Kunstgesang in exemplarischer Ausprägung

Ernst Haefliger – ein Kalenderblatt zum 100. Geburtstag des grossen Schweizer Tenors

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Privatsammlung, Deutsche Grammophon

Interpretation heisst Verlebendigung – Vergegenwärtigung für ein Hier und Jetzt. Genau darum kann eine Interpretation, die heute als Idealfall erscheint, morgen schon Spuren der Vergänglichkeit tragen. Indessen gibt es interpretatorisches Wirken, das über seine Zeitgebundenheit hinaus Massstäbe setzt und in einer allgemeinen Weise gültig bleibt. Etwas davon ist zu spüren im Singen des Tenors Ernst Haefliger, dessen Geburtstag sich am 6. Juli 2019 zum hundertsten Mal jährt – jedenfalls ergeben sich solche Eindrücke in der Begegnung mit der zwölfteiligen CD-Box, welche die Deutsche Grammophon, viele Jahre lang das Label des grossen Schweizer Sängers, aus diesem Anlass herausgebracht hat.

Natürlich fehlt es nicht an Zeichen, die auf die historische Distanz aufmerksam machen – das erstaunt nicht bei Aufnahmen, die aus den Jahren 1952 bis 1969 stammen. Wenn Alfredos «Brindisi» aus Giuseppe Verdis Oper «La traviata» in einer Einspielung von 1958 auf Deutsch gesungen wird, erinnert das an eine Praxis, die vollkommen verschwunden ist, es ändert aber nichts an der Überzeugungskraft der musikalischen Gestaltung. Und wenn Haefliger «Comfort ye my people» aus Georg Friedrich Händels Oratorium «Messiah» gibt, ebenfalls in deutschsprachiger Fassung, so stehen die ästhetische Handschrift des Dirigenten Karl Richter und der Klang des Münchener Bach-Orchesters unzweifelhaft für eine vergangene Zeit – die berührende Wirkung der Arie schmälert das nicht.

Es ist eben etwas Besonderes an der Vokalkunst Ernst Haefligers. Etwas sehr Eigenes, Unverkennbares. Das betrifft zunächst das Timbre. Haefligers Stimme sitzt jederzeit, selbst in den Aussenlagen, makellos und bildet klar konturierte Linien. Die reiche Beimischung an Obertönen verleiht ihr einen spezifischen Glanz – und eine Schönheit des Tons, die in Verbindung mit der hochstehenden Legatokultur als Grundprinzip über allem herrscht. Dabei bleibt es aber nicht, denn der schöne Klang ist genuin in der Sprache verankert: das kunstvolle Singen nicht einfach als hochkultivierte Lautgebung, sondern vielmehr als ein Sprechen der höheren Art. Die Diktion ist ohne Fehl und Tadel, in welcher Sprache auch immer. Farbig die Vokale, prägnant die Konsonanten, dabei aber fern jeder Überzeichnung oder Manieriertheit. Kontrolle und Mass bleiben jederzeit gewahrt; das Lied «Ich grolle nicht» aus Robert Schumanns «Dichterliebe», in dem die Wogen der Emotion hochgehen, mag als Beispiel dafür stehen.

Das Lied, es bildet eines der Zentren in Ernst Haefligers Wirken, vielleicht sogar das wichtigste. Die CD-Edition, die von Christine, Michael und Andreas, den drei Kindern Haefligers, konzipiert worden ist, legt es jedenfalls nahe. Die Hälfte der zwölf Disks ist dem deutschen Kunstlied romantischer Herkunft gewidmet. «Die schöne Müllerin», die «Winterreise», der «Schwanengesang» von Franz Schubert machen den Anfang, die «Dichterliebe» Robert Schumanns folgt ebenso wie eine Auswahl einzelner Lieder, darunter solche von Othmar Schoeck, Hugo Wolf, Zoltán Kodály. Wenn das erzählende Ich, eine Aufnahme des vierzigjährigen Haefliger, in der «Müllerin» von seiner Wanderlust berichtet, sieht man in der Tat das muntere Bächlein fliessen und die Räder in fleissiger Drehung – so bezwingend gestaltet das Haefliger: mit grossem, ruhigem Atem und in weiten Phrasierungsbögen. Die Pianistin Jacqueline Bonneau trägt das mit, indem sie das Tempo streng konstant hält und ihre differenzierende Kunst auf den Ebenen von Lautstärke und Klangfarbe verwirklicht.

Doch nicht mit dem Lied ist Ernst Haefliger gross geworden, seine Anfänge lagen beim Oratorium – das den Sänger bis ins hohe Alter begleitet hat. Schon gleich nach dem Abschluss seiner Studien am Konservatorium Zürich trat Haefliger als Johann Sebastian Bachs Evangelist auf – mit Dirigenten unterschiedlichster Herkunft, bald aber und dann vor allem mit Karl Richter. Der Münchner Dirigent hat die Laufbahn des um wenige Jahre älteren Sängers entschieden gefördert, während umgekehrt Haefliger zusammen mit Richter das Bach-Bild der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg massgeblich mitgeprägt hat. Die CD-Box legt dazu vielfaches und schönstes Zeugnis ab. Darüber hinaus wartet sie aber auch mit einigen Entdeckungen auf. Dass Ernst Haefliger schon in den späten sechziger Jahren alte Musik erkundet hat, etwa Balladen und anderes von Guillaume de Machaut, dies mit Unterstützung durch den Gambisten August Wenzinger und die von ihm geleitete Konzertgruppe der Schola Cantorum Basiliensis, stellt eine echte Überraschung dar. Offen war er aber auch gegenüber der neueren Musik. Zum Beispiel für das «Tagebuch eines Verschollenen» von Leoš Janáček, für dessen Aufnahme Ernst Haefliger 1963 zusammen mit der wunderbaren Kollegin Kay Griffel, einem nicht näher bezeichneten  Damenchor und Rafael Kubelik als dem Dirigenten am Klavier in den Gemeindesaal beim Zürcher Neumünster ging.

Bild Privatsammlung, Deutsche Grammophon

Bald nach seinem Debüt als Konzertsänger eroberte sich Haefliger auch die Bühne. 1943 wurde er an das damalige Stadttheater Zürich, das heutige Opernhaus, engagiert und blieb dort Mitglied des Ensembles, bis er 1952 als Erster lyrischer Tenor an die Städtische Oper Berlin, inzwischen die Deutsche Oper, wechselte. Gut zwanzig Jahre lang bildete Berlin den Lebensmittelpunkt des Sängers. Dorthin gefolgt war er dem Dirigenten Ferenc Fricsay, der in der geteilten Stadt seit 1949 als Generalmusikdirektor der Städtischen Oper und als Chefdirigent des RIAS-Symphonie-Orchesters wirkte, des späteren Radio-Symphonie-Orchesters Berlin. Mit Fricsay hat Haefliger ganz wesentlich an der Erscheinung Mozarts in den fünfziger und sechziger Jahren gearbeitet – mit der innigen und geschmackvollen, weil nirgends verzärtelten Deutung der «Bildnis-Arie» aus der «Zauberflöte» etwa lässt es die CD-Box erkennen. Eine der Stärken des grossen Tenors war das Leise, dem er Verlorenheit, aber auch grösste Intensität abgewann; exemplarisch steht dafür etwa der Beginn von «Gott, welch Dunkel hier», der ersten Arie des Florestan aus Ludwig van Beethovens «Fidelio», die in der Box wiederum mit Fricsay, diesmal aber mit dem Bayerischen Staatsorchester München erscheint.

In München fand Ernst Haefliger später einen weiteren Wirkungskreis. 1971 wurde er an die dortige Hochschule für Musik engagiert, wo er bis 1988 unterrichtete. Dies gemäss den Maximen, die er in seinem 1983 erschienenen Buch über «Die Singstimme» dargelegt hat. Auf welcher Erfahrung diese Maximen fussen, das lässt sich in der eindrücklichen, das Wirken Haefligers in seiner ganzen Breite abdeckenden CD-Box erfahren.

 

The Ernst Haefliger Edition. Deutsche Grammophon 4837122 (12 CD).
Hier geht es zum vollständigen Titel-Verzeichnis.

 

Von Richter zu Harnoncourt

 

Peter Hagmann

Sinn und Gewinn der Klangrede

Bachs Weihnachtsoratorium gestern und heute

 

Weihnachten naht, und mit ihm das Weihnachtsoratorium. Jene von Johann Sebastian Bach aus sechs Kantaten zusammengestellte Werkfolge für die Zeit zwischen dem Weihnachtstag und dem Dreikönigstag. Wer das Weihnachtsoratorium in diesen Tagen nicht im Konzert hören kann, führt es sich vielleicht mit Hilfe einer Aufnahme zu Gemüte – ich wenigstens tue das. Und in der Regel entscheide ich mich für den bei der Deutschen Harmonia Mundi erschienenen Mitschnitt zweier Konzerte, die Nikolaus Harnoncourt Anfang Dezember 2006 und Mitte Januar 2007 im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins dirigiert hat. Mit von der Partie waren dort sein Freundeskreis, wie er sich im Concentus Musicus Wien jeweils versammelt, der Arnold Schönberg-Chor Wien und ein erlesenes Solistenquartett mit Christine Schäfer (Sopran), Bernarda Fink (Alt), Werner Güra (Tenor) sowie Gerald Finley (Bass) für die erste Hälfte und Christian Gerhaher für die zweite. Die Aufnahme hat bei mir Kultstatus.

Früher war das anders. Vor einem halben Jahrhundert war es eine ganz andere Aufnahme, die diese Position einnahm – jene mit Karl Richter, die 1965 im Münchner Herkules-Saal für die Archiv-Produktion der Deutschen Grammophon entstanden ist. Auch dort war ein Kreis äusserst prominenter Vokalsolisten am Werk, nämlich Gundula Janowitz (Sopran), Christa Ludwig (Alt), Fritz Wunderlich (Tenor) und Franz Crass (Bass). Und auch dort waren mit dem Münchner Bach-Chor und dem Münchner Bach-Orchester Stammkräfte versammelt. Karl Richter, damals noch nicht vierzig Jahre alt, hatte sich als Organist, Cembalist und Dirigent schon eine bemerkenswerte Position erarbeitet und galt als eine Autorität auf dem Gebiet der Bach-Interpretation. Als eine nicht ganz unbestrittene Autorität freilich, denn etwas weiter östlich, in Wien, regte sich Widerstand gegen die Art und Weise, in der Richter die Musik Bachs erklingen liess. Es waren der Concentus Musicus Wien und sein Leiter Nikolaus Harnoncourt, die aufbegehrten. Und einen ganz anderen Zugang propagierten.

Jetzt, da Harnoncourt, zehn Tage ist es her, seinen Rückzug vom Konzertpodium bekannt gegeben hat, ist vielleicht der Moment, innezuhalten und darüber nachzudenken, was in den sechs Jahrzehnten seit der Gründung des Concentus Musicus Wien geschehen ist. Die beiden Aufnahmen von Bachs Weihnachtsoratorium laden dazu ein. Und der Vergleich macht deutlich, dass Musik – auch die Kunstmusik, die gerne als museal empfunden wird – eine höchst lebendige, stetem Wandel unterworfene Erscheinung ist. Wer von Karl Richter her zu Nikolaus Harnoncourt kommt oder umgekehrt von Nikolaus Harnoncourt zu Karl Richter zurückgeht, kann das in geradezu drastischer Weise erleben. Nicht dass das Wirken Richters etwas Falsches oder etwas Überholtes an sich hätte, keineswegs. Die Konfrontation mit den Auffassungen Harnoncourts macht jedoch deutlich, in welchem Mass musikalische Interpretation ihrer Zeit verpflichtet ist. Mit dem Vergehen der Zeit also veraltet und zugleich als dokumentierter Ausdruck ihrer Zeit eine ganz eigene Gültigkeit bewahrt.

Das ist keine Frage des Instrumentariums und des Stimmtons. Der Concentus Musicus Wien verwendet Instrumente aus der Entstehungszeit der gespielten Kompositionen oder entsprechende Kopien, und er agiert einen halben Ton tiefer, als es der heute übliche Stimmton mit dem a’ auf 440 Hertz (oder etwas mehr) anzeigt. Aber das ist nicht das Wesentliche. Im Vokalen zeigt es sich besonders deutlich. Der Arnold Schönberg-Chor, der mit Harnoncourt zusammenarbeitet, ist kein professionelles Ensemble wie etwa der von John Eliot Gardiner gegründete Monteverdi Choir, und er ist nicht auf die Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis eingeschworen. Und anders als beispielsweise bei William Christie und Les Arts Florissants entstammen die Vokalsolisten Harnoncourts nicht der spezialisierten Szene, sie stehen vielmehr in einer allgemeinen Weise für die Gesangskunst von heute. Dennoch unterscheiden sich die beiden Aufnahmen wie Tag und Nacht.

Der Grund dafür ist jener Kern der historisch informierten Aufführungspraxis, den Harnoncourt die Klangrede genannt hat. Barockmusik, das hat ihm das langjährige, intensive Studium der aufführungspraktischen Quellen jener Zeit zu erkennen gegeben, basiert auf Formeln, die mit der Sprache verbunden sind – eine Tatsache, die weit über ihre Zeit hinaus wirksam war, ja eigentlich bis heute Gültigkeit besitzt: Musik als eine höhere Art Sprache. Damals wie heute versteht der kundige Hörer sogleich, was eine absteigende Folge von Halbtonschritten bedeutet; es ist der «passus duriusculus», der für Trauer steht. Und wie die Sprache, kennt auch die Musik Hebungen und Senkungen, längere und kürzere Töne – und das, auch wenn die Notenzeichen genau gleich aussehen: Es ist die Position des einzelnen Tons im Takt, welche die Länge mitbestimmt. Darum klingen, wenn historisch informiert gespielt und gesungen wird, gleiche Töne nie gleich lang, was unter anderem zu jener erhöhten Lebendigkeit führt, die man an der historischen Praxis schätzt.

Der Eingangschor zur ersten Kantate des Weihnachtsoratoriums lässt es auf Anhieb hören. Er beginnt mit drei Schlägen der Pauke, drei gleich hohen Achteln in einem Drei-Achtel-Takt, die auf eine Eins im nächsten Tag hinführen und in einem absteigenden Quartschritt auf der Zwei dieses zweiten Taktes enden. Bei Karl Richter klingt dieser kleine, aber überaus wichtige Verlauf, ebenmässig – so wie die Musik Bachs als eine gleichsam objektivierte Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg neu entdeckt worden ist. Ganz anders Nikolaus Harnoncourt, dessen Pauker die drei wiederholten Achtel in der Lautstärke ansteigen und auf dem vierten Achtel kulminieren lässt, was gleich zu Beginn Entwicklung, Atmen, Leben offenbart.

In gleicher Weise manifestieren sich gut dreissig Takte später Unterschiede im Chor. Der Text heisst dort: «Jauchzet, frohlocket! Auf, preiset die Tage!» Bei Harnoncourt wird musikalisch nachgebildet, was sprachlich vorgegeben und in den Drei-Achtel-Takt eingefügt ist. Gesungen wird also ungefähr: «Jáuchzèt, frohlóckèt! Auf, préisèt die Tágè!» – denn im Drei-Achtel-Takt ist der erste Schlag der stärkste, der zweite der schwächste und der dritte ein wieder etwas stärkerer. Bei Karl Richter dagegen herrscht auch hier Ebenmässigkeit, ja das Achtel auf der letzten Silbe von «frohlocket» und «Tage» wird bisweilen fast zu einem Viertel: «frohlockeet» und «Tagee». Wer spricht so? Nur Musiker tun das, wenn sie musizieren, weil dieses Sitzenbleiben auf dem zweiten Achtel des Drei-Achtel-Takts einer gängigen, in der Oper besonders verbreiteten Unsitte entspricht. Sie ist leider noch keineswegs aus den Köpfen verschwunden. Aber immerhin gibt es inzwischen, zum Beispiel bei den Lehrkräften an den Musikhochschulen, ein gewisses Problembewusstsein.

Das ist jetzt vielleicht mit der Lupe auf die Einzelheiten geblickt, aber es sind genau Details solcher Art, die anzeigen, wie sich die musikalische Interpretation weiterentwickelt hat. Darum lasse ich bei aller Verehrung für Karl Richter und sein unschätzbares Wirken die von ihm dirigierte Aufnahme im CD-Gestell. Ich lege die Einspielung mit Nikolaus Harnoncourt ein und bin im Zuhören dankbar, dass ich den epochalen Einschnitt, den dieser grossartige Musiker unserer Zeit beschert hat, mit eigenen Ohren miterleben durfte.