Wahnsinn aus Männersicht

«Lucia di Lammermoor» von Donizetti in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Ena Pongrac (Alisa) und Rosa Feola (Lucia) im Stadttheater Basel / Bild Sandra Then, Theater Basel

 

Ein verflixtes Stück: so einfach und zugleich so schwierig. Das ist es, was bei «Lucia di Lammermoor» ins Gewicht fällt. Das Haus, das die berühmteste Oper Gaetano Donizettis auf den Spielplan setzt, muss über künstlerische Kräfte von spezifischem Profil verfügen. Über eine Sängerin und eine Reihe von Sängern, die mit den ganz eigenen Schwierigkeiten der Partitur umzugehen wissen. Und über ein szenisches Team, das die lapidare Geschichte von dem liebenden Paar, das von einem Bösewicht getrennt wird und aus Leid darüber zu Tode kommt, in eine plausible, attraktive Bilderfolge zu fassen vermag. Beides ist voll gelungen: im Theater Basel, dem grössten Dreispartenhaus der Schweiz und derzeit «Theater des Jahres».

Rosa Feola zum Beispiel. Sie ist nicht die fragile, beinah gläserne Lucia, als die seinerzeit Edita Gruberova Sensation gemacht hat. Die junge Italienerin steht vielmehr mit beiden Beinen auf der Erde. Wenn sie liebt, tut sie das bedingungslos und durchaus irdisch. Und wenn sie das Unheil erahnt, das sie ereilen wird, löst das ungeheure Energien aus – von da her lässt sich absolut verstehen, dass sie ihren frisch, wenn auch unter Zwang angetrauten Ehemann in der Hochzeitsnacht ersticht. Dann freilich gerät ihre Welt ins Kreisen: eine Ver-Rückung von ungeheuer tragischem Ausmass. So gestaltet sie ihre Partie auch im Vokalen. Kräftig im Ansatz, eher breit im Ton, dabei aber klar zeichnend, sicher in der exorbitanten Höhe und blendend in der expressiven Kraft.

Lucia ist hier nicht die Wahnsinnige schlechthin, sie wird zur Wahnsinnigen – und vor allem: sie wird dazu gemacht. Von einer durchgehend schwarz gewandeten Männergesellschaft, die diese in unschuldiges Weiss gekleidete Frau als Fall sehen. Krankenhausatmosphäre herrscht, das Spitalbett spielt seine unselige Rolle. Als Lucias Vertrauter Raimondo streift sich Tassos Apostolou, der seinen Bass in aller Sonorität aufklingen lässt, über den schwarzen Anzug den weissen Arztkittel, während Alisa (Ena Pongrac) ihm als Krankenschwester zu Diensten steht. Der Regisseur Olivier Py zeigt die Geschichte von «Lucia di Lammermoor» als Konkretisierung einer brutal patriarchalen Gesellschaftsordnung, und der Ausstatter Pierre-André Weitz hat ihm dafür einen grossartig beweglichen Bühnenraum geschaffen.

Das enge Spitalzimmer des Beginns weitet sich in dem Moment, da sich die Liebenden begegnen und sich die Perspektive auf ein gemeinsames Leben hin öffnet, zu einem Saal, der die ganze Bühne umfasst – ein vielleicht plakatives, aber doch sehr packendes Bild. Und ebenso dramatisch wie der kleine Kinderkreisel im Krankenzimmer, der sich in der Wahnsinnsszene auf reales Format vergrössert und auf der Drehbühne schauerliche Wirklichkeit werden lässt, was zuvor als Schatten und Schemen an den Zimmerwänden erschienen ist. Das alles steht im Einklang mit einem sehnigen, von belebten Tempi getragenen Musizieren, wie es Giampaolo Bisanti vom Dirigentenpult aus evoziert. Und wie es das Sinfonieorchester Basel, aber auch der von Michael Clark geleitete Basler Theaterchor mit geschmeidigem Elan Klang werden lassen.

Ganz besonders kommt der dramatische Zugriff bei jenen Herren der Schöpfung zur Geltung, die das Geschehen vorantreiben und sich dabei tödlich ins Gehege kommen. Als der üble Strippenzieher Enrico macht Ernesto Petti mit seinem in der Tiefe verankerten Bariton ausgezeichnete Figur; als düsterer Assistent steht ihm Karl-Heinz Brandt in der Partie des Normanno zur Seite. Herrlich unsympathisch auch Hyunjai Marco Lee als Arturo, der auf seinen Reichtum setzt und die Gunst der Stunde zu nutzen sucht, um Lucia in sein Bett zu bekommen – Olivier Py ist nicht nur ein Mann der starken Bilder, sondern auch einer der kräftigen Personenzeichnung. Auch Edgardo, der Bräutigam Lucias, stellt in der Auseinandersetzung mit seinem Widersacher Enrico seinen Mann – Fabián Lara kann da ganz schön energisch werden. In der Begegnung mit Lucia und im Zusammenwirken mit Rosa Feola schlägt er aber auch ganz andere Töne an. Vielleicht sind es tatsächlich die Duette, die an diesem Abend die stärksten Eindrücke hinterlassen.

Die Oper lebt – und wie

 

Peter Hagmann

Samiel und das Bühnenportal

Saisoneröffnung in Schweizer Musiktheatern

 

Lange Zeit würden wir uns das nicht mehr leisten können, meinte hinter vorgehaltener Hand ein prominenter Vertreter des Schweizer Wirtschaftsliberalismus. Er spielte an auf die föderalistisch geprägte Vielfalt der hiesigen Kulturszene: auf die elf professionellen Sinfonieorchester, deren Wirkungskreise wie im Fall von Bern und Biel nur wenige Kilometer Luftlinie voneinander entfernt sind, und die acht Theater mit eigenem Ensemble, die Opern auf dem Spielplan haben. Das ist tatsächlich imposant, doch darf nicht übersehen werden, dass jede dieser Institutionen über eine starke, von der jeweils lokalen Bevölkerung ausdrücklich mitgetragene und mitgeprägte Identität verfügt. Mitte September, wenn die Theater nach der sommerlichen Spielpause ihre Pforten wieder öffnen, wird ausserdem deutlich, wie sehr sich die einzelnen Häuser voneinander unterscheiden. Es öffnet sich da eine Landschaft, deren Vielgestaltigkeit dem Reichtum der Kunst entspricht und deren Lebendigkeit all jene Pessimisten ins Unrecht setzt, die den baldigen Tod der klassischen Musik, somit auch des Musiktheaters voraussehen – beziehungsweise herbeiwünschen.

Im Holzhaus: «Manon»

Zwei der acht Schweizer Musiktheater sind derzeit besonders gefordert. Noch bis gegen Ende Jahr bleibt das Stadttheater Bern für Renovationsarbeiten geschlossen, das von Stephan Märki geführte Konzert-Theater Bern hat für seine dramatische Abteilung deshalb unweit vom Bundeshaus einen hölzernen Kubus errichten lassen und bespielt ihn mit einem speziellen, eigens für diesen ungewohnten Ort konzipierten Angebot. Im Exil befindet sich auch die Genfer Oper. Da das Grand Théâtre an der Place Neuve ebenfalls wegen Unterhaltsarbeiten geschlossen ist, veranstaltet das Opernhaus der französischsprachigen Schweiz während zweier Spielzeiten seine Abende in der «Opéra des Nations», einem hölzernen Provisorium in der Nähe des Genfer Uno-Sitzes. Für 1100 Besucher gibt es dort Platz, für 400 weniger als im Stammhaus. Etwas eng ist es schon, aber von den Garderoben für die Künstler bis zur VIP-Lounge ist alles vorhanden, was es braucht, und das auf einem provisorischen Fundament von 300 in die Erde gerammten Baumstämmen. Die Kosten für die von der Comédie Française in Paris übernommene Konstruktion in der Höhe von 11,5 Millionen Franken wurden zur zwei Dritteln von privater Seite beglichen.

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«Manon» in der Genfer «Opéra des Nations» / Bild Carole Parodi, Grand Théâtre de Genève

An diesem Standort führt der Genfer Intendant Tobias Richter seine künstlerische Politik einer Stagione mit acht Opern, davon vier in neuer Produktion, drei Balletten und einer Fülle an Nebenveranstaltungen fort. Zur Saisoneröffnung gibt es «Manon» von Jules Massenet in bewährter ästhetischer Ausrichtung. Marko Letonja führt das leicht verwahrlost wirkende Orchestre de la Suisse Romande zu mächtig aufbrausendem, bisweilen grob skizziertem, jedenfalls nicht sehr idiomatischem Klang – was Patricia Petibon mit ihrem schlanken, fein zeichnenden Sopran nicht eben entgegenkommt. Ihre Auftrittsarie als Manon klingt noch leicht, doch je weiter der Abend und der Abstieg der Titelfigur voranschreiten, desto mehr Verspannung kommt auf. Ihre grossen solistischen Momente, etwa den Versuch, den zum Priester mutierten Geliebten zurückzugewinnen, meistert sie jedoch als eine Tragödin von Format. Bernd Richter steht ihr als des Grieux ebenbürtig zur Seite, nur in jener sehr französischen Höhe, die Massenet verlangt, neigt er zum Forcieren – auch bedrängt durch das Orchester und sicher nicht gestützt durch die sehr direkte Akustik. In der Ausstattung von Pierre-André Weitz zeigt der Regisseur Olivier Py das Stück fern jeder Sentimentalität als brutalen Kampf um einen Platz an der ausschliesslich von Geld genährten Sonne. Dass Männlein wie Weiblein wieder hübsche Genitalien vorzeigen dürfen, gehört selbstredend dazu.

Im Holzbauch: «Prometeo»

Solcherlei gibt es im Luzerner Theater nicht, das ist dort nicht vonnöten. Benedikt von Peter, der neue Intendant, bricht radikal auf. Er bringt Verdis «Rigoletto» in einer Industriehalle ausserhalb der Stadt, «Hänsel und Gretel» von Humperdinck in einer Fassung für Volksmusikinstrumente, «Die Zauberflöte» und «La traviata» aber auch im Stammhaus. Und zur Eröffnung der Spielzeit, dies in Koproduktion mit dem Lucerne Festival, gab es nicht weniger als «Prometeo» von Luigi Nono: ein Stück Nicht-Theater, bei dem es wenig zu sehen, umso mehr aber zu hören gibt und bei dem ausserordentlich gespitzte Ohren verlangt sind. Für dieses Projekt liess der Intendant in den zu fünf Sechsteln ausgeräumten Zuschauerraum, der mit Hilfe eines zusätzlichen Holzbodens auf Bühnenebene gebracht wurde, eine hölzerne Arche einbauen, aus deren Höhe die verräumlichten Klänge auf die frei im Saal verteilten Zuhörer eindrangen. Eine kongeniale Idee, die den für dieses Stück viel zu kleinen Raum optimal erweiterte und zugleich an die architektonische Lösung Renzo Pianos bei der Uraufführung anschloss. Wenn aber auch an das Globe Theatre Shakespeares erinnert wurde, so geschah das durchaus auch im Kontext der durch das Luzerner Kantonsparlament brutal beendeten Diskussion um den Bau einer Salle Modulable in Luzern.

Nonos «Prometeo» im Stadttheater Luzern / Bild David Röthlisberger, Luzerner Theater

Für 250 Besucher pro Abend, die elf Mal angesetzte Produktion läuft noch bis zum 15. Oktober, ist der Raum ausgelegt, halb so viele, wie bei ordentlicher Konfiguration Platz fänden – äusserst wagemutig ist das und ein starkes Zeichen. «Prometeo» ist im Lauf seiner nun gut dreissigjährigen Rezeptionsgeschichte durch eine Aura des Sakralen umhüllt worden, nicht zuletzt dank der Uraufführung in der Kirche San Lorenzo in Venedig und dank der beiden ebenso aufsehenerregenden wie magistralen Produktionen der Salzburger Festspiele (1993 und 2011) in der dortigen Universitätskirche. Der Kirchenhall wurde durch die Live-Elektronik bereichert und ins ätherisch Weite getrieben. In Luzern geschieht gerade das Gegenteil. Der Raum ist extrem trocken, und das auch hier beteiligte Experimentalstudio des SWR dosiert seine Interventionen äusserst sparsam, das Werk begegnet einem also sozusagen in nuce. Und da die Vokal- und Instrumentalsolisten, der Theaterchor und das Luzerner Sinfonieorchester unter der Leitung des neuen Luzerner Musikdirektors Clemens Heil sehr subtil agieren, ist die Schönheit von Nonos Musik in einzigartiger Klarheit zu erleben. Liebevoll betreut durch Anleitungen und Handreichungen einer Gruppe «älterer Damen», kann man als Besucher, wenn man seine Schuhe abgegeben und die zur Verfügung gestellten, «frisch gewaschenen» Wollsocken übergestreift hat, auf Matratzen, Stühlen oder Hockern Platz nehmen und, wenn die rote Lampe blinkt, seine Position wechseln. Und eine weitere «ältere Dame» beobachten, welche die ganzen zweieinhalb Stunden reglos, aber ausstrahlungsmächtig und vor allem vorbildlich zuhört. Ein Erlebnis ganz eigener Art.

In der Kunstwelt: «Der Freischütz»

Alles beim guten Alten ist im Opernhaus Zürich. Das erfolgreiche Team mit dem Intendanten Andreas Homoki an der Spitze geht in seine fünfte Saison. Eben ist als beispielhaft aufgemachte DVD bei Accentus die schöne Produktion von «I Capuleti e i Montecchi» von Bellini mit dem Zürcher Generalmusikdirektor Fabio Luisi, dem Regisseur Christoph Loy und einer vorzüglichen Besetzung mit Joyce di Donato an der Spitze erschienen. Und zur Eröffnung der neuen Saison zeigt das Opernhaus Zürich den «Freischütz» von Carl Maria von Weber – fast ein Vierteljahrhundert nach der beispielhaften, legendär gewordenen Produktion des Werks mit Nikolaus Harnoncourt und Ruth Berghaus war das am Platz. Schon damals war die Rezeptionsgeschichte dieser urromantischen deutschen Oper hinterfragt worden, Marc Albrecht am Pult der Philharmonia und der Regisseur Herbert Fritsch gehen nochmals einen entschiedenen Schritt weiter in dieser Richtung, nur das Publikum ist sich treu geblieben. Es buhte den darob verdutzten Regisseur an der Premiere ebenso erbarmungslos aus, wie es am 20. Februar 1993 die damals doch schon sehr altersmilde, doch keineswegs nachgiebig gewordene Ruth Berghaus in den Orkus geschrien hatte.

Viel Ehre also für Herbert Fritsch und seine szenische Arbeit, die manches an Webers «Freischütz» auf den Kopf stellte, das aber mit gutem Grund tat: fragend nämlich und nachdenklich. Eins zu eins lässt sich «Der Freischütz» heute nicht mehr erzählen; der dunkle Wald, die knallenden Büchsen und die vom Himmel fallenden Vögel entbehren im Zeitalter der Internet-Realität jeder Glaubwürdigkeit. Fritsch hat den Wald durch ein erbarmungslos glänzendes Ensemble von Häuschen mit Kirche ersetzt und den Gewehrschuss durch ein vernehmliches «peng» aus den Mündern gaffender Männer. Was vom Himmel fällt, jedenfalls fast, und was an der Premiere zum lauten Aufschrei einer wohl ebenfalls besoldeten Zuschauerin führte, ist  in der Wolfsschlucht eine blendende Artistin am weissen Seil. Virtuos jongliert Fritsch mit den Dingen – wie es der allgegenwärtige, für die Akteure auf der Bühne aber unsichtbare, unglaublich freche und immer wieder voller Energie ins Bühnenportal knallende Samiel von Florian Anderer tut. Gleichzeitig treibt sie der Regisseur ins Groteske, wie die übersteigert folkloristischen Kostüme von Victoria Behr unterstreichen. Der Auftritt des vordementen Fürsten Ottokar (Oliver Widmer) und erst recht jener des hier ganz mit Stroh bedeckten, gleich ausgesprochen voll klingenden Eremiten (Wenwei Zhang) – das lässt sich dramaturgisch und szenisch überhaupt nicht lösen, es ist als Verlegenheit ins Stück eingeschrieben und kann nur auf Distanz gezeigt werden. Der Dirigent Marc Albrecht lässt denn auch keinen Zweifel daran, dass dem Finale des «Freischützen» etwas Angeklebtes eigen ist.

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«Der Freischütz» im Opernhaus Zürich / Bild Hans Jörg Michel, Opernhaus Zürich

Überhaupt wird vorzüglich, nämlich ebenso deutlich wie nuanciert musiziert. Marc Albrecht – und die Philharmonia wird sich gewiss noch mehr mit diesen Ansätzen identifizieren – schärft die dynamischen Kontraste und spitzt die Tempi zu, ohne das der kantable Grundzug des Werks Schaden nähme. Christopher Ventris ist ein erfahrener, engagierter und höhensicherer Max, nur sein Vibrato, das fällt bisweilen störend ins Geschehen. Mit Christof Fischesser wiederum steht ihm ein stimmlich blendender, auch grossartig sprechender Kaspar gegenüber. Eine buchstäblich überragende Erscheinung gibt Lise Davidsen ab. Agathe ist hier gewiss einen Kopf grösser als Max, sie lässt ihren Geliebten als ein zu manchem unfähiges Muttersöhnchen erscheinen. Ist das ein Fall von absolut gelungenem type casting, so sind stimmlich doch gewisse Vorbehalte angebracht. Lise Davidsen meistert ihre beiden Arien wunderbar, mit reicher Subtilität in der Gestaltung und, beispielsweise, sparsamem Vibrato. Aber ihre Stimme ist doch klar dramatisch angelegt, was der lyrischen Partie der Agathe widerspricht. Rollendeckend munter dagegen Mélissa Petit als Ännchen.

Im Einfamilienhaus: «Die tote Stadt»

Zeugt dieser «Freischütz» von der Kontinuität des hohen Niveaus, so verdeutlicht «Die tote Stadt» von Erich Wolfgang Korngold, dass das Theater Basel in der zweiten Spielzeit unter der Leitung seines Intendanten Andreas Beck zu neuen Horizonten aufbricht. «Donnerstag aus Licht» von Karlheinz Stockhausen in der grandiosen Inszenierung von Lydia Steier kurz vor der Sommerpause hatte es schon angedeutet, jetzt wird es Gewissheit. Wesentlich geprägt wird der Aufbruch durch den Amerikaner Erik Nielsen, der seit dieser Spielzeit als Musikdirektor wirkt, also zusammen mit Ivor Bolton das Sinfonieorchester Basel leitet. Und durch Simon Stone, den 32jährigen Basler aus Australien, der in seiner Heimatstadt als Hausregisseur verpflichtet ist und nun sein Debüt im Musiktheater gegeben hat.

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Korngolds «Tote Stadt» im Stadttheater Basel / Bild Sandra Then, Theater Basel

Für ihn sind Sänger – natürlich Sänger, vor allem aber auch Schauspieler. Davon lebt der Abend mit Korngolds «Toter Stadt» von 1920, und das macht die Begegnung mit dem psychologisch tiefgründigen Geniestreich des erst 23jährigen Komponisten aus Wien zu einem Theaterereignis der besonderen Art. Paul – Rolf Romei kämpft vielleicht ein wenig mit der Höhe, verkörpert seine Partie aber mit unglaublich packender Intensität – ist ein Bürger im besten Alter und in soliden Lebensverhältnissen, der seine innigst geliebte Ehefrau Marie verloren hat. An Krebs verloren hat, daran lässt die Kostümbildnerin Mel Page, die eine Vielzahl albtraumhaft kahlköpfiger Frauen ins Spiel bringt, keinen Zweifel. So wird das lange blonde Haar der Verstorbenen, mit dem Paul die Wiedergängerin Marietta zu schlechter Letzt erdrosselt, zu einem dramaturgisch aufgeladenen Requisit.

Was perfekt passt zu der spannungsgeladenen Erscheinung von Helena Juntunen, die Marietta/Marie den in seiner Trauer gefangenen Paul nach Massen bezirzt. Klangschön und unerhört sinnlich singt die junge Finnin, agil bewegt sie sich auf der Bühne – gerade so, als wäre sie einer Musical-Truppe entsprungen. Im Sog der kathartischen Beziehung finden auch alle der vielen kleineren Rollen je eigenes Profil, etwa jene der Hausangestellten Brigitta, die von Eve-Maud Hubeaux mit glühender Tiefe gegeben wird. In dem sich unablässig drehenden Einfamilienhaus aus dem Atelier des Bühnenbildners Ralph Myers spitzt sich das Geschehen gewaltig zu, und Erik Nielsen, der zusammen mit dem Sinfonieorchester Basel die Verlaufskurven fast schmerzhaft spannt, hat daran erheblichen Anteil. Dabei gehen Musik und Theater Hand in Hand. Wenn Marietta ihr uneigentliches Lied «Glück, das mir verblieb» anstimmt, gibt ihr der Regisseur ein mit einem Fernseher verbundenes Mikrophon in die Hand, als ob sie sich für eine Karaoke-Darbietung verstellte; zugleich dehnt der Dirigent das Tempo dergestalt, dass die Künstlichkeit des Moments voll zutage tritt. Das ist Musik-Theater im eigentlichen Sinn.

«Macbeth» in Basel

 

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Am Ziel und restlos verstrickt: Macbeth (Vladislav Sulimsky) und seine Lady (Katia Pellegrino) in Basel / Bild Sandra Then, Theater Basel

 

Peter Hagmann

Macht und Sex, Sex und Macht

Verdis «Macbeth» mit Olivier Py und Erik Nielsen am Theater Basel

 

Zu sehen gibt es hier nun sehr viel – ganz anders als im Opernhaus Zürich, wo «Macbeth» ebenfalls auf dem Spielplan steht und Giuseppe Verdis radikale Schaueroper durch einen Akt des Nicht-Theaters zu eindringlichstem musikalischem Theater wird. In Basel ist Olivier Py am Werk; im Gegensatz zu Barrie Kosky untersucht er auch dieses Stück auf seine untergründiggen sexuellen Ströme – und er tut das so explizit, wie es bei ihm so Sitte. Er zeigt alles beziehungsweise lässt alles zeigen. Wenn König Duncan bei seinem Vasallen Macbeth zu Gast kommt, entledigt er sich erst seiner Statussymbole und dann seiner Kleidung, um sich schliesslich splitternackt in eine Badewanne zu legen und dort sein Marat-Schicksal zu erwarten. In der Folge führt der Dahingemeuchelte, vom Theaterblut gezeichnet, sein Gemächt noch und noch ins Licht. Auch die Hexen dürfen ihre für gewöhnlich verdeckten Sächelchen herzeigen, es ist eine wahre Freude. Später kämpft sich Macbeth noch über einen Berg ebenfalls nackter Leichen, aber die sind nun aus Plastik. Genau so wie die Krähen, die als kleine Reverenz an die Zürcher Produktion vom Rhein an die Limmat grüssen.

So ist es nun einmal bei Olivier Py. Wer diese Regiehandschrift nicht mag, bleibt besser fern, es gibt ja eine Alternative. Nicht nur das Nackte, auch das Grobe gehört bei ihm dazu. Wenn zu Beginn des vierten Akts die Hoffnungslosigkeit ihren tiefsten Punkt erreicht hat und das Volk von Schottland sein Schicksal beklagt, tut es das im Schatten einer enormen Diktatorenstatue – die am Ende der Nummer pünktlich und krachend zu Boden fällt. Dass der von Henryk Polus einstudierte Chor des Theaters Basel, dessen Damen wieder reichlich Vibrato einbringen und damit die die erwünschte klangliche Homogenität stören, hier seine Sache ganz ausgezeichnet macht und einen grossartigen Moment musikalischer Dichte erzeugt, wird durch das Getöse des fallenden Monuments brutal zerstört. Einmal mehr wird offenbar, mit wie wenig entwickelter Musikalität Musiktheater in Szene gesetzt werden kann. Oder wie sehr sich die Kraft des szenischen Bilds gegenüber dem als Zusammenspiel unterschiedlicher Kräfte gedachten Kunstwerk Oper verselbständigen kann. Dessen ungeachtet ist festzuhalten, dass Pierre-André Weitz die Ausstattung virtuos konzipiert und die Haustechnik sie meisterlich realisiert hat.

Doch das ist nur die eine Seite. Was Olivier Py zu «Macbeth», zu Verdi und zu Shakespeare zu sagen hat, das zeigen die intelligenten Antworten, die der Theologe, Autor, Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter dem Dramaturgen Pavel B. Jiracek im Programm gibt. Es ist weitaus anregender als das, was an diesem Abend im Theater Basel zu sehen ist. Denn jenseits des Plakativen bleibt die Basler Produktion im Konventionellen oder im Ungefähren stecken. Das liegt an einem Mangel an Hinwendung des Regisseurs zu den dramatis personae. So sehr sie – man könnte fast sagen: im Stil des italienischen Ausstattungstheaters – dem schlagkräftigen Bild zustrebt, so wenig Aufmerksamkeit schenkt die Inszenierung den einzelnen Figuren; sie bleiben darum Chiffren, ja Schemen. Gewiss zeigt Py das Geschehen von «Macbeth» nicht als eine reale Wirklichkeit, sondern vielmehr als eine Wirklichkeit des Unterbewusstseins – die Omnipräsenz des Waldes, als szenische Metapher auch aus anderen Inszenierungen dieses Regisseurs bekannt, mag dafür stehen. Aber welcher Art die Keimzelle des Dramas ist, nämllich die Beziehung zwischen Macbeth und seiner Gattin, dass sich hier die krankhafte Skrupellosigkeit einer Frau der ebenso krankhaften Abhängigkeit, ja Hörigkeit eines schwachen Mannes bedient, das wird nicht wirklich fassbar.

Auch musikalisch nicht. Katia Pellegrino (Lady Macbeth) verfügt über eine tadellos ausgebaute Tiefe und eine strahlkräftige Höhe, der Übergang zwischen Brust- und Kopfstimme ermangelt jedoch der Kontrolle. Ebenso fehlt es an Piano-Kultur – wohingegen das Forte mächtig beeindruckt, aber doch arg der Konvention des italienischen Starkgesangs verpflichtet bleibt. Das Bedrohliche, das schauerlich untergründige Streben kommt daher ebenso wenig zum Ausdruck wie der Zusammenbruch in der Schlafwandlerszene – und schon gar nicht zu hören ist, dass Verdi bei dieser Figur an eine ganz und gar unübliche vokale Ästhetik gedacht hat: an eine Ästhetik des Hässlichen. Vladislav Sluminksy (Macbeth) kommt seiner Partie näher. Er bringt ein obertonreiches Timbre ein, beherrscht die italienische Technik ausgezeichnet und profitiert von vorbildlicher Diktion, doch so weit im Ausloten der Extreme, wie es Markus Brück in Zürich tut, geht der Bariton aus Weissrussland nicht. In den kleineren Partien glänzt neben Valentina Marghinotti (Kammerfrau der Lady Macbeth) vor allem Callum Thorpe als Banquo; der britische Bass, der Ende letzten Jahres als Sarastro in Mozarts «Zauberflöte» auffiel, bringt auch hier äusserst gepflegte, klangvolle Sonorität und souveräne Ausgestaltung ein.

Allein, was Verdis Partitur an Spannung enthält, wird in Basel weitaus weniger deutlich als in Zürich. Das liegt auch am Dirigenten. Ohne Zweifel braucht es eine gewisse Offenheit, den exzentrischen Zugang des Dirigenten Teodor Currentzis zu goutieren, doch unter dem Strich fördert er entschieden mehr zutage, als es der konventionelle Verdi-Ton tut. Den verfolgt Erik Nielsen in Basel – klanglich eher schwer als zugespitzt, dafür rhythmisch präzis und energiegeladen. Und das Sinfonieorchester Basel lässt unter der feurigen Anleitung durch den designierten Musikdirektor am Theater Basel hören, dass es sich in sehr respektabler Verfassung befindet.