Und mit dem Bariton Andrè Schuen, der «Die schöne Müllerin» ganz und gar aussergewöhnlich darbietet.
Von Peter Hagmann
Das erste Lied, munter berichtet es vom Wandern, das des Müllers Lust sei, lenkt den Blick in die falsche Richtung. Schon in der zweiten Nummer schleichen sich nämlich Zweifel ein. Was will der Bach, dem der junge Müllerbursch, das lyrische Ich, so unwillkürlich folgt? Offenbar hat das Gewässer etwas vor; es lenkt den Schritt des Wanderers hin zu einem zu einem schmucken Haus mit kreisendem Mühlrad, blanken Fenstern – und einer Tochter von heller Schönheit. Die jungen Leute kommen sich nahe; kurz nach der Hälfte es Zyklus, in der Gegend des Goldenen Schnitts, ruft der Wanderer aus der Höhe des siebten Himmels, sie sei sein. Ob sie ihm nur schöne Augen gemacht, ob er sich getäuscht hat? Tatsache ist, dass bald ein anderer in Erscheinung tritt: ein Mannsbild erster Güte, ein Jäger mit Schiessgewehr, Hund und Bart. Für unseren Wanderer folgt ein denkbar qualvoller Abstieg, der zum freiwilligen Abschied vom Leben führt. Der Bach nimmt den Ertrunkenen liebevoll auf.
Was Franz Schubert und sein Textdichter Wilhelm Müller in ihrem zwanzigteiligen Liederzyklus «Die schöne Müllerin» berichten, könnte schauerlicher nicht sein. Wer die Texte genau liest und sie wachen Geistes mit der Musik in Beziehung setzt, kann sich der tiefen Berührung, die von dem Zyklus ausgeht, nicht entziehen. Zumal dann nicht, wenn er so dargeboten wird, wie es Andrè Schuen und Daniel Heide auf ihrer bei der Deutschen Grammophon erschienenen Debüt-Aufnahme gelungen ist. Der Zyklus ist für Tenor geschrieben, Schuen bringt aber einen tiefen, dunkel gefärbten Bariton ins Spiel und setzt ihn in der um einen Ganzton nach unten transponierten Fassung in bezwingender Weise ein. Nirgends stellt der junge Sänger aus dem Südtirol seine Stimme aus – dabei könnte er allen Grund dazu haben, denn in den seltenen Momenten des Ausbruchs zeigt sich ein opulenter Stimmkörper, der von einer reichen Palette an Farben und Obertönen lebt. Weitaus häufiger aber erscheint Schuen als ein vokaler Kammermusiker, der murmelt, flüstert, Selbstgespräche führt und so an einem intimen inneren Vorgang teilnehmen lässt – dies alles auf der Basis einer bewundernswert ausgebauten Piano-Kultur.
Mit dem Pianisten Daniel Heide bildet er ein so gut wie vollkommenes Team. Grossartig, welches Profil Heide aus seinen Pianissimo-Klängen hervorzaubert, wie weich er die vollen Akkorde in «Des Baches Wiegenlied», der letzten Nummer im Zyklus, zu setzen versteht – und vor allem: in welch enger, ja inniger Verbundenheit mit dem Säger er agiert. Der wiederum nimmt vieles auf, was ihm der Pianist anbietet; in besagtem Wiegenlied setzen die Konsonanten ganz zarte Akzente in den musikalischen Fluss, während die Vokale geschmeidig ineinander verfliessen. Tatsächlich lebt in dieser Aufnahme der «Schönen Müllerin» auch Sprachkunst vom Feinsten, denn alles – die Tempi, die bisweilen unerhört weiten Phrasierungsbögen, der übrigens sehr dezente Einsatz des Vibratos –, all das ergibt sich hier aus dem Text, darum geht einem das Geschilderte so nah. Die Einkleidung des Geschehens ist von gestern, Mühlräder an Wasserläufen gibt es bestenfalls noch im Freilichtmuseum, klar im 19. Jahrhundert verankert ist auch die musikalische Sprache. Was der Zuhörer, die Zuhörerin hier und jetzt wahrnimmt, ist jedoch reinste Gegenwart.
Franz Schubert: Die schöne Müllerin. Andrè Schuen (Bariton), Daniel Heide (Klavier). Deutsche Grammophon 00289 483 9558 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2021).