinman. Ähnliches gilt für die Auslegung der Sinfonien Anton Bruckners, die Venzago zwischen 2010 und 2014 mit nicht weniger als fünf Orchestern unterschiedlichster Provenienz für eine CD-Produktion von cpo erarbeitet hat. Wie er da mit dem Klang und den Tempi umgegangen ist, zeugte nicht nur vom eigenwilligen Naturell des Dirigenten, es hat auch mächtig für Belebung in den Diskussionen um die Interpretation der Sinfonien Bruckners gesorgt.

Und jetzt: Brahms. Schon für die Arbeit an Bruckner, an den Sinfonien Nr. 0, 1 und 5, hat Mario Venzago auf die Tapiola Sinfonietta aus der finnischen Stadt Espoo zurückgegriffen. Der 1987 gegründete Klangkörper, dem er seit 2010 als «artist in association» verbunden ist, verfügt über 41 feste Mitglieder und soll mit diesem Bestand der Meininger Hofkapelle entsprechen, die Brahms so hoch geschätzt und anlässlich der Uraufführung seiner vierten Sinfonie selber dirigiert hat. Darum ging es Venzago: die Sinfonien (und die beiden Serenaden) von Johannes Brahms nicht mit den Instrumenten, aber doch im Geist ihrer Entstehungszeit zu verwirklichen. Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis werden hier ganz selbstverständlich in das hergebrachte Musizieren eingebracht – was zu spannenden Hörerlebnissen führt.

Wer in den meist dunkel und schwer gegebenen Anfang der ersten Sinfonie einsteigt, darf sich überraschen lassen durch ein helles, leichtes Klangbild, in dem die Bläser über ein ganz anderes Gewicht verfügen als gewöhnlich – das Kontrafagott zum Beispiel ist da auf Anhieb zu hören und als reizvolle Klangfarbe wahrzunehmen. Die Streicher wiederum, sie verzichten nicht auf das Vibrato, sie setzen es aber doch sparsam und gezielt ein; wenn im Andante der dritten Sinfonie die Holzbläser mit den Bratschen und den Celli dialogisieren, kommen darum Farbwirkungen von ganz aussergewöhnlicher Dimension zustande. Ausserdem sind die Streicher nach deutscher Art aufgestellt, sitzen die beiden Geigengruppen also links und rechts vom Dirigenten, was der stark ausgebauten kontrapunktischen Faktur dieser Musik zugute kommt. Jedenfalls glaubt man immer wieder ganz wunderbar ins Innere des musikalischen Satzes hineinzuhören – was nicht zuletzt auch auf die von Andreas Werner hervorragend eingerichtete Aufnahmetechnik zurückgeht.

Entspannte Vitalität durchzieht die Aufnahme insgesamt. Dazu trägt auch die bewusste Ausgestaltung von Artikulation und Phrasierung bei. Wird im Kopfsatz der zweiten Sinfonie der Dreivierteltakt durch klare Gewichtsetzung immer wieder spürbar gemacht, so fällt im liebevoll ausmusizierten Andante der Vierten auf, wie das Forte nicht allein durch Lautstärke, sondern ebenso sehr durch die Arbeit an der Länge der einzelnen Töne und ihrer Verbindung miteinander erreicht wird: durch die Artikulation. Besondere Bedeutung kommt jedoch den Tempi zu. Sie bleiben im allgemeinen flüssig und sind weniger modifiziert als in anderen Aufnahmen Venzagos. Dennoch werden auch hier einzelne Gesten wie Momente der Verdichtung durch leichte Veränderungen des Grundtempos unterstrichen. Venzago hält sich dabei an die Ratschläge des Komponisten für den Meininger Hofkapellmeister Fritz Steinbach, die nicht in die Partiturdrucke eingegangen, sondern durch Aufzeichnungen fremder Hand überliefert sind – doch tut er das so diskret, wie es sich die modern denkenden Interpreten des ausgehenden 19. Jahrhunderts gewünscht haben. An Anregung fehlt es hier keinen Augenblick lang.

Johannes Brahms: Die vier Sinfonien, die zwei Serenaden. Tapiola Sinfonietta, Mario Venzago (Leitung). Sony 119075853112 (3 CD).