«Salome» von Richard Strauss
im Genfer Grand-Théâtre
Von Peter Hagmann

Der Skandal bei der Dresdener Uraufführung von «Salome» am 9. Dezember 1905 war perfekt: Richard Strauss stand in hellstem Scheinwerferlicht, sein knapp zwei Stunden währender Einakter wurde rasch nachgespielt, die Tantièmen flossen reichlich. Oscar Wilde hatte das auf Französisch geschriebene Stück 1893 vollendet und es in Paris herausgebracht. Kurze Zeit später sah er sich in London einer homosexuellen Affäre wegen zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt; frisch entlassen verliess er 1897 England, drei Jahre später starb er völlig verarmt in Paris. 1901 brachte Max Reinhardt in Berlin «Salome» in der deutschen Übersetzung von Hedwig Lachmann mit denkbar grossem Erfolg auf die Bühne. Richard Strauss sass in einer der Vorstellungen und sah in «Salome» sein Stück; unverzüglich machte er sich an die Komposition. In der Londoner Covent Garden Opera freilich konnte «Salome» erst 1910 und auch dann nur mit argen, von der Zensur verlangten Kürzungen gezeigt werden.
Das waren noch Zeiten – nein: das sind Zeiten. «Salome» kann auch heute noch für Widerstand im Publikum gut sein. Kornél Mundruczó, in dem von Aviel Cahn geleiteten Genfer Haus ein gern gesehener Gast, hat den Einakter von Wilde und Strauss in einer Weise zugespitzt, dass der Stoff wieder die Haut zu ritzen vermag. Für ein Filmprojekt sei er, so berichtet es der ungarische Filmemacher im Programmbuch zur Produktion, einen Monat lang in einem New Yorker Luxushotel neben dem Central Park, dem «Standard», einquartiert gewesen. Dort habe er das Leben der Schönen und Reichen, nein: der Ultrareichen beobachten können – ein Leben, in dem scheinbar alles möglich ist, weil der Preis keine Rolle spielt. Das sei ihm als ein heutiges Abbild der Welt Salomes erschienen – der kleinen, psychisch etwas seltsam gestrickten Prinzessin, die, sollte sie einen Wunsch haben, nur mit den Fingern zu schnippen braucht.
So bringt Monika Korpa in ihrer grossartigen Ausstattung die zentrale Bar des «Standard», den «Boom Boom Room», in aller Genauigkeit der Ausformung auf die Bühne. Und selbstverständlich darf da einer nicht fehlen – einer, der glaubt, wer Geld habe, dürfe jeder Frau zwischen die Beine greifen. Schon bald tritt er auf in seinem blauen Anzug mit der überlangen Krawatte und der üppigen Frisur, doch Donald Trump, als der Herodes in Genf erscheint, ist hypernervös, denn durch die überhohen Fensterscheiben zu beiden Seiten dringt der Lärm eines draussen drängenden Mobs. Was John Daszak an diesem Abend bietet, ist als Leistung eines Sängerdarstellers schlechterdings umwerfend. Beständig eilt er vom einen zum anderen, streckt seinen Zeigefinger aus, wie es der Präsident zu tun beliebt, gestikuliert überhaupt unmissverständlich – und dazu singt er mit hellem Tenor und deklamiert er in trefflichem Deutsch so blendend, dass die Karikatur zu prallem Leben findet. Tanja Ariane Baumgartner, aufgemacht wie Trumps erste Frau Ivana, fällt demgegenüber ab; ihr schöner, warmer Mezzosopran bietet vielleicht doch nicht das geeignete Timbre für die Partie der Herodias, die ja eigentlich als eine zynische, zänkische, machtbewusste Person gezeichnet ist.
Und dann: Olesya Golovneva als Salome. Beiläufig betritt die zierliche Sängerin aus Russland die Bar, und sogleich bildet sich um sie ein Energiekreis, der alles dominiert. Nur einer leistet Widerstand. Es ist der Prophet Jochanaan, der in einer im Bühnenhintergrund liegenden Telefonzelle gefangen gehalten wird. Salome dringt auf eine persönliche Begegnung mit dem Propheten, die Wachen verweigern sie ihr, der heimlich in die Prinzessin verliebte Offizier Narraboth (Matthew Newlin) gibt dann aber grünes Licht. In aller Intensität singt und spielt die Salome von Olesya Golovneva gegen den Gottesmann an, doch der bleibt vollkommen ungerührt – Gábor Bretz versieht seine Verwünschungen erst gegen Herodias, dann gegen Salome in mächtiges, doch stets gepflegtes Volumen. Die nicht ganz folgenlose Begegnung gelingt eindrucksvoll, könnte aber noch zu stärkerer Wirkung finden, wenn das Orchester die Differenz zwischen den Sirenengesängen und den Hasstiraden Salomes entschiedener mittrüge. Unter der Leitung von Jukka-Pekka Saraste ergeht sich das Orchestre de la Suisse Romande in musikalischer hochstehender Begleitung; was aber fehlt, ist eine über Gelassenheit und Diskretion hinausgehende Schärfung des Instrumentalen – dies bei einer Partitur, die nicht wenig expressionistischen Pfeffer in sich trägt.
Schliesslich das als Theatermoment immer wieder überwältigende Finale. Die sieben Schleier sind sieben Doubles von Salome, die sich an der Bar ergehen, da gibt es nichts zu entschleiernd. Tatsächlich ist bei Salomes Performance vor dem notgeilen Herodes kein einziges Stückchen nackter Haut zu sehen, dafür die atemberaubende körperliche Agilität einer Sängerin, die man für eine Tänzerin halten möchte (die Choreografie stammt von Csaba Molnár). An einem gewissen Moment zeichnet sich Salome die Konturen ihrer Brüste und ihrer Scham mit Filzstift auf ein T-Shirt unter dem Kostüm – und dann geschieht es: greift Trump/Herodes hart nach der jungen Frau, schleppt sie in die ehedem von Jochanaan bewohnte Telefonzelle und entjungfert sie dort. Wie Herodes mit offener Hose herauskommt und ihm Salome mit blutverschmierten Schenkeln folgt, schallt ein entrüsteter Buhruf durchs Auditorium. Repräsentativ ist er nicht, aber er erinnert daran, dass «Salome» auch heute noch für einen Skandal sorgen kann.
Vor allem dann, wenn das Stück so explizit gezeigt wird, wie es in Genf geschieht. Wenn Salome von Herodes den Kopf des Jochanaan verlangt, kniet der Prophet bereits am Bühnenrand, den Kopf auf ein Teetischchen gebettet. Dort wird er von Salome kahlrasiert – schrecklich ist das und spannend zugleich, denn im Raum steht natürlich die Frage, wie dieser rasierte Kopf vom Leib getrennt wird. Es bleibt zum Glück offen. Jochanaan erhebt sich und zieht sich ins Dunkel des Bühnenhintergrunds zurück (exquisit die Beleuchtung von Felice Ross), aus dem alsbald der abgetrennte Kopf des Propheten in bühnenraumfüllender Grösse erscheint; er erinnert an die darniederliegenden Statuen gestürzter Herrscher in befreiten Diktaturen. Aus den Öffnungen des Kopfs schlingen sich Salome und ihre sieben Gefährtinnen. Das letzte Wort behält jedoch Herodes; er ruft seinen Befehl, die vollends zerstörte Stieftochter zu töten, aus der Ohrmuschel des Propheten Jochanaan – ein Sinnbild für den Zustand einer Gesellschaft am Ende.