Puccinis «Turandot» im Opernhaus Zürich
Von Peter Hagmann
Hier ende die vom Maestro unvollendet gelassene Oper, weil der Maestro an dieser Stelle gestorben sei. So die Worte, die Arturo Toscanini dem perplexen Publikum der Mailänder Scala am Ende der Uraufführung von Giacomo Puccinis «Turandot» zugerufen haben soll. Nach dem Opfertod der standhaften Dienerin Liù hatte der Dirigent den Taktstock niedergelegt. Er tat dies aber nur in der Premiere; in den folgenden Aufführungen wurde die Vollendung durch Franco Alfano verwendet, allerdings in einer von Toscanini redigierten Fassung. So kam «Turandot» zum Druck und auf die Bühnen der Welt – bis 2002, auf Initiative Riccardo Chaillys, ein neuer Schluss von Luciano Berio dazu kam. Aus den inzwischen vier Möglichkeiten der Aufführung von Puccinis Schwanengesang hat das Opernhaus Zürich die erste gewählt, die Präsentation als Fragment. Ist die tote Dienerin von der Bühne getragen, tritt Schweigen ein und erscheint eine Schrifttafel mit den Worten Toscaninis von 1926.
Nur das zu spielen, was von der Hand des Komponisten stammt, erweist sich an diesem Abend als der einzig richtige Weg – wie er ja auch bei den neunten Sinfonien von Anton Bruckner und Gustav Mahler beschritten wird. Mit dem Finale im Libretto von Giuseppe Adami und Renato Simoni hatte schon Puccini seine liebe Mühe. Die Aufführungen mit einer der drei nachgereichten Schlussfassungen, auch der wesentlich subtileren von Berio, geben dem Komponisten Recht. Nach dem ausgedehnten, musikalisch aufgedrehten Ringen um die Macht – Turandot schlägt den Männern, die sie begehren, in einem grausamen Ritual die Köpfe ab, die zum Rätselspiel antretenden Prinzen suchen die Macht Turandots zu brechen –, nach dieser heftigen Geschichte setzt die Dienerin Liù mit ihrer Unbedingtheit, ihrer Zugewandtheit und Loyalität das entscheidende Zeichen. Ist es nicht so, dass es die Oper recht eigentlich legitimiert?
Auf der Ebene der musikalischen Gestaltung wird es in der neuen Zürcher «Turandot» in dieser Weise spürbar. Der Dirigent Marc Albrecht hat die instrumentalen Kräfte restlos im Griff. Er stellt den Farbenreichtum und die Exotismen der Partitur deutlich heraus und lässt der Philharmonia Zürich den Raum, die von Puccini intendierte Kraft zu zeigen, ohne dass freilich je einmal das Ohr strapaziert würde – das ist grosse Kunst. Und das Ensemble agiert auf denkbar hohem Niveau. Sondra Radvanovsky gibt die Prinzessin Turandot als eine durch ihr Trauma – sie lebt in der Erinnerung an eine missbrauchte Urahnin – regelrecht gefangengesetzte, durch Verfolgungswahn verzerrte Frau, und sie kann das dank einer grossartigen Expansionskraft und einem ebenso tragfähigen wie warmen Timbre. Ihr Vater, der gegen die hundert gehende Kaiser Altoum, ist mit Martin Zysset nach der Art des personal casting ideal besetzt. Das langjährige, verdiente Mitglied des Zürcher Opernensembles, lebendig agierend, hat die Stimme im Griff, aber das Material klingt dem Lebensalter angemessen. Der Prinzessin gegenüber steht Calaf, der von Piotr Beczała packend verkörpert wird; bewundernswert, was er an tenoraler Kraft einbringt, und «Nessun dorma» gelingt ihm herrlich. Ein besonderer Kranz gebührt jedoch der Italienerin Rosa Feola, die mit ihrer emphatischen Ausstrahlung die Dienerin Liù zur heimlichen Hauptfigur macht.
Auf einem etwas anderen Planeten bewegt sich das Team um Sebastian Baumgarten. Was der Regisseur, dem bei der Ausgestaltung der handelnden Figuren nicht das letzte Glück beschieden war, auf die Bühne bringt, ist von hohem optischem Reiz und öffnet vielfältige Assoziationsräume, erinnert im Ansatz aber ebensosehr an das Ausstattungstheater italienischer Provenienz – nur dass nicht mehr der Scala-Prunk von Franco Zeffirelli herrscht, sondern das moderne Angebot an visueller Technik. Die Bühne von Thilo Reuther gibt sich raumfüllend, und sie lebt von enorm vergrösserten Objekten, zum Beispiel von solchen, die dem Durchtrennen von Hälsen dienen können. Üppig auch die zum Teil grotesk überzeichnenden Kostüme von Christina Schmitt – der anregenden, auch erheiternden Schaulust sind hier keine Grenzen gesetzt, auch wenn auf den Videos im Hintergrund Bilder aus dem Ersten Weltkrieg gezeigt und damit nicht unwesentliche Bezüge zur Komposition und zur Instrumentation geschaffen werden. Warum die eisumgürtete Prinzessin Turandot ein gelb leuchtendes Kostüm trägt – vielleicht weil ihr erstes Erscheinen in einer Bienenwabe erfolgt? –, der emotional erhitzte Calaf dagegen einen mit Eiswürfeln gespickten Brustpanzer, darüber darf nach dem Schlussbeifall gerätselt werden. Keine Rätsel stellt der von Jan Kastelic vorbereitete, kräftig erweiterte Chor des Opernhauses Zürich. Er hat einen fabulösen Abend.