Ein Scherz von Johann Strauss Vater
Von Peter Hagmann
Recht pompös, dieser Marsch zur Eröffnung: zwei Eckteile im Tutti und ein von den hohen Holzbläsern bestimmter Binnenteil. Aber er ist bloss ein Versprechen, denn er endet auf der Dominante und führt ins Nichts einer Generalpause – eine Frage ohne Antwort? Nein, ein Doppelpunkt vor dem duftigen Walzer, der jetzt anhebt. Seine Melodie kommt einem nicht ganz unbekannt vor – doch, ja, es handelt sich um «Mein Hut, der hat die Ecken». Erste Zeichen amüsierter Unruhe im Publikum; «wollen Sie mitsingen?», fragt der Dirigent halblaut in den Saal, worauf sich ins Gelächter einige zaghafte Stimmen mischen. «Nochmal, von Anfang an» und «coraggio», aber auch lakonisch: «zu spät» – so ist es nun einmal, wenn Dirigenten am Werk sind.
Doch das ist nur das Vorspiel, denn jetzt beginnt der Reigen der von den Orchestermitgliedern in erheiterndem Wettstreit vorgetragenen Variationen über das Volkslied. Die Oboe nimmt all ihren Mut zusammen und fügt einige Verzierungen in den melodischen Verlauf ein, was zu ersten Komplimenten führt. Die beiden Flöten lassen es sich nicht nehmen und steuern terzenselig perlende Läufe bei, was schon auf mehr Bewunderung stösst. Die Streicher geben sich als Riesengitarre und machen der Orchesterharfe Konkurrenz, doch dann schlägt die Stunde des gerne etwas am Rand sitzenden und deshalb wenig beachteten Piccolospielers, der mit einer Kaskade atemberaubender Läufe von zuoberst nach zuunterst und zurück kugelt – was einen Ausbruch an Jubel erzeugt. Die Atmosphäre nimmt Formen an, wie sie bei einem Jazzkonzert üblich sind, wo jedes Solo über dem stets gleichbleibenden Bass mit Beifall kommentiert wird. So folgt eine spassige Einlage der anderen, bis es schliesslich zum tosenden Kehraus kommt. Wer Not an guter Laune hat – in diesen sieben Minuten kann er tanken.
Was heisst hier «Jazzkonzert»: Die Rede ist vom Mitschnitt eines Orchesterkonzerts aus dem Goldenen Saal des Wiener Musikvereins, genauer: des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker von 2007, als Zubin Mehta ans Pult gebeten war – Zubin Mehta, der damals noch voll in Form war und genau die passende Ruhe fand, um den Solisten aus dem Orchester den Boden für ihre Kapriolen zu bereiten. Zu hören ist es auf CD, zu sehen ist es auf DVD, zu erleben ist aber auch ganz einfach auf Youtube unter «Erinnerung an Ernst» (Audio: https://www.youtube.com/watch?v=RNswe9Taye8 / Video: https://www.bilibili.com/video/BV1Pp4y1i7WY/?uid=425631507034793169375759). Die Aufnahmen von 2007 unterscheiden sich geringfügig voneinander; mag sein, dass sie nicht aus der gleichen Aufführung stammen. Was auf CD zu hören ist, erscheint musikalisch und vom Witz her subtiler, auf DVD ist dafür zu sehen, was die Wiener Philharmoniker und Zubin Mehta an optischem Effekt beisteuern. Zum Beispiel in jener Passage, da der Geiger neben dem Konzertmeister eine horrible Passage blendend hinlegt, den Schlusston jedoch dem Konzertmeister überlassen muss, der sich nach seinem einzigen Ton erhebt, um sich zu verbeugen. Und dann gleich noch etwas stehenzubleiben, bis ihm der Dirigent auf die Schulter klopft und darauf hinweist, dass er sich wieder hinsetzen könnte. Was er dann auch tut.
Bleibt die Frage, wer jener Ernst sei, an den die «Erinnerung an Ernst» erinnert. Das dergestalt betitelte Stück stammt von Johann Strauss Vater, dem Schöpfer des «Radetzky-Marsches». Bekannt ist es auch unter der Opuszahl 126 und unter dem Titel «Der Carneval in Venedig». Und das darum, weil Strauss der Ältere (1804 bis 1849, Vater von vierzehn Kindern) anschloss an «Le Carnaval de Venise», op. 18, ein Thema mit fünfundzwanzig Variationen über die Canzonetta «Cara mamma mia» von Heinrich Wilhelm Ernst (1814 bis 1865). Ernst war einer der berühmtesten Geiger seiner Zeit, sein Vorbild war kein Geringerer als Niccolò Paganini (1782 bis 1840). Gleich gut wie der Teufelsgeiger wollte Ernst werden, ja besser als der, und die Voraussetzungen waren gegeben, denn Ernst, aus einer Schenke in Brünn stammend, war ein Wunderkind, wie es im Buche steht; zahllos sind die Legenden um sein Können. Sein Ende dagegen war tragisch; krank und verarmt starb er in Nizza.
Ernsts Komposition entstand 1837 und erschien 1844 im Druck, die Verneigung von Strauss Vater kam wohl 1841 bei Tobias Haslinger in Wien heraus – und zwar als Klavierstück. Ob es Strauss selbst orchestriert hat, ist nicht bekannt, handschriftliches Material fehlt, nicht einmal eine Partitur ist vorhanden, es gibt lediglich eine Abschrift von Orchesterstimmen. Auf dieser Basis hat Michael Rot das Stück herausgegeben. Zum Glück für uns. Von wem genau die diversen Scherze stammen, vom Komponisten, vom Herausgeber, vom Dirigenten, von den Orchestermitgliedern, es darf offenbleiben.