Haika Lübcke stellt das Piccolo ins Licht
Von Peter Hagmann
In wenigen Tagen schlägt wieder die Stunde des Piccolos – dann nämlich, wenn in der Basler Innenstadt um vier in der Früh die Lichter ausgehen und Dutzende von Cliquen, beleuchtet von ihren riesigen Laternen, mit Piccolos und Trommeln den «Morgestraich» anstimmen. An der Basler Fasnacht spielt die seit dem Mittelalter bekannte, in erster Linie mit der Militärmusik assoziierte Kleinflöte ihre ureigene Rolle. Nach den drei schönsten Tagen, die viele Basler in Rausch versetzen, verschwindet das Piccolo wieder in den Alltag des Sinfonieorchesters, wo das Instrument selten, dann aber meist gut vernehmbar in Erscheinung tritt.
Was im Piccolo wirklich steckt, das zeigt jetzt Haika Lübcke, die Vertreterin der hohen Töne im Tonhalle-Orchester Zürich und an der Zürcher Hochschule der Künste. Bei dem Schweizer Spezialitätenlabel Prospero hat sie eine (auch im Streaming verfügbare) CD vorgelegt, die das Piccolo in ungewöhnlichem Licht erscheinen lässt: in einer anregenden Zusammenstellung von Auftritten allein oder in Begleitung eines weitere Instruments. Einen roten Faden liefert der Satyr Marsyas, der eine von Athene weggeworfene Flöte aufhob und sie bald derart gut zu spielen verstand, dass er glaubte, sich mit Apollon höchstselbst messen können; das misslang allerdings so gründlich, dass der Gott dem Satyr die Haut vom lebendigen Leibe abziehen liess. Von der grausigen Strafe ist in der Werkfolge der CD glücklicherweise nicht die Rede, wohl aber vom Flötenspiel und dem waghalsigen Wettstreit. Ausgelegt wird dieser Faden in vielfältigsten musikalischen Formen. Zur Seite stehen der Künstlerin am Piccolo der Pianist Hendrik Heilmann und die Harfenistin Sarah Verrue, beide ebenfalls Mitglieder des Tonhalle-Orchesters Zürich, sowie Pamela Stahel als Duopartnerin auf dem Piccolo.
Herrlich, wie die beiden Musikerinnen ein heiter gelöstes, musikantisch perlendes Divertimento für zwei Piccolos von Bohuslav Martinů zum Besten geben. Nicht weniger packend ein frühes Divertimento dieses Komponisten für Piccolo und Klavier; es lebt vom virtuosen Ton der zwanziger Jahre und reicher Imagination. Zwischen diesen beiden Stücken «Marsyas» von Jan Novák, einem Schüler Martinůs. In fünf sehr charakteristischen Sätzen zeichnet das von 1983 stammende Werk für Piccolo und Klavier die Persönlichkeit des übermutigen Satyrs. Ebenfalls bei Martinů gelernt hat Vítěslava Kaprálová, die 1940, nur 25 Jahre alt, im französischen Exil starb; berührend ihre zwei kurzen Stücke für Piccolo und Klavier.
Dem tschechischen Schwerpunkt stehen ein rumänischer und ein italienischer Komponist gegenüber. In seiner dreisätzigen «Hommage à Marsyas» für Piccolo solo erkundet der 1979 geborene Gabriel Mălăncioiu ungewohnte Ausdrucksweisen für das Instrument – Haika Lübcke brilliert hier mit rhythmischem Aplomb und raschem Wechsel zwischen den Registern. Anders der Flötist und Komponist Leonardo de Lorenzo, der in seiner sinnlichen «Suite mythologique» hören lässt, wie der Ton des Piccolos gleichsam aus jenem der Flöte herauswächst; versteht sich, dass Haika Lübcke als Virtuosin auf dem Piccolo auch die Flöte mit glanzvollem Ton beherrscht.
Immer wieder überrascht die klangliche Spannweite des Instruments. Es kann die hohen Töne nicht bloss als Glanzlicht heraustreten lassen, es kann sie auch singen; und vor allem kann das Piccolo auch in tiefere Lagen gehen und dort seinen Reiz verströmen. Zu hören ist das nicht zuletzt in drei Werken des in New York lebenden Zürchers Daniel Schnyder. Für «Marsyas and Apollo», ein Auftragswerk von Haika Lübcke, wie für «Teiresias» kombiniert er das Piccolo mit der Harfe – ebenso sinnlich wie sinnreich. Und in «Baroquelochness», dem Schlussstein des CD-Programms lässt er, in einem Satz für Piccolo und Klavier, Johann Sebastian Bach dem Ungeheuer Nessie begegnen: Postmoderne im Sinne des Wortes.
Piccolo Legends. Werke von Daniel Schnyder, Bohuslav Martinů, Jan Novák, Vítěslava Kaprálová, Gabriel Mălăncioiu, Leonardo de Lorenzo. Haika Lübcke (Piccolo), Hendrik Heilmann (Klavier), Sarah Verrue (Harfe), Pamela Stahel (Piccolo). Pospero 0053 (CD, Aufnahme 2021, Publikation 2022).