Das Fordernde als Attraktion

Salzburger Festspiele:
Opern von Weinberg, Prokofjew und Offenbach

 

Von Peter Hagmann

 

Bogdan Volkov als Fürst Myschkin – als «Der Idiot» kurz vor seinem epileptischen Anfall / Bild Bend Uhlig, Salzburger Festspiele

Als einen Ort für die Reichen und die Schönen, ach ja, so sieht Volkes Mund hie und da die Salzburger Festspiele. Ganz falsch ist es nicht, wenn für einen Platz der besten Kategorie in, sagen wir «Don Giovanni», 465 Euro fällig sind (Taylor Swift kann hier ausgeklammert werden) und wenn sich auf das Ende der Vorstellungen hin die Limousinen der höchsten Preisklasse zusammen mit ihren Chauffeuren in Reih und Glied gestellt haben. Allein, das ist bloss die eine Seite; die andere Seite weiss, dass es auch, und gar nicht wenige, preisgünstigere Angebote gibt und dass sich mit einer Eintrittskarte ein grosses Zeitfenster lang vor und nach dem Anlass der Öffentliche Verkehr im Salzburger Verbund kostenlos benutzt werden kann.

Vor allem aber ist nicht zu vergessen, dass es bei den Salzburger Festspielen der Kunst gilt, der grossen Kunst. Unglaublich umfangreich, vielgestaltig in der Werkauswahl und höchststehend in den Interpretationen präsentiert sich das Konzertprogramm; es reicht von der Ouverture spirituelle des Beginns über die fünf bis zu dreifach geführten Sinfoniekonzerte der Wiener Philharmoniker und die thematischen Schwerpunkte (dieses Jahr wurde die «Zeit mit Schönberg» verbracht) bis hin zu den Kammerkonzerten, den Liederabenden und den solistischen Auftritten – und immer wieder ergeben sich Glücksmomente der besonderen Art (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 17.08.24).

Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht jedoch die Oper. Sie trat diesen Sommer mit drei Neuinszenierungen, einer Wiederaufnahme sowie nicht weniger als fünf konzertanten Aufführungen in Erscheinung. Das späte «Capriccio» des Festival-Mitbegründers Richard Strauss eröffnete den Reigen der Opern auf dem Konzertpodium, worauf «Hamlet» von Ambroise Thomas erschien, hier mit Stéphane Degout, dem Grandseigneur des französischen Gesangs. Schliesslich gab es reichlich Zeitgenössisches: «Koma» von Georg Friedrich Haas, einen Doppelabend mit Luigi Dallapiccola und Luigi Nono, das «Begehren» von Beat Furrer, das Anfang September auch zum Lucerne Festival kommt.

«Der Idiot»

Auch im Kernbereich des Angebots herrscht alles andere als kulinarisches Wohlgefühl. Neben der überarbeiteten Wiederaufnahme des ebenso anregenden wie unbequemen «Don Giovanni» von 2021 (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 11.08.21) und «La clemenza di Tito», einer weiteren Mozart-Produktion als Übernahme von den Pfingstfestspielen, gab es überaus anspruchsvolle Kost. Den Höhepunkt bildete fraglos «Der Idiot» von Mieczysław Weinberg. Der polnische Komponist jüdischen Glaubens (1919-1996), der 1939 nach dem deutschen Überfall auf Polen nach Minsk und Taschkent flüchten musste und sich 1942 in Moskau niederliess, teilte anfangs das Schicksal seines engen Freundes Dmitri Schostakowitsch, schuf in den wechselvollen Jahren der Sowjetunion und später Russlands jedoch ein weit ausholendes Œuvre. Heute ist es so gut wie vergessen. Seine Oper «Der Idiot» nach dem Roman Fjodor Dostojewskis und auf ein Libretto Alexander Medwedews stellte er 1987 fertig. Uraufgeführt wurde sie 1991 in Moskau, dies jedoch in einer kammermusikalischen Fassung. In der vollen Orchesterbesetzung kam «Der Idiot» erst 2013 im Nationaltheater Mannheim zur Uraufführung; Initiant und Dirigent war damals Thomas Sanderling. Eine zweite Produktion gab es zehn Jahre später beim Theater an der Wien. Salzburg folgte nun mit der dritten und, so darf man wohl sagen, folgenreichsten Inszenierung.

Ein unerhört eindrucksvolles Werk, es steht auf Augenhöhe mit den grossen Opern des 20. Jahrhunderts – dass es bei den Salzburger Festspielen in einer so vorbildlichen Produktion gezeigt worden ist, kann nicht hoch genug geschätzt werden. Allerdings, leicht macht es das vierstündige Stück weder dem Zuhörer noch der Zuschauerin. Dostojewskis Roman bildet hochkomplexe Verästelungen aus und spart nicht mit Personal, Medwedew hat geschickt eingedampft, kann die ziselierte Struktur aber nicht wirklich in dramatische Spannung überführen. Als operngewohnter Rezipient muss man sich auf langsam voranschreitende Prozesse einstellen; die Ankunft des als «Idioten», nämlich des hier als «Gutmenschen» gezeichneten Fürsten Myschkin in der degenerierten St. Petersburger Gesellschaft des mittleren 19. Jahrhunderts und die Wirkung auf sie kommt nur schleichend voran; sie gewinnt gerade daraus ihre Attraktivität. Genau gleich wie die musikalische Handschrift Weinbergs, die genaues Zuhören und ein offenes Herz einfordert, vor allem aber Geduld, denn nur so kann man sich in diesen Kosmos einleben. Ganz eigen klingt diese Musik, sie ist weder tonal noch atonal, lebt vielmehr in einem Zwischenreich. Sehr geholfen beim Eindringen in die Partitur haben die Wiener Philharmoniker, die sich mit ihrer vollen Kompetenz auf ihre Aufgaben eingelassen haben, aber auch die lettische Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, die zusammen mit dem russischen Geiger Gidon Kremer die Entdeckung Weinbergs vorantreibt und sich die Handschrift des Komponisten in hohem Mass zu eigen gemacht hat.

Blendend die Inszenierung von Krzysztof Warlikowski. Die Bühnen- und Kostümbildnerin Malgorzata Szczęśniak spreizt das Geschehen über die ganze Breite der Bühne in der Salzburger Felsenreitschule auf; geradezu sensationell der Beginn des Werks, die Bahnreise des Fürsten Myschkin nach St. Petersburg, für die ein 1.-Klass-Coupé ganz langsam von rechts nach links bewegt wird, es dazu den Blick aus dem Fenster als Videoprojektion gibt und schliesslich die Einfahrt des Zuges in den Bahnhof vom Videokünstler Kamil Polak überblendet wird. Mit äusserster Sorgfalt sind die einzelnen Figuren ausgestaltet, und da bewährt sich ein osteuropäisch-russisch besetztes Ensemble – in Salzburg wird ja auf den verschiedensten Ebenen sehr genau zwischen Russland und Putin unterschieden. Grossartig im vokalen Laut wie im körperlichen Ausdruck Bogdan Volkov als Fürst Myschkin, Vladislav Sulimsky gibt den düsteren Gegenspieler Rogoschin mit schwarzen Stimmfarben, stupend verkörpert Ausrine Stundyte die undurchdringliche Emanze Nastassja, während Xenia Puskarz Thomas als die gutbürgerliche Aglaja mit einem hellen Sopran auf sich aufmerksam macht. Zahlreiche liebevoll und klug ausgedachte Details beleben die Szene. Und getragen wird sie von einem starken Ensemble. Mehr noch: von einer Identität stiftenden künstlerischen Familie, wie sie Markus Hinterhäuser als temporäres Mitglied der Truppe um Christoph Marthaler kennengelernt haben mag.

«Der Spieler»

Zur Familie gehört auch Peter Sellars. Der unkonventionell, auch witzig denkende Amerikaner meisterte in diesem Sommer, ebenfalls in der Felsenreitschule, als Regisseur die selten aufgeführte Oper «Der Spieler» von Sergej Prokofjew, ein scharf kritisierendes Werk. Er tat das in seiner Weise. Die Handlung, sie basiert wie «Der Idiot» auf einem Roman von Dostojewski und spielt in einer ähnlichen gesellschaftlichen Konstellation wie Weinbergs Oper, versetzte er in die Gegenwart – etwas zaghaft, doch durchaus erkennbar: Statt zu Briefen und zu Schuldscheinen wird zum Smartphone gegriffen, und wenn ein aus Deutschland angereister Gast im Spielcasino seine Werte zu verteidigen sucht, wird sein Anzug mit oranger Farbe bestrichen. Das kann man umso mehr hinnehmen, als Österreich derzeit von einem Finanzjongleur der ärgsten Sorte heimgesucht wird. Dass am Ende die etwas moralinsaure Erkenntnis im Raum steht, dass Geld allein weder heilt noch glücklich macht, so ist das freilich schon wieder ein Allgemeinplatz. Nur ist das nicht Sellars’ Schuld, sondern jene des Werks – einer Oper, die mitten im Ersten Weltkrieg auf der Basis eines von Prokofjew selbst eingerichteten Librettos entstand und 1929 musikalisch überarbeitet wurde, in der Sowjetunion jedoch erst 1970 vollgültig aufgeführt werden konnte.

Der temporeiche, darum kurzweilige Abend spielt auf einer ebenfalls ganz in die Breite gezogenen Bühne. George Tsypin hat sie mit riesigen, an Ufos erinnernden, nach der Art eines Balletts auf- und absteigenden Roulettetischen bestückt, und die Kostüme von Camille Assaf sorgen für Farbeffekte, die mit der frechen Musik Prokofjews durchaus etwas gemein haben. Die Partitur befindet sich bei dem noch jungen Russen Timur Zangiev und den Wiener Philharmonikern in besten Händen. Das Orchester agiert auf seinem bewundernswert hohen Niveau, und der Dirigent lässt den Farbeffekten den ihnen gebührenden Raum, behält die musikalischen Verläufe aber stets in ruhiger Hand. Gewinnend auch hier das riesige Ensemble, allen voran Sean Panikkar als der wirtschaftlich auf unsicheren Beinen stehende Hauslehrer, der am Spieltisch mehr als das benötigte Kleingeld erwirtschaftet und dafür seine Geliebte verliert – und diese Geliebte, Polina, ist Asmik Grigorian, die als eigenwillige Frau starke Akzente setzt, sich aber zugleich ganz selbstverständlich in ihr Umfeld integriert. Für ein Glanzlicht besonderer Art sorgt Violeta Urmana, der reichen, von allen Seiten in den Tod gewünschten Grossmutter, die sich aus ihrem Rollstuhl erhebt und im Casino all ihr Hab und Gut verliert.

«Hoffmanns Erzählungen»

Eine andere Art von Sucht herrscht in der dritten Neuinszenierung der Salzburger Festspiele dieses Sommers. Es ist der Alkoholrausch, der Ernst Theodor Wilhelm (später: Amadeus) Hoffmann seinen Brotberuf als Beamter aushalten und in nächtlichen Sitzungen in Gasthäusern das Dichten ermöglichte. Jacques Offenbach war von E. T. A. Hoffmann derart angezogen, dass er sich für «Les Contes d’Hoffmann», seine einzige ernste Oper, von Jules Barbier ein Libretto zusammenstellen liess, in dem der Dichter dreien der von ihm erfundenen Frauenfiguren begegnet – für den Tenor Benjamin Bernheim ergab sich hier eine Sternstunde. Nicht nur war er der agile Hauptdarsteller der im Salzburger Grossen Festspielhaus gezeigten Inszenierung, er sang sich auch buchstäblich von Höhepunkt zu Höhepunkt – wenn ihm denn der Dirigent Mark Minkowski am Pult der Wiener Philharmoniker den Raum dafür liess. Ihm zur Seite standen in dieser vokal exzellenten Produktion Kathryn Lewek, welche die vier Frauenfiguren bewältigte, und Christian Van Horn in den Partien der vier männlichen Gegenspieler, vor allem aber Kate Lindsey, die mit blühender Sonorität und packender Bühnenpräsenz als Hoffmanns guter Geist Nicklausse begeisterte. Szenisch hatte der Abend allerdings ein grosses Problem. Für die Regisseurin Mariame Clément war Hoffmann ein innerlich zerrissener Filmer, der die Fäden einer grossen Produktion in den Händen zu behalte, was die Ausstatterin Julia Hagen dazu bewog, die Bühne mit einer Vielzahl stummer, unablässig gestikulierender Techniker und Assistentinnen zu füllen, ja zu verstopfen. Durchaus plausibel erfundene Nebenhandlungen schoben sich in den Vordergrund, dies zu Lasten der Hauptsache, nicht zuletzt der herrlichen Musik Offenbachs. Auf hohem Niveau gescheitert. Doch ohne Scheitern keine Kunst.

Männermacht und Frauenleid

Salzburger Festspiele (I): Opern von Mozart, Cherubini und Enescu

 

Von Peter Hagmann

 

Die künstlerisch hochstehende Interpretation, sie versteht sich in Salzburg von selbst. Für die Begegnung mit selten gespielten, zu Unrecht verkannten Werken gilt das schon weniger. Beides zusammen aber, und dies in enger dramaturgischer Verzahnung und mit zwingendem Blick auf die Welt unserer Tage – das sind die Salzburger Festspiele im dritten Jahr der Intendanz von Markus Hinterhäuser. «Der Mythos» wölbt sich als Leitgedanke über das im Zentrum der Festspiele stehende Opernprogramm. Elektra und Medea, Ödipus und Orpheus treten auf, das durch Neptun verkörperte Meer bringt Flut und Zerstörung oder löscht lodernde Flammen. Das klingt nach solider Bildungsbürgerlichkeit, ist aber das reine Gegenteil davon. Natürlich bilden die mythologischen Erzählungen, wie Hinterhäuser sagt, «das Archiv unserer Welterkenntnis». Ebensosehr verhandeln sie aber Grundfragen menschlicher Existenz: unser Verhältnis zu den Mächten der Natur, unser Umgang miteinander. Da wird, was auf den ersten Blick als klassisches Erbe erscheinen mag, mit einem Mal zur reinen Gegenwart.

«Idomeneo»

Paula Murrihy als Idamante / Bild Ruth Walz, Salzburger Festspiele

Schon gleich in Wolfgang Amadeus Mozarts «Idomeneo», der Eröffnungsproduktion dieses Jahres, trat das zutage. Denn am Regiepult stand, wie vor zwei Jahren bei Mozarts «Clemenza di Tito», Peter Sellars. Der amerikanische Bühnenkünstler sieht «Idomeneo» als ein Stück über den Klimawandel und den an ihm ausbrechenden Generationenkonflikt wie über die Flüchtlingskrise. Die von George Tsypin für die Salzburger Felsenreitschule konzipierte Bühne ist verstellt von grösseren und kleineren Gegenständen aus Plastik; sie erinnern an das drängende Abfallproblem, aber auch an die Tierwelt der Ozeane, der vom Menschen so nachhaltig Schaden zugefügt wird. Und drastisch wird die trojanische Prinzessin Ilia, die von der Chinesin Ying Fang feinfühlig gesungen wird, durch den Kostümbildner Robby Duiveman als eine Flüchtlingsfrau gezeigt, die in einer hochnotpeinlichen Verhörsituation ihr Leid klagt. Idamante freilich, der junge griechische Königssohn, der die Trojanerin liebt, schenkt den Kriegsgefangenen die Freiheit und läutet damit einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch ein – die Irin Paula Murrihy zeigt in dieser für einen Kastraten geschriebenen Partie eindrückliches vokales Potential.

Fürs erste scheitert Idamante jedoch, denn Idomeneo – Russell Thomas leidet auch in dieser Partie unter einer engen Höhe – mag nichts von der Verständigung wissen. Fest hält er die Zügel in der Hand, wovon nicht zuletzt seine elegante Galauniform zeugt. Er hadert mit Neptun (Jonathan Nemalu), dem er zum Preis für die Errettung aus der tobenden Flut den ersten Menschen, dem er am Ufer begegnen werde, als Opfer versprochen hat – und dieses versprochene Opfer ist sein Sohn Idamante. Keinen Sinn hat er auch für die Liebe Idamantes zu Ilia, er hält vielmehr fest an der Verlobung seines Sohnes mit der griechischen Adligen Elettra, die sich aber getäuscht sehen wird – und da sind wir beim Glanzpunkt des Abends. Denn was Nicole Chevalier, die Violetta in der singulären Luzerner Produktion von Giuseppe Verdis «Traviata», an Bühnenpräsenz, dramatischer Ausstrahlung und stimmlicher Agilität einbringt, ist von hinreissender Wirkung. Dass Elettra an ihrer Wut nicht zugrunde geht, sondern sich folgsam ins Ensemble zurückzieht, stellt nur eine der Merkwürdigkeiten der Inszenierung dar. Mehr als das der Aufklärung verbundene Weltbild Mozarts scheint sie mir die gutmenschliche Grundhaltung des Regisseurs zur Geltung zu bringen.

Was dem Abend jedoch einzigartiges Profil verleiht, ist seine instrumentale Seite. Wie schon vor zwei Jahren ist als Dirigent Teodor Currentzis verpflichtet. Er steht allerdings nicht vor der MusicAeterna, der von ihm 2004 in Nowosibirsk gegründeten Formation, sondern vor dem Freiburger Barockorchester, dem ein sensationeller Auftritt gelingt. Herrlich der Klang der ohne Vibrato gespielten, in tiefer Stimmung gehaltenen Darmsaiten, zumal bei den vielen Liegetönen im Hintergrund, wunderbar die Tempi, gerade in der subtil überpunktiert genommenen Ouvertüre und in den Märschen, berührend die sensibel ausgeformten Übergänge. Die Akzente fallen so, wie sie bei Currentzis fallen: scharf und pointiert; aber in keinem Augenblick verliert sich etwas von der eigenartigen Wärme, die das Orchester erzielt. Auffallend auch der virtuose Generalbass mit dem Lautenisten Andrew Maginley und, vor allem, mit Marija Shabashova am Hammerklavier, die sich in der von Currentzis eingeschobenen Konzertarie «Ch’io mi scordi di te?» (KV 505) besonders profiliert. Sehr eigenartig dagegen der Gestentanz des aus Samao stammenden Choreographen Lemi Ponifasio, der zur abschliessenden Ballettmusik gezeigt wird.

«Médée»

Elena Stikhina (Médée) mit ihren beiden Kindern, links Pavel Černoch (Jason) / Bild Thomas Aurin, Salzburger Festspiele

«Idomeneo» nimmt, was die Beliebtheit beim Publikum betrifft, einen hinteren Rang ein. Erst recht gilt das für «Médée», die düstere Oper von Luigi Cherubini – die im Salzburger Grossen Festspielhaus nun allerdings zu einer unerhört spannenden Auslegung gekommen ist. Das Werk des in Frankreich naturalisierten Italieners – es erklingt in der französischsprachigen Originalfassung von 1797, allerdings ohne die dort vorgesehenen Sprechtexte – wird gemieden, weil seine musikalische Faktur als sperrig gilt und weil die Titelrolle besetzt ist durch den Geist von Maria Callas, die in dieser Partie ihren Höhepunkt an Identifikation und Ausstrahlung gefunden hat. Auch die Salzburger Festspiele hatten diesbezüglich ein Problem. Denn Sonya Yoncheva, die vielversprechende Wahl für die Rolle der Médée, hatte ihr Engagement zurücklegen müssen, weil sie in wenigen Wochen ein Kind zur Welt bringen wird. An ihre Stelle trat die junge Russin Elena Stikhina, die ihre Aufgabe auf hohem Niveau gemeistert hat. Ihr vokales Expansionsvermögen und ihr expressives Temperament versahen die komplexe Persönlichkeit, als die Medea in der Oper Cherubinis erscheint, mit fasslichen Zügen. Und zugleich passte ihre stimmliche Wärme genau zu dem Deutungsansatz, den der Regisseur Simon Stone im Sinn hatte.

Als die Ouvertüre anhob, setzten auch die vom Regisseur erstellten Filmsequenzen in Schwarz-Weiss ein – was sich einmal mehr als problematisch erwies. Auf die Musik Cherubinis muss man sich einlassen können, zumal in der Auslegung durch die Wiener Philharmoniker und den Dirigenten Thomas Hengelbrock, die den klassizistischen Duktus in keiner Weise beschönigten, ja ihn durch die sorgfältige Ausleuchtung der strukturellen und klangfarblichen Details noch unterstrichen. Die bewegten Filmsequenzen, welche die Gesichter sehr stark heranholten, forderten da jenes Zuviel an Aufmerksamkeit ein, das im bildlastigen Regietheater üblich ist. Allein, je weiter der Abend voranschritt, desto logischer erschienen die filmischen Einschübe. Jedenfalls wirkte, was sich Simon Stone zusammen mit dem Bühnenbildner Bob Cousins und der Kostümbildnerin Mel Page für diese anspruchsvolle Produktion erdacht haben, so eindringlich, dass die Parameter der Aufführung rasch zu neuer Ordnung fanden.

Stones Auslegung holt das das Geschehen aus der Vorzeit des Mythos heraus und versetzt es radikal in die Gegenwart – so wie es der Regisseur in jener erweiterten Neufassung der «Medea» des Euripides getan hat, die vor einem halben Jahr im Wiener Burgtheater zu sehen war: ein unglaublich bedrückender, weil in schneidender Schärfe gehaltener Abend, der von der überragenden Hauptdarstellerin Caroline Peters geprägt war. In diesem szenischen Projekt richtet Stone das Beziehungsgeflecht so ein, dass Medea jeder Zug ins Pathologische abgeht. Sie erscheint vielmehr als eine ganz normale junge Frau und Mutter, die ihrem Gatten Jason in vertrauensvoller Liebe zugetan ist. Die aber auch als brillante Forscherin Aufmerksamkeit erregt – mehr Aufmerksamkeit als der auf demselben Gebiet tätige Jason. Die Gattin um einige Zentimeter höher als der Gatte, damit hat Jason ein Problem. Er wendet sich der Tochter des Firmenchefs zu und wechselt damit in eine Liaison, die nicht nur eine neue Partnerschaft ohne Kinder, sondern auch steile Aufstiegschancen in Aussicht stellt. Womit die Dinge ihren schrecklichen Lauf nehmen – bis hin zu jenem Schlusspunkt, da Medea das gemeinsame Einfamilienhaus mitsamt der zwei Kinder in Flammen setzt.

Genau so zeigt Simon Stone die Médée Cherubinis: als eine Liebende, die nichtsahnend aus hohem Lebensstandard ins Nichts abstürzt. Am Ende bleiben der Ausländerin, die ihren Aufenthaltsstatus verloren hat und gehen musste, nichts als die verzweifelten Sprachnachrichten auf die Combox des Ex-Gatten, die Amira Casar aus dem Off vorträgt. Jason wiederum, Pavel Černoch lässt das überzeugender sehen, als er es singt, wird als das Ekel vom Dienst vorgestellt. Er ist nicht nur scharf auf Dircé (Rosa Feola), so heisst die Tochter des Königs von Korinth bei Cherubini, zwischendurch vergnügt er sich auch mit Damen anderer Art. Während Créon in seinen perfekt sitzenden Anzügen ganz der unerbittliche Machthaber ist – dank seinem sonoren Bass und seiner furchterregenden Körpersprache gelingt Vitalij Kowaljow hier ein grandioses Rollenporträt. In scharfem Realismus und zum Teil schauerlichen Bildern wird die Geschichte von Medea und Jason als eine durchaus heutige erzählt. Die Audienz, in der Medea dem finsteren Kreon das Aufenthaltsrecht für einen Tag abringt, wird als eine vom Fernsehen live übertragene Szene am Flughafen gezeigt, die Wiederbegegnung der Mutter mit ihren Kindern an einer tristen Bushaltestelle, das Ende mit dem Mietwagen an einer Zapfsäule, der Medea vor den Augen Jasons und einer entsetzten Menge das zur Selbstverbrennung benötigte Benzin entnimmt. Das sind Bilder, die sich einbrennen, der Mythos tritt einem bedrohlich nahe. Der Musik Cherubinis freilich bleibt am Ende vielleicht doch zu wenig Raum.

«Œdipe»

John Tomlinson (Tirésias) und Christopher Maltman (Œdipe) / Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele

Das ist bei «Œdipe», der über lange Jahrzehnte hinweg entstandenen Oper des rumänischen Violinvirtuosen und Komponisten George Enescu, entschieden nicht der Fall. Dafür sorgt zusammen mit den Wiener Philharmonikern, mit der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor und einem erstklassig besetzten Ensemble der Dirigent Ingo Metzmacher, der sich mit der ihm eigenen Energie in die Partitur hineingekniet hat und sie nicht nur in voller Länge, sondern auch in aller Farbenpracht erstehen lässt. Nein, «auferstehen» muss man sagen, denn «Œdipe», 1936 in der Pariser Oper aus der Taufe gehoben, wird ausserordentlich selten gespielt. Und wird noch viel seltener in einer so überwältigenden szenischen Fassung gezeigt, wie sie der immerhin 85 Jahre alte Theaterzauberer Achim Freyer auf die Bühne der Salzburger Felsenreitschule gebracht hat.

Auch in Enescus Oper tritt Kreon in Erscheinung; es ist zwar nicht Kreon von Korinth, sondern Kreon von Theben (Brian Mulligan), aber auch der ist ein undurchsichtiger Intrigant. Im Zentrum steht freilich Ödipus, dessen Leben von der Geburt bis zum Tod erzählt wird – vom Aufwachsen als Findelkind, vom Mord am nicht erkannten Vater und der Ehe mit der ebensowenig erkannten Mutter, vom Sieg über die Sphinx und von der Zeit als König in Theben bis hin zum Niedergang als Folge der Aufdeckung all der in Unwissenheit begangenen Untaten – ja bis hin zu der, so wollten es Enescu und sein Librettist Edmond Fleg, Verklärung im Tod. Auch hier findet der Mythos lebendige Präsenz, nur geschieht es auf ganz andere Art. Achim Freyer, der wie stets Inszenierung und Ausstattung aus einem Guss gestaltet hat, versetzt die Vita des Ödipus in seine Phantasiewelt, die von übergrossen Gestalten in ausladenden Kostümen bevölkert ist und durch Requisiten in starken Farben bereichert wird. Im weit ausgreifenden Eröffnungsakt, der allein den Freudengesängen rund um die Geburt des Ödipus gilt, liegt Baby Œdipe mit Riesenschädel noch auf dem Rücken und versucht strampelnd, auf die Beine zu kommen – Katha Platz macht das grossartig. Bald schon tritt aber, verkörpert durch den noch immer mit Donnerstimme versehenen Altmeister John Tomlinson, der blinde Seher Tirésias auf und verkündet das drohende Unheil, dem die Sehenden blind entgegeneilen. Inszenierung nicht als Interpretation, wie sie Simon Stone unternimmt, sondern als assoziatives Ins-Bild-Setzen, dies freilich auf allerhöchstem Niveau.

Schon ist Œdipe erwachsen, und schon schlägt die Stunde von Christopher Maltman, dem dieser Auftritt zur Sternstunde gerät. Unglaublich kernig sein Bariton, dabei sorgsam abgestuft in Timbre und Dynamik, dank gepflegter Diktion auch so gut wie jederzeit verständlich. Freyer lässt ihn als Ur-Mann erscheinen, als muskelprotzender Boxer, dem man an keiner Kreuzung in den Weg geraten möchte. Mit den blossen Fäusten erledigt er seinen Vater Laïos (Michael Colvin) und dessen Begleiter; nach jedem Schlag auf eines der Boxkissen, die aus dem Bühnenhimmel heruntergeschwebt sind, erhält er einen dicken Boxerhandschuh – so rot wie der grosse rote Schuh, der als szenisches Erinnerungsmotiv aus mancher Inszenierung Achim Freyers bekannt ist. Hier mag es der Schuh seiner Gattin und Mutter Jocaste (Anaïk Morel) sein, der ihm als Retter und König seiner Vaterstadt zukommt. Als solcher ist Œdipe die Macht selbst – Freyer denkt und arbeitet zwar als bildender Künstler, ist aber genau so viel Theatermann, der in Zusammenarbeit mit seinen Darstellern starke Bühnenfiguren schafft. Eine solche Figur ist die Sphinx (Eve-Maud Hubeaux), ein Monsterkasten von Frau, dem nach der Überwältigung durch Œdipe dann aber eine kleine Person mit Riesenbrüsten entsteigt.

Sehr schön gegliedert die Massenszenen, brillant eingesetzt die Arkaden der Felsenreitschule – und das alles nicht nur in nächtlichem Schwarz, sondern auch in ganz natürlich wirkender Zeitlupe. So, wie die weiten Bögen, in denen Ingo Metzmacher atmet, sich gleichsam von selbst entfalten. Ganz ruhig gleitet der Dirigent durch die riesige Partitur, und die Wiener Philharmoniker antworten ihm mit einem klanglichen Reichtum sondergleichen. Übrigens auch mit einem Fortissimo in denkbar schönster Kraftentfaltung – was sie, wie an diesem Ort schon mehrfach zu erleben war, nicht allen Dirigenten schenken. Ein Meilenstein, dieser Abend; wenn Festspiele einen Sinn finden, dann in einer Produktion wie dieser. In ihrer enormen Ausstrahlung, auch ihrer glücklichen Verbindung zwischen dem Musikalischen und dem Szenischen erinnert sie an «Saint-François d’Assise» von Olivier Messiaen im Sommer 1992, dem ersten Jahr unter der Leitung von Gerard Mortier und Hans Landesmann. Damals standen zwei junge Leute mit etwas speziellen Ideen vor der Tür zur Direktionsetage. Einer von ihnen wirkt heute als Intendant der Salzburger Festspiele.

Geist der Erneuerung, Lust an der Debatte

Salzburger Festspiele I – Mozarts «Clemenza di Tito» zur Eröffnung des Opernprogramms

Von Peter Hagmann

 

Mozarts «Clemenza di Tito» in Salzburg mit Florian Schuele (Bassettklarinette) und Marianne Crebassa (Sesto) / Bild Ruth Walz, Salzburger Festspiele

 

Dass die Salzburger Festspiele 2017, die erste Ausgabe unter der Gesamtleitung von Markus Hinterhäuser, ihr Opernprogramm mit «La clemenza di Tito» eröffneten, hat seine eigene Logik. Die Oper Wolfgang Amadeus Mozarts stand 1992, als Gerard Mortier als Intendant und Hans Landesmann als Geschäftsführer und Konzertdirektor die Salzburger Festspiele neu auszurichten begannen, an dritter Stelle im Opernprogramm – nach «Aus einem Totenhaus» von Leoš Janáček und der unvergesslichen Produktion von Olivier Messiaens Riesen-Oper «Saint-François d’Assise». Mit der Wahl von «La clemenza di Tito» verbeugt sich Hinterhäuser vor seinen Vorgängern, in deren Ära er selbst in die Welt der Salzburger Festspiele hineingewachsen ist – damals mit dem «Zeitfluss», dem Festival im Festival, das Mortier und Landesmann um so lieber in ihr Programm aufnahmen, als sie in seinem Anliegen viel von ihren ästhetischen und gesellschaftlichen Auffassungen wiederfanden. Zugleich zeigt sich in der Entscheidung für diese etwas abseits vom Kanon stehende Oper Mozarts, welcher Geist an den Salzburger Festspielen in den kommenden Jahren wieder herrschen soll. Es ist der Geist der ästhetischen Erneuerung und der inhaltlichen Debatte – deutlicher könnte der Kontrast zur jüngeren Vergangenheit der Festspiele nicht ausfallen.

Im Zeichen der Rückkehr zu einer qualifizierten Vorstellung dessen, was ein Festival sein soll, stehen auch die Namen auf dem Programmzettel. Für die Inszenierung von «La clemenza di Tito» kehrten der Regisseur Peter Sellars und der Bühnenbildner George Tsypin nach Salzburg zurück, die in der Ära Mortier/Landesmann für manchen Akzent gesorgt hatten. Und die musikalische Leitung hatte Teodor Currentzis übernommen, der mit den vokalen und instrumentalen Kräften von MusicAeterna aus dem russischen Perm angereist war. Gewiss, auch Peter Ruzicka hatte seine fünfjährige Intendanz 2003 mit Mozarts «Titus» eröffnet, und auch er hatte mit Nikolaus Harnoncourt einen prominenten, von Salzburg lange ferngehaltenen Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis ans Pult gebeten. Currentzis jedoch steht für eine Enkelgeneration der Arbeit mit alten Instrumenten und den ihnen entsprechenden Spielweisen, vor allem aber für einen pointierten Umgang mit den Notentexten und eine eigenwillige Expressivität. Widerspruch tut sich da keiner auf. Wenn die historisch informierte Aufführungspraxis zu den Quellen zurückging, so tat sie das, um dem schrankenlosen Subjektivismus zu entgehen, den die Interpreten der Spätromantik kultiviert hatten, und um andererseits dem scheinbar objektiven Musizieren entgegenzutreten, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg als das Mass aller Dinge etabliert hatte. Interpretation war aber auch im Bereich der historischen Praxis stets eingeschlossen, denn ohne Interpretation keine Musik.

Und interpretiert wird in der neuen Salzburger Produktion von «La clemenza di Tito» sehr ausgeprägt. Das von Mozart in allerhöchstem Auftrag komponierte und unter grösstem Zeitdruck zu Papier gebrachte Werk, das im Herbst 1791 anlässlich der Prager Krönungsfeierlichkeiten für den Habsburger Leopold II. zur Uraufführung kam, erscheint hier in keinem Augenblick als die feierliche Huldigungsoper, als die es gemeint sein mochte. Sellars und Currentzis haben sich dem Libretto von Caterino Tommaso Mazzolà zugewandt und es auf die Veränderungen hin geprüft, die Mozarts Textdichter an seiner Vorlage, einem von 1734 stammenden Libretto Pietro Metastasios, vorgenommen hat. Auf dieser Basis stellen sie «La clemenza di Tito» als Hohelied der Aufklärung heraus; sie zeigen, wie subtil und zugleich eindeutig das Werk Einspruch erhebt gegen die Prinzipien der absolutistischen Herrschaft – Leopold II. ist in der Geschichte ja als der Übergangskaiser bekannt, der viele der gesellschaftlichen Lockerungen, die sein 1790 verstorbener Bruder Joseph II. eingeführt hatte, wieder rückgängig gemacht hat. Machtausübung und Unterdrückung, so sehen Sellars und Currentzis die Botschaft der Oper, führe unweigerlich zu Gewalt; nur das Prinzip der Gleichheit aller Menschen und gegenseitiger Respekt liessen ein gedeihliches Zusammenleben entstehen. Das Loblied auf die Güte des Herrschers demnach als Aufforderung an ihn.

Und als Aufforderung an uns alle, die wir diese Jetztzeit bewohnen. Sellars siedelt «La clemenza di Tito» auf der abstrakt gehaltenen Bühne der Salzburger Felsenreitschule nicht in der fernen Antike an, sondern in der Gegenwart der Menschenströme und der Terroranschläge. Der (übrigens wieder ganz ausgezeichnete) Chor erscheint in den Kostümen von Robby Duiveman als eine Gruppe von Flüchtlingen, wie sie jeden Tag an einer Grenze erscheinen. Tito Vespasiano, der von Russell Thomas mit leuchtendem Timbre, aber wenig Koloraturensicherheit gesungen wird, ist kein Kaiser, sondern ein Präsident von heute mit Publio (der würdige Willard White) als seinem Sicherheitschef. Von Vitellia, einer auch in dieser Produktion exaltierten, von Golda Schultz mit etwas viel Druck gegebenen Frau, welche die Aufmerksamkeit des Herrschers als Zeichen der Liebe missversteht und sich zurückgesetzt fühlt, geht der Aufruf zur Gewalt aus, den Sesto (die sängerisch wie darstellerisch hinreissende Marianne Crebassa) zusammen mit einer Gruppe junger Rucksackträger ausführt. Titus wird schwer verwundet; anders als im originalen Text kämpft er im zweiten der zwei Akte auf einem mächtigen Spitalbett um sein Leben, erliegt am Ende aber seinen Verletzungen. Die Oper mündet in Salzburg also in schwarzes c-moll – und in einen Abgesang auf die Werte der Aufklärung?

Sellars Deutung fordert einige Verrenkungen, zu denen man stehen kann, wie man will. Die Aufrechterhaltung der dramaturgischen Stringenz erfordert zudem musikalische Eingriffe, die man goutieren kann oder nicht. Legitim sind sie aber vielleicht allemal; nicht nur war das im 18. Jahrhundert gängige Praxis, Mozart selbst hat, weil er unter so starkem Zeitdruck stand, für die Rezitative die Hilfe Franz Xaver Süssmayrs in Anspruch genommen. Die Zutaten von fremder Hand wollten Sellars und Currentzis entfernen, sie haben dafür Teile aus der c-moll-Messe, Adagio und Fuge in c-moll und einen Abschnitt aus der Maurerischen Trauermusik eingefügt. Das hatte zuallererst einen beinah subversiven Effekt – insofern nämlich, als auf Anhieb hörbar wurde, um wie viel die eingeschobene Musik in der kompositorischen Substanz die Oper überragt. Das wurde durch die Interpretation noch unterstrichen. Im Kyrie aus der c-moll-Messe, das zu Beginn des zweiten Akts erklang, liess einen die Sopranistin Jeanine De Bique, in der Oper mit der Partie des Annio betraut, durch ihr grossartiges Zurücknehmen von Spitzentönen geradezu den Atem anhalten. Indes gab es auch in der Oper selbst tief berührende Momente. Etwa das Duett zwischen Annio und Servilia, bei dem die junge Sopranistin Christina Gansch durch den Liebreiz ihrer Stimme, die Mühelosigkeit in der Höhe und die Sicherheit in den Koloraturen berückte. Oder die grosse Arie des Sesto im ersten Akt, für die sich Florian Schuele mit seiner Bassettklarinette auf die Bühne begab.

Durch die Einschübe ergab sich allerdings eine Tendenz zum Sakralen, die sich als ironisierende Überhöhung verstehen liess, die aber auch eine Spur Kitsch enthielt. Wenn der Kaiser ohne Zorn auf Servilia verzichtet und dann durch das «Laudamus te» aus der c-moll-Messe verherrlicht wird – wie soll man sich da fühlen? Auch macht es sich Peter Sellars, der im Programmbuch sehr anregend über seine Arbeit nachdenkt, wohl doch etwas zu einfach, wenn er behauptet, hinter jedem Sprengstoffgürtel stecke ein Problem der mangelnden Wahrnehmung; es gibt ja auch den blinden, fanatischen Hass und die Gehirnwäsche. Dessen ungeachtet setzt die Begegnung mit «La clemenza di Tito» in Salzburg, die ein hohes Mass an sinnlicher Erfüllung bringt, den Denkapparat mächtig in Gang. Das ist, was Markus Hinterhäuser schon immer gesucht hat, auch im «Zeitfluss», auch in den Programmen, die er als Konzertdirektor entworfen hat. Und was sich im Opernspielplan der Salzburger Festspiele 2017 vorbildlich verwirklicht. «Macht» heisst das Thema dieses Sommers. Mozarts späte Opera seria hat dazu eine so vielschichtige wie eindeutige Wortmeldung abgegeben.