Ehrenrettung für Sibelius

 

Peter Hagmann

Ein Kantiger, klangvoll beim Wort genommen

Simon Rattle und die Berliner präsentieren die Sinfonien von Jean Sibelius

 

Der Bannfluch, mit dem Theodor W. Adorno in einem Text von 1938 Jean Sibelius belegt hat, haftet dem finnischen Spätromantiker bis heute an. 1968 in einer Sammelausgabe musikalischer Schriften Adornos noch einmal aufgelegt, kam er zu voller Wirkung. Er bereitete den Weg für die Verachtung, mit der Zeitgenossen, die sich für aufgeklärt hielten, dieser Musik begegneten – und eben bis in unsere Tage begegnen. Dabei ist das Argumentarium Adornos einigermassen schwachbrüstig, und noch weitaus bedenklicher ist seine Art der Formulierung. Sibelius’ Themen, schreibt Adorno zum Beispiel, beständen aus unplastischen und trivialen Tonfolgen; sie glichen «einem Säugling, der vom Tisch herunterfällt und sich das Rückgrat verletzt. Sie können nicht richtig gehen. Sie bleiben stecken. An einem unvorgesehenen Punkt bricht die rhythmische Bewegung ab: der Fortgang wird unverständlich. Dann kehren die simplen Tonfolgen wieder; verschoben und verbogen, ohne doch von der Stelle zu kommen.»

Eigentlich erstaunlich, dass Sätze dieser Art zu derart schwerwiegender Wirkung geführt haben. Tatsache ist jedenfalls, dass das Schaffen von Sibelius, ganz besonders der Korpus seiner sieben Sinfonien, doch deutlich am Rand des Repertoires steht – wenigstens hierzulande und in gewiss unterschiedlichem Mass. Als Brite teilt der Dirigent Simon Rattle die kontinentaleuropäischen Berührungsängste allerdings nicht. Unverkrampft gibt er sich politisch inkorrekter, nämlich in je eigener Weise dem Vokabular des ausgehenden 19. Jahrhunderts verpflichteter Musik hin: den «Enigma-Variationen» und dem «Dream of Gerontius» von Edward Elgar oder der Sinfonischen Dichtung «The Planets» von Gustav Holst. Er tut es ebenso selbstverständlich, wie er die «Gruppen» von Karlheinz Stockhausen, «Eclairs sur l’Au-delà» von Olivier Messiaen oder die zehnte Sinfonie von Hans Werner Henze dirigiert.

So legt jetzt Simon Rattle zusammen mit den von ihm geleiteten Berliner Philharmonikern zum 150. Geburtstag von Sibelius Ende 2015 dessen sieben Symphonien im luxuriösen Format der «Berliner Philharmoniker Recordings» vor. Die Aufnahmen basieren auf Konzertmitschnitten, die im Laufe des Jahres 2015 in der Berliner Philharmonie entstanden sind. Sie werden auf vier Compact Discs präsentiert, ausserdem auf einer Blu-Ray Disc in der besonders hohen Audio-Qualität sowie, ebenfalls auf einer Blu-Ray Disc, als Videoaufzeichnungen. Dazu gibt es ein opulentes Booklet, in dem sich etwa der finnische, in Deutschland wirkende Sibelius-Spezialist Tomi Mäkelä seine Gedanken macht – auch über Adorno.

Nicht minder prachtvoll, und das ist das Entscheidende, wird hier musiziert. Hochemotional, spannungsgeladen und zugleich strukturklar geht Simon Rattle zu Werk; klangsatt, aber ohne jeden Abrutscher ins Kitschige schafft er hörbare Wirklichkeit; und nicht ohne Eleganz setzt er die Musik dieses Kantigen ins Recht – die Schärfung des interpretatorischen Profils im Vergleich zur Gesamtaufnahme der Sinfonien von Sibelius, die Rattle in den frühen 1980er Jahren mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra erstellt hat, ist nicht zu überhören. Und die Berliner Philharmoniker tragen den gestalterischen Impetus ihres Chefdirigenten ohne Einschränkung mit. Unglaublich, mit welcher Hingabe sie sich den Kompositionen stellen, mit welcher Farbenpracht sie diese so eigene Musik leuchten lassen. Wie sehr die Musik von Sibelius der Landschaft verpflichtet ist, in der sie entstanden ist – in diesen Aufnahmen ist es mit Händen zu greifen. Dass hier irgendetwas von irgendwo heruntergefallen und zerbrochen sei, allerdings weniger.