Tal des Todes, himmlische Höh‘n

Rachel Harnisch und Jan Philip Schulze an einem Zürcher Liederabend

 

Von Peter Hagmann

 

Sie sind sehr spezielles Duo, die Sopranistin Rachel Harnisch und der Pianist Jan Philip Schulze, darum geriet ihr Liederabend in der Tonhalle Maag zu einem Ereignis von besonderer Kontur. Harnisch ist nicht die Primadonna, Schulze nicht ihr Diener, nein, die beiden bilden tatsächlich ein Duo, eines im eigentlichen Sinn. Sie begegnen sich auf Augenhöhe und interagieren äusserst lebendig miteinander. Das beginnt schon bei der Zusammenstellung des Programms; in seiner stringenten Dramaturgie, mit seinem Weg von nächtlicher Schwärze zur Helligkeit des Lichts zeugte es von wacher Neugierde und ausgeprägtem Gestaltungswillen. Die Werkfolge bot nicht einfach eine Perlenkette bekannter und geschätzter Lieder, sie orientierte sich vielmehr an inhaltlichen, genauer: an textlichen Zusammenhängen. So ging es an diesem gut besuchten Abend beim Liedrezital Zürich nicht allein um die wohlgeformte Vokallinie, sondern durchaus auch um Momente von Bedeutung und Struktur: um das auf eine neue, auf eine musikalische Ebene gehobene Gedicht.

Zu Beginn war das noch nicht recht spürbar. Rachel Harnisch und Jan Philip Schulze hoben mit Franz Schubert an – und nicht gerade den leichtesten Liedern aus seiner Feder. Die Sängerin wirkte nervös, ihre Höhe klang angestrengt, der Körperausdruck sprach von Verspannung. Bei der «Jungen Nonne» hatte sie sich jedoch gefunden – vermochte sie einen musikalischen Spannungsverlauf zu formen, der zu einer fulminanten Klimax führte und am Ende jubelnde Erlösung fand. Schon da zeigte der Pianist, dass er nicht nur die bei Schubert häufig vorkommenden Tremoli edel hinzulegen weiss, er setzte auch immer wieder überraschende Akzente; sie liessen das musikalische Geschehen zum Dialog werden. Zu einer Entdeckung geriet «Apparition», eine Reihe von «Elegiac Songs and Vocalises for Soprano and Amplified Piano», die sich der Amerikaner George Crumb 1979 ausgedacht hat. Hier griff der Pianist buchstäblich in die Saiten, und da das solcherart Gehauchte und Gezupfte über Lautsprecher hervorgehoben wurde, ergaben sich denkbar vielfarbige Klangwelten. Besonders gelang das letzte der sechs Lieder, das den Nachthimmel mit seiner Nachtigall und die flüsternden Wellen am Meeresstrand besingt – Rachel Harnisch erwies sich da als eine Sängerin, die starke atmosphärische Wirkungen zu erzeugen vermag.

Wie weit ihr gestalterisches Potential reicht, gab die Sängerin in vier Liedern aus «Des Knaben Wunderhorn» von Gustav Mahler zu erkennen. Mit einem herben Anfangston weckte der Pianist beim «Rheinlegendchen» die Zuhörer aus ihrer angenehmen Erwartungshaltung, darauf folgte die verspielte Erzählung vom Weg eines goldenen Ringleins über Fluss, Fischmagen und Königstafel zurück zur Eigentümerin. Dass die von Rachel Harnisch gekonnt erzeugte Harmlosigkeit über doppelte Böden verfügt, betonte Jan Philip Schulze dort, wo er einen überleitenden Harmoniewechsel zum spannungsvollen Ereignis werden liess. Schauerlich «Das irdische Leben», wo das Kind um Brot bittet und es die Mutter so lange vertröstet, bis es auf der Totenbahre liegt. Und herrlich gelöst dann «Das himmlische Leben», das aus Mahlers vierter Sinfonie bekannt ist – wobei man sich fragen konnte, ob der Vorhang, der nah hinter dem Duo gespannt war, der Stimme nicht etwas viel Oberton nahm. Sehr lustig und griffig schliesslich fünf Lieder von Richard Strauss. Ironie hier und Witz dort, blendende stimmliche Wandelbarkeit, kernige Virtuosität im Klaviersatz und dementsprechend rauschender Klang sorgten für einen stupenden Abschluss.

Hindemith – neu entdeckt

«Das Marienleben» mit Rachel Harnisch und Jan Philip Schulze

 

Von Peter Hagmann

 

Ganz so heilig ist es vielleicht doch nicht zugegangen. Im Gedichtzyklus «Das Marien-Leben» von Rainer Maria Rilke erscheint der jungen Frau zwar ein Engel, aber die Blicke, die in diesem Augenblick zwischen den beiden hin- und hergehen, sagen mehr, als die kirchliche Überlieferung nahelegt. Kein Wunder, begehrt der Zimmermann Joseph angesichts der offenkundigen Konsequenzen auf – so sehr, dass es einer energischen Intervention des Engels bedarf. In der Folge zieht das Leben Jesu in dichter Raffung vorbei. Wie Maria nach der Kreuzigung den Leichnam ihres Sohnes an sich nimmt, breitet sich eine Zärtlichkeit aus, die auf das nächste Gedicht verweist; es schildert, wie der Auferstandene seiner Mutter begegnet: in einer Verbundenheit, deren Innigkeit der körperlichen Berührung nicht mehr bedarf.

Und ganz so spröde, wie es das Vorurteil will, klingt es hier auch nicht. Die Musik, die Paul Hindemith für den Gedichtzyklus Rilkes erfunden hat, atmet ihre ganz eigene Sinnlichkeit. Gewiss, die vokale Linienführung ist anspruchsvoll, und der Klavierpart bietet nicht Begleitung herkömmlicher Art, er verkörpert klare formale Prinzipien – zumal in der zweiten Version der Vertonung, die Hindemith 1948, ein Vierteljahrhundert nach einer erste Niederschrift des Liederzyklus, abgeschlossen hat. Ostinate Verläufe, wie sie die Passacaglia ausprägt, stellen sich hier zur Singstimme, Themen mit Variationen und oft auch einstimmige Passagen. So kommt es zu einem Austausch zwischen dem Gesungenen und dem Gespielten, wie er in dieser Intensität einzigartig ist.

Genau darauf setzen die Schweizer Sopranistin Rachel Harnisch und der deutsche Pianist Jan Philip Schulze in ihrer bei Naxos erschienenen Aufnahme von Hindemiths «Marienleben» in der Fassung von 1948. Ihr Zusammenwirken ist denkbar weit entfernt von der Vorstellung einer solistisch geführten Singstimme und eines untermalenden Klaviers. Jan Philip Schulze, ein auf dem Feld des Kunstlieds höchst erfahrener Musiker, gestaltet den Klavierpart geschmeidig und klangschön, vor allem aber stellt er ihn selbstbewusst in den Raum, das erschliesst sich dem Hören bei der ersten Begegnung.

Er kann das tun, weil Rachel Harnisch das Konzept der musikalischen Partnerschaft ihrerseits so lebhaft wahrnimmt. Die reifer gewordene Stimme der Sopranistin, die eben erst in Berlin in der Uraufführung von Aribert Reimanns jüngster Oper «L’Invisible» brillierte, verströmt so viel Wärme und Fülle, dass sie neben den pointierten Beiträge des Pianisten problemlos zu bestehen vermag – ja mehr noch: dass sie die eigenartige Sinnlichkeit der Komposition voll zur Geltung bringt. Die Sängerin gestaltet eben, und sie tut das mit eindringlicher Emphase, hörbar aus den wunderbaren Texten Rilkes heraus, mit vorzüglicher Diktion, aber auch mit so bestechender Sorgfalt der vokalen Ausformung, dass die Balance im Duo jederzeit gegeben ist. Von fröhlichen Weihnachten wird da berichtet und von einem zum Täufer ausersehenen Johannes, der schon im Bauch seiner Mutter strampelnd seiner Vorfreude Ausdruck gibt. Und zu entdecken ist in dieser Aufnahme ein unverkennbarer, aber in gewisser Weise neuer Hindemith.

Paul Hindemith: Das Marienleben (Fassung von 1948). Rachel Harnisch (Sopran), Jan Philip Schulze (Klavier). Naxos 8.573423 (1 CD).