Im Prunksaal

Lucerne Festival:
Die Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko

 

Von Peter Hagmann

 

Sie sind noch immer, was sie waren: ein exzellentes Orchester, und eines der besonderen Art. Gebildet aus lauter Persönlichkeiten, in den solistischen Positionen ohnehin, aber auch in den Kollektiven, wo bis in die letzten Positionen vibrierendes Engagement herrscht, fügen sich die Herren und die nach wie vor nicht besonders zahlreichen Damen der Berliner Philharmoniker zu einem Klangkörper im besten Sinn des Wortes. Das war schon so bei Herbert von Karajan als Chefdirigenten, das blieb bei seinen Nachfolgern Claudio Abbado und Simon Rattle in je eigener Weise gültig – jetzt, mit Kirill Petrenko erreicht es ungeahnte Dimensionen. Der noch immer jungenhaft wirkende, aber doch schon 52 Jahre alte Österreicher mit russischen Wurzeln lässt das Orchester neue Seiten zeigen. Brillant beherrschen die Berliner Philharmoniker das Ultraleise wie das prachtvoll Laute. Ersteres haben sie Abbado gelernt und bei Rattle weiterentwickelt, Letzteres finden sie jetzt mit Petrenko, ihrem Chefdirigenten seit fünf Jahren. Welch herrliches Fortissimo gelingt diesem Orchester: kraftvoll ohne Gefahr der schmerzerzeugenden Grenzüberschreitung, kompakt und zugleich durchhörbar bis in die Einzelheiten.

So kam Anton Bruckners Sinfonie Nr. 5 in B-Dur ganz anders daher als gewohnt. Für weihevolles Pathos war hier kein Platz, es ging um die grosse Kunst des Komponierens: um die Erfindung von Motiven und Themen und um deren Verarbeitung in übergreifenden Formen, im Finale schliesslich explizit um den Kontrapunkt – und das alles in hellstem Licht und in prononcierter Klarheit. Ein, um es plakativ auszudrücken, Deutungsansatz im Geist der Moderne offenbarte sich hier; er verwirklichte sich in straffen, wenn auch feinfühlig nuancierten Tempi und einer Farbenpracht sondergleichen. Flüssig durchgezogen, doch fern jeder Hast der Kopfsatz, das Adagio mit seinem den Beginn der Sinfonie aufnehmenden Eingang nur scheinbar langsamer, jedoch stets in grosser Ruhe durchgeatmet. Wild das Scherzo mit seinem im Tempo wunderbar getroffenen Scherzo – und dann das Finale mit seinen komplexen Verästelungen, seinen immer wieder aufs Neue ansetzenden Verläufen, seinem majestätischen Choral: spannend bis zum brausenden Schluss.

Ähnliches Erleben löste der zweite Abend aus; er galt dem «Vaterland», der sechsteiligen Sinfonischen Dichtung «Ma vlast» von Bedřich Smetana. Natürlich konnte, ja musste man sich hier seine Geschichten machen, seine bildlichen Vorstellungen entwickeln. Gleichwohl legten die Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko unablässig nahe, dass es sich auch bei diesem aus tiefstem Herzen heraus geschriebenen Zyklus um Kunst handelt, um grossartige musikalische Kunst. Alles war hier an seinem Ort, jeder Übergang sorgfältigst ausgestaltet, jede Farbwirkung stimmig gesetzt. Obwohl «Vltava», «Die Moldau», auch hier den zugkräftigsten Teil darstellte, entstand doch ein äusserst plastischer Bilderbogen zwischen der ragenden Burg Vyšehrad über «Böhmens Hain und Flur», «Z českých luhů a hájů», bis zu den weniger bekannten Endteilen «Tábor» und «Blanik».

Allein, wie bei allem hienieden ist auch hier ein Preis gefordert. Die orchestrale Brillanz drohte immer wieder, sich zu verselbständigen, zur Hauptsache zu werden, wo sie doch dienend die Anliegen der Komponisten nach aussen tragen müsste. Vor allem aber bestand die Gefahr, dass die festgefügte, von Kirill Petrenko mit starker Hand kontrollierte Klanglichkeit der Berliner Philharmoniker der Musik bisweilen die Luft zu nehmen schien. So entbehrte «Ma vlast» ein wenig der Emotionalität wie der Ausgelassenheit des Volkstümlichen. Während die Sinfonie Bruckners jenes Durchscheinenlassen, das Interpretationen neueren Datums, namentlich jene von Nikolaus Harnoncourt und Christian Thielemann mit den Wiener Philharmonikern entdecken lassen. Schliesst das eine das andere aus?