Im Fruchtland des Kontrapunkts

Bachs Wohltemperiertes Klavier
mit dem Cembalisten Andreas Staier

 

Von Peter Hagmann

 

Zurückhaltend, ja bescheiden hebt das berühmte Präludium in C-Dur an; die Folge der gebrochenen Akkorde, die Johann Sebastian Bach wie in einem Rausch erfunden zu haben scheint, ist in das gedämpfte Licht des Lautenzugs getaucht. Andreas Staier ist nicht ein Mann der grossen Töne, auch hier nicht, bei seiner Beschäftigung mit dem Wohltemperierten Klavier. Begonnen hat Staier seine nun auf vier Compact Discs vorliegende Arbeit im Aufnahmestudio allerdings nicht mit dem ersten, sondern mit Band II der je vierundzwanzig Präludien und Fugen durch die zwölf Dur- und die zwölf Moll-Tonarten der hierzulande üblichen Tonleiter. 1740 entstanden, ist dieser zweite Band einer Schaffensphase zuzurechnen, in welcher der Komponist Bilanz zu ziehen suchte; anders als der knapp zwanzig Jahre zuvor entstandene Band I, in dem neben der einzigartigen kontrapunktischen Weisheit gerne auch Bachs konzertantes Temperament durchdringt, wirkt dieser zweite Durchgang ernster, intentionaler, daher etwas spröder, auch etwas anspruchsvoller, aber nicht weniger attraktiv. Diesen Stier hat Andreas Staier 2020 bei Teldex in Berlin für das Label Harmonia mundi bei den Hörnern gepackt; im Jahr darauf folgte dann der erste Band.

Anders als dort beginnt in Band II das Präludium in C-Dur – im Wohltemperierten Klavier folgen sich die Stücke ansteigend nach der Ordnung der Klaviertastatur – mit einem klaren Statement: mit einer Oktave auf c in der linken Hand. Bei Staier ist es Paukenschlag. Ans Licht tritt hier eine der Besonderheiten seiner Einspielung. Er verwendet ein grossartiges Instrument, das er grossartig bedient. Viel zu erfahren ist davon leider nicht. Die Booklets vermelden, dass es sich um die Kopie eines 1734 in Hamburg erbauten Cembalos von Hieronymus Albrecht Hass handle, die 2004 von Anthony Sidea und Frédéric Bal in Paris angefertigt worden sei – mehr nicht. Zu hören ist ein Cembalo, das offenkundig mit zwei Manualen und einer Dämpfung nach der Art des Lautenzugs, vor allem aber mit einer 16-Fuss- und einer 4-Fuss-Lage versehen ist, die angespielten die Töne mithin eine Oktave tiefer oder eine höher erklingen lassen kann. Von solchen Instrumenten hat sich die frühe Bewegung der alten Musik ebenso radikal abgewandt wie von der Spielweise etwa Karl Richters. Verächtliche Worte waren da an der Tagesordnung. Bevorzugt und als adäquat angesehen wurden weniger üppig ausgestattete, allerdings gleichwohl hervorragend klingende Cembali allein auf 8-Fuss-Basis.

Nun kommt ein Musiker wie Andreas Staier, der ja keineswegs von gestern, vielmehr klar in der Gegenwart der alten Musik verankert ist und auf dem Stand der aktuellen Erkenntnis agiert – und der effektvoll mit 16-Fuss und 4-Fuss, der Kopplung der Manuale und anderem arbeitet. Die Zeit der ideologischen Scheuklappen ist vorbei, neue Freiheit, die Lust am Spielerischen hat Raum gegriffen – das lässt auch, um nur dies eine Beispiel zu nennen, ein Dirigent wie René Jacobs hören. Basis von Staiers Tun bildet bei aller Freiheit jedoch ganz selbstverständlich die historisch informierte Spielweise mit all ihren Vorzügen. Dazu gehört die klare Unterscheidung zwischen gebundenem und gestossenem Spiel, und mehr noch: die vielfältige Differenzierung dieser Unterscheidung; die Länge des einzelnen Tons innerhalb eines Verlaufs ist auf dem Cembalo (wie auf der Orgel) von ganz besonderer Bedeutung für den musikalischen Ausdruck. Von prägender Wirkung sind ausserdem der ungleichzeitige Anschlag gleichzeitig notierter Töne sowie bisweilen die Abkehr vom regelmässig durchlaufenden Schlag – genauer: die momentane Anpassung der Zeitmasse an die musikalische Struktur oder das Ausdrucksbedürfnis des Interpreten.  Nicht zuletzt gilt das für den sorgsam phantasievollen Umgang mit Verzierungen.

Von all dem lebt die Aufnahme des Wohltemperierten Klaviers Johann Sebastian Bachs durch Andreas Staier, und dies im Verein mit der phantastischen technischen Versatilität und der enorm ausgebauten Vorstellungskraft des Musikers. Pralles Leben in sinnlichen Klangwelten herrscht da, der kunstvoll gedrechselte Kontrapunkt wird, wie es Bach gewollt, zu unmitttelbar ausstrahlender Musik – wer sich auf diese Welt einlässt, mag nimmer davon lassen. Auf das zarte C-Dur-Präludium am Anfang des ersten Bandes folgt eine vierstimmige Fuge in fürwahr mächtigem Klang – das Cembalo ist in dieser Einspielung von sehr nahe aufgenommen, was der Realität in einem heutigen Konzertsaal wenig entspricht, die Wirkung des Instruments in den viel kleineren Räumen des 18. Jahrhunderts aber sehr wohl spiegelt. Noch majestätischer klingt es im darauffolgenden c-Moll-Präludium, dies durch den Einsatz des besagten 16-Fuss-Registers – und gern führt Staier die Schlussakkorde nicht nur zu deutlicher Kulmination, er lässt sie auch oft lange liegen, wie überhaupt das Nachklingen des Instruments nach dem Abheben der Finger von den Tasten hörbar bleibt.

Immer noch im ersten Band gibt es ein Präludium in Cis-Dur, bei dem zu erleben ist, wie mit Hilfe einer Technik, die den einzelnen Ton in den nächstfolgenden hineinklingen lässt, ein von opulentem Legato getragenes Klangbild entsteht. Etwas Schwierigkeiten mag das Präludium in cis-Moll auslösen; hier nötigt die Stimmung zu einigen Hörkompromissen. Das Wohltemperierte Klavier wird von Staier ja nicht in der heute üblichen Temperierung gespielt, wie es die Pianisten tun; der Stimmer Rainer Sprung hat vielmehr eine, wie es im Booklet heisst, «pragmatische» Mitteltönigkeit verwirklicht, die durch ihre minimalen «Verstimmungen» ein Gefühl dafür aufkommen lässt, welche Revolution das «Wohltemperierte» und somit das Spielen in allen möglichen Tonarten im 18. Jahrhundert bedeutet hat. Äusserst klar in der Folge die fünfstimmige Fuge in cis-Moll, bei deren Wiedergabe die pointierte Artikulation für Durchhörbarkeit sorgt, während zugleich die Arbeit mit dem Tempo für Spannung sorgt – fast möchte man an dieser Stelle von einer Art Steigerungsfuge sprechen. Ausserordentlich virtuos sodann das zweistimmige Präludium in G-Dur wie später das dreistimmige Präludium in A-Dur; Staier geht es frei von Angst vor den nach einem Wechsel in der Gestik eintretenden Sechzehntelketten, jedenfalls in mutig belebtem Tempo an.

Auch im zweiten Band folgt Entdeckung auf Entdeckung, abendfüllend liesse sich davon berichten. Die Rede wäre etwa von der vierstimmigen Fuge in c-Moll, die eine gewaltige Steigerung des Ausdrucks erfährt – dies notabene auf einem Instrument, bei dem man lange Zeit (und vielleicht zu Recht) genau das, die Möglichkeiten des Ausdrucks, als beschränkt moniert hat. Die dreistimmige Fuge in d-Moll: vital artikuliert, auch dort, wo leicht fliessende Triolen dazutreten. Die vierstimmige Fuge in Es-dur: eine Kathedrale in Klängen. Und ganz zum Schluss, ähnlich dem C-Dur-Präludium im ersten Band, die dreistimmige Fuge in h-Moll, die den riesigen Gang zwei Mal durch alle Tonarten ohne Pomp, ein wenig scheu, ja lapidar abschliesst. So ist Andreas Steier: nüchtern und glühend zugleich. Seine Auslegung von Bachs Wohltemperiertem Klavier öffnet ein neues Kapitel in der langen, reichen Interpretationsgeschichte der beiden Bände und stellt der Dominanz der Auslegungen auf dem Klavier ein fulminantes Plädoyer für das Cembalo entgegen.

Johann Sebastian Bach: Das wohltemperierte Klavier. Andreas Staier (Cembalo).
Band 1: Harmonia mundi 902680.81 (2 CD, Aufnahme 2021, Publikation 2023).
Band 2: Harmonia mundi 902682.83 (2 CD, Aufnahme 2020, Publikation 2021).

Klaviertrios – neu gewonnen

 

Peter Hagmann

Im Geist der Entstehungszeit, aber für heute

Die Klaviertrios von Franz Schubert mit Andreas Staier, Daniel Sepec und Roel Dieltiens

 

Eine unglaubliche Energie zieht durch die neue Aufnahme der beiden Klaviertrios (B-dur, D 898, und Es-dur, D 929) von Franz Schubert, mit welcher der Pianist Andreas Staier, der Geiger Daniel Sepec und der Cellist Roel Dieltiens bei Harmonia mundi auf sich aufmerksam machen. Musikantischer Schwung herrscht hier und hochgradig erfüllte Musikalität. Zugleich aber wird, was die Interpretation dieser Musik betrifft, ein neues Kapitel aufgeschlagen.

Grund dafür ist einmal mehr die historisch informierte Aufführungspraxis. Inzwischen verbreitet sie sich auch im Bereich der Kammermusik: still und leise, aber wahrnehmbar. Noch sind die Ensembles, die mit Instrumenten, Spieltechniken und Interpretationsansätzen aus der Entstehungszeit der jeweiligen Kompositionen arbeiten, nicht sehr zahlreich – jedenfalls nicht so zahlreich wie auf dem Feld des Orchestralen. Aber es werden immer mehr, und ihre Leistungen drängen kraftvoll ans Licht, aufmerksam beobachtet von einem Publikum, das zunehmend Interesse zeigt. Deutlich wird dabei auch, dass es nicht in erster Linie um das Instrumentarium geht. Das Quatuor Van Kuijk, das hier vor zwei Wochen vorgestellt wurde, spielt in konventioneller Besetzung; es verwendet zum Beispiel synthetische Saiten, die es zur Zeit Mozarts natürlich nicht gegeben hat. Aber was sich in der Szene tut, scheint den vier jungen Musikern aus Frankreich absolut gegenwärtig.

Im Fall der beiden Klaviertrios von Franz Schubert und ihrer erstklassigen Aufnahme geht es nun aber tatsächlich auch um das verwendete Instrumentarium. Es wird im Booklet, man ist dankbar dafür, in allen Einzelheiten vorgestellt – allein die Benennung der Saiten fehlt noch. Die Geige, die Daniel Sepec spielt, stammt aus der Cremoneser Werkstatt von Lorenzo Storioni und ist dort 1780 erbaut worden, etwa fünfzig Jahre vor der Entstehung der Klaviertrios Schuberts. Sepec verwendet ausserdem einen Bogen auf der Höhe der damaligen Zeit, nämlich einen des berühmten Engländers John Dodd, der nach den Vorgaben des noch berühmteren Franzosen François Xavier Tourte konstruiert ist. Mit Kopien arbeitet der Cellist Roel Dieltiens. Sein Instrument ist ein Nachbau nach Stradivari von Marten Cornelissen aus dem Jahre 1992, während der Bogen von Henk Cornelissen stammt und auf ein Modell von Dodd zurückgreift. Andreas Staier wiederum, er spielt auf einem Wiener Flügel von Conrad Graf von 1827, dem Entstehungsjahr der Klaviertrios – allerdings nicht auf einem Original, sondern einer Kopie des in Frankreich wirkenden Instrumentenbauers Christopher Clarke von 1996.

Das alles ist durchaus von Belang. Die für diese Aufnahme gewählten Instrumente (und ihre etwas tiefere Stimmung) erzeugen einen ganz und gar anderen Ton, als man ihn gewohnt sein mag – wenn man zum Beispiel die klangsatte Einspielung der Schubert-Trios mit Vladimir Ashkenazy am Klavier sowie dem Geiger Pinchas Zukerman und dem Cellisten Lynn Harrell aus dem Jahre 1996 im Ohr hat. Obwohl Sepec, Dieltiens und Staier Kammermusik auf höchstem Niveau betreiben, obwohl sie von ausgefeilter musikalischer Übereinstimmung ausgehen, verbinden sich ihre Stimmen doch nicht zu jenem kraftvollen Amalgam, das dort angestrebt wird; sie stehen vielmehr nebeneinander und wirken in gleichberechtigter Individualität miteinander – bisweilen auch erfrischend gegeneinander wie etwa im Scherzo des B-dur-Trios D 898, wo die Artikulationen in den drei Partien durchaus unterschiedlich ausfallen. Das führt dazu, dass das musikalische Geschehen von innen heraus leuchtende Belebung erhält; es lässt erfahren, wie Schubert auch in diesen beiden späten Trios seine Kantabilität einsetzt, wie kontrapunktisch er aber auch denkt. Äusserst lebhaft ist das Gespräch, das sich daraus ergibt.

Und das, obwohl es in vergleichsweise leisem Ton geführt wird – eine Wohltat in dieser überlauten Zeit. Gewiss, die Graf-Kopie Staiers klingt im Vergleich zu manch anderen Hammerflügeln geradezu opulent, Staier reizt die Möglichkeiten des Instruments auch mit allem Können aus. Dennoch ist nicht zu überhören, dass ein Hammerflügel nie die Kraft eines Steinway erreicht. Dazu kommt die kurze Nachhallzeit des einzelnen Tons, was das Perkussive des Instruments in den Vordergrund rückt – ohne dass dadurch jedoch, Staier gelingt das vorzüglich, das Gebundene und das Singende an Prägnanz verlören. Ähnliche Positionswechsel verlangt die Stradivari von Sepec, die nicht auf die heute übliche Saitenspannung adaptiert ist. Allein, der kümmerliche, etwas näselnde Ton alter Geigen aus der Pionierzeit der historisch informierten Aufführungspraxis ist in dieser Aufnahme nachhaltig überwunden; Sepec holt aus dem Instrument beeindruckende Körperlichkeit und eine Fülle an Farben heraus. Und die temperamentvollen Akzentsetzungen, mit denen der Geiger am Anfang des B-dur Trios zusammen mit dem seinerseits überaus aktiv gestaltenden Cellisten Roel Dieltiens aufwartet, lassen erahnen, welche ganz anderen Ausdrucksmittel hier verlangt – und möglich sind.

Und welch aufregend neue Hörerfahrungen sie erschliessen. Der sorgsame Umgang mit dem Vibrato, das nicht als Grundlage der Tongebung, sondern als Verzierung genutzt wird, sorgt im Kopfsatz des B-dur-Trios für ein spannungsvolles Voranziehen; im langsamen Satz dagegen verbannen die geraden Töne jede Süsslichkeit, schaffen sie vielmehr Raum für eine andere, vielleicht wahrhaftigere Art Emotion. Und in dem zu den beiden Trios gestellten Notturno in Es-dur (D 897), einem rätselhaften Einzelsatz für Klaviertrio aus derselben letzten Schaffensphase Schuberts, nimmt die Dosierung des Vibratos den sehnsüchtigen Terzparallelen jede übersteuerte Emphase. Besonders eindringlich wirkt die Tongebung zu Anfang des Es-dur-Trios D 929. Fast schmerzhaft klar klingt dieser Einstieg, er öffnet dem Zuhörer krass die Ohren und macht ihn frei für die Wunder, die Andreas Staier, Daniel Sepec und Roel Dieltiens vor uns ausbreiten – mit einer Phrasierung, die bewusst mit dem Unterschied zwischen schweren und leichten Taktzeiten arbeitet, und mit einer Artikulation, die nicht vom Legato als dem Mass aller Dinge ausgeht, sondern eine Vielzahl nicht gebundener Tonverbindungen einbringt. Zum Höhepunkt wird der langsame Satz dieses zweiten Trios, den Wolfgang Fuhrmann in seinem Booklet-Text als einen privaten  Trauermarsch auf den Tod Beethovens deutet. Hier ist beides zu hören: Trauer wie Privatheit.

Franz Schubert: Klaviertrios in B-dur (D 898) und Es-dur (D 929), Notturno für Klaviertrio in Es-dur (D 897). Andreas Staier (Hammerklavier), Daniel Sepec (Violine), Roel Dieltiens (Violoncello). Harmonia mundi 902233/34 (2 CD).