Eine Traumwelt, gross und klein

Wagners «Siegfried» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Besonders süss: das ziemlich gewachsene Waldvögelein von Álfheiður Erla Guðmundsdóttir. Rechts neben Siegfried (Rolf Romei) der Kröte gebliebene Alberich (Andrew Murphy) / Bild Ingo Höhn, Theater Basel

Da sind sie wieder auf Natascha von Steigers Bühne, das mehrstöckige Haus, das als die Burg Walhall gelten mag, der kahle Baum, der sich vervielfältigt und zu einem mittleren Wald verdichtet hat, der ausladende Tisch, der die Küche Mimes ziert und später zum Brünnhilden-Felsen wird. «Siegfried», der zweite Tag und der dritte Teil in Richard Wagners «Ring des Nibelungen» am Theater Basel, bleibt den vom Regisseur Benedikt von Peter angesetzten Leisten treu. Die Tetralogie wird in einer Rückblende erzählt, als Erinnerung Brünnhildes, die wie alle Figuren des Geschehens in verschiedenen Lebensaltern, in diversen Stadien ihrer Existenz auf der Bühne erscheint: als Kind, als Mädchen, als junge Frau. Auch Siegfried ist in Person wie zugleich als Bub mit Hörnchen und Holzschwert anwesend. Der Ansatz des Regisseurs mag den Anspruch, den der «Ring» an den Zuschauer stellt, noch erhöhen; er übernimmt jedoch szenisch, was Wagner mit seinen immer wieder auftauchenden Rekapitulationen in seinem Text verwirklicht hat. Von den über sechzig Leitmotiven ganz zu schweigen.

Besonders ins Auge fällt die Präsenz der Opfer. Als überlebensgrosse Puppen aus der Wiener Werkstatt von Marianne Meinl stehen sie im Hintergrund der Bühne – stumm, aber nicht bewegungslos, denn zahlreiche Helfer hauchen ihnen eine Art Leben ein. Mächtig mit arg herabgezogenem Mund der Riese Fasolt, der um den Goldschatz aus dem temporären Besitze Alberichs erschlagen wurde. Der wiederum, der auf Rache sinnende Chef der Nibelungen (Andrew Murphy), kriecht als gefesselte Riesenkröte in Gold über die Bretter und weiss sich am Ende artig zu verbeugen. Siegmund und Sieglinde sind als Wolfspaar dabei, die drei Rheintöchter werden an Stangen durch die Lüfte geführt, wie es das alte Theaterlexikon zeigt. Das schafft enorm Atmosphäre. Wie einer Traumwelt kommt man sich vor oder wie in einem Märchen. Betont wird das durch den Auftritt des Waldvögeleins, das von der Kostümbildnerin Katrin Lea Tag als ein süsser roter Waldvogel mit Kirschkernbeisserschnabel und munter schlagenden Flügeln gezeigt wird – wunderbar, wie Álfheiður Erla Guðmundsdóttir immer wieder ihren Kopf dreht, um ganz so, wie es die Vögel tun, mit einem Auge auf den Boden zu blicken, und wie sie mit ihrem Schnabel den ahnungslosen Siegfried stupft. Und vor allem: Wie sie in ihrem kurzen Auftritt singt, mit heller Stimme und lieblichem Locken. Ein grosser Auftritt wie jener der Erda, für den sich die legendäre Hanna Schwarz hat verpflichten lassen – unerhört, was diese Grande Dame des Musiktheaters zustande bringt.

Zugleich ist mit dem szenischen Ansatz Benedikt von Peters jedoch ein bedeutendes Problem verbunden. Der Regisseur wünschte sich das Orchester nach der Art von Bayreuth versteckt. Die Mitglieder des übrigens blendend aufspielenden Sinfonieorchesters Basel sitzen unter der Bühne, im zugedeckten Orchestergraben und einem als «Garage» bezeichnet Raum unter den ersten Sitzreihen. In der Spielfläche selbst findet sich ein breiter Rost, aus dem der Klang des Orchesters nach oben dringt – aber eben nur nach oben und nicht wirklich in den Raum insgesamt. Die in grosser Besetzung angetretenen Musikerinnen und Musiker können darum geben, was sie zu geben haben, ohne dass sich jemand aus dem Vokalensemble bedrängt fühlen müsste. Nur ist es so, dass sich das szenische Geschehen weitgehend an der Rampe abspielt, was als Prinzip der Bühnendarstellung von vorgestern stammt – und was ausserdem dazu führt, dass das Vokale und das Instrumentale immer wieder spürbar auseinanderklaffen. Nicht dass das Orchester je zu laut oder zu leise wäre, es ist herrlich laut und subtil leise, doch die Stimmen stehen oft krass im Vordergrund und erhalten zu wenig Kontakt mit dem Instrumentalen. Das mag die zahlreichen Stimmfetischisten unter den Opernfreunden befriedigen, widerspricht aber der Intention Wagners, der das Orchester die Geschichte aktiv kommentieren, wenn nicht gar erzählen lässt.

Das ist keineswegs das Problem des Dirigenten Jonathan Nott, eines Wagner-Spezialisten der allerersten Garnitur. Wie weit die Interaktion zwischen dem Vokalen und dem Instrumentalen gehen und was sie, klar ausgeformt, bewirken kann, hat Nott anlässlich der konzertanten Aufführung der Tetralogie beim Lucerne Festival im Wagner-Jahr 2013 erleben lassen. Nott geht Wagners Musik mit jenem ausgebauten strukturellen Bewusstsein an, das etwa bei der von ihm ebenso kompetent gepflegten neuen Musik gefordert ist. Zugleich dirigiert er ganz aus dem Körper und aus seiner Sinnlichkeit heraus. Mit geschmeidigen Tempi und sorgsamen Phrasierungen hält er die musikalischen Verläufe in Fahrt, lässt er die rezitativischen Momente strömen und findet er zu einem Erzählfluss, der die vier Stunden Musik im Nun vergehen lässt. Dazu kommt eine kraftvolle, in einen enorm schönen Mischklang eingebundene Farbigkeit, die den Sängerinnen und Sängern ausgezeichnet zur Seite stehen könnte. Und von entschiedenem Interpretieren zeugt der wache Umgang mit den Leitmotiven, etwa mit dem Motiv der Riesen, das, wenn es im ersten Aufzug erklingt, gleichsam auf Samtpfoten daherkommt. Umso bedauerlicher, dass das alles das Ensemble nur bedingt erreicht.

Die Vokalsolisten hätten es mehr als verdient. In der Riesenpartie des Siegfried zeigt Rolf Romei mit seinem leuchtenden, ganz selbstverständlich sprechenden Tenor erstaunliches Profil. Als sein Gegenspieler Mime, der von vornherein zu den Verlierern gehört und zum Schluss seinen Kopf wie das Leben verliert, verbleibt Karl-Heinz Brandt etwas einförmig im Bereich des gellenden Ausdrucks. Einen durch und durch grossen Abend hat dagegen Nathan Berg mit seiner unerhörten Sonorität als der Wanderer – und als ein Chef des Familienclans, der auch nach der fatalen Begegnung mit seinem Enkel die Fäden in der Hand behält. Gewinnend auch Runi Brattaberg als Fafner, der liegt und besitzt, der zudem trinken wollte und zu seiner Überraschung auch Frass findet – nur ist leider die Empathie Siegfrieds gegenüber seinem Opfer völlig ausgeblendet. Schliesslich darf Trine Møller, die als Brünnhilde von Anfang an auf der Bühne stand, ihre tragende, aber nirgends übersteuernde Stimme erheben – in der demnächst folgenden «Götterdämmerung» wird mehr von ihr zu hören sein.

Wagners «Ring» nach Basler Art

Von Peter Hagmann

 

Brünnhilde (Trine Møller) klärt Sieglinde (Theresa Kronthaler) auf, Siegfried, noch ungeboren, aber anwesend, hört zu: «Die Walküre» im neuen Basler «Ring des Nibelungen / Bild Ingo Höhn, Theater Basel»

Nun hat der «Ring» auch Basel ergriffen – und wie. Anders als in Bern und Zürich, wo die Nibelungen seit der Spielzeit 2021/22 ihr Unwesen treiben, wird Richard Wagners Tetralogie am Theater Basel nicht einfach an und für sich gezeigt – was nach den gescheiterten Annäherungen im frühen und im späten 20. Jahrhundert für ausreichend Sensation gesorgt hätte. Nein, am Rheinknie erscheint der «Ring» eingebettet in ein Festival, das die Geschichte in einem Vorabend und drei Tagen sinnlich oder kritisch begleitet. Das greift freilich etwas hoch. Unter dem Titel «Rheinklang» gibt es vor den Aufführungen von «Rheingold» auf dem Theaterplatz ein «Chorritual» des Briten Matthew Herbert, das den Fluss, in dem das Gold lagert, zu den wartenden Zuschauern und den vorbeigehenden Passanten bringt.

Vor der grossen Treppe stehen fünf Schalen mit den brennenden Scheiten aus der «Götterdämmerung», vor einem Mikrophon finden sich schwarz gekleidete Sängerinnen und Sänger ein, die den Ton Es aus dem Vorspiel zu «Rheingold» intonieren; in der Folge schliessen sich ihnen Mitglieder aus dem Chor und dem Extrachor des Theater Basel an, die, in einer langen Kolonne die Feuerschalen umkreisen und ebenfalls das Es, bisweilen auch das dazugehörige B intonieren. Immer enger werden die Kreise, bis schliesslich alle das Wasser aus ihren mitgebrachten Gefässen über die starken Scheite in den Schalen giessen und eine dichte Rauchwolke aufsteigt. Eine Kürzestfassung der Tetralogie, die zwar Zusammenhänge schafft, in ihrem latenten Jekami-Charakter aber nicht mehr als nette Stimmung erzeugt, jedenfalls wirklich Substanzielles beisteuert.

Drinnen im Haus geht dann aber die Post ab – am einen Abend mit «Rheingold», am zweiten mit der «Walküre» (die Teile drei und vier folgen in der kommenden Spielzeit). Was hier sogleich ins Auge fällt, ist der bis auf einen kleinen Schlitz geschlossene Orchestergraben – ganz nach der Art des Bayreuther Festspielhauses. Das Sinfonieorchester Basel sitzt in grosser Formation nicht nur im Graben, sondern auch in der sogenannten Garage, einem Raum, der sich hinter dem Graben weit unter die Bühne erstreckt. Dort, wo sonst Bretter die Welt bedeuten, ist ein schwarzes Gitter eingefügt, durch das der instrumentale Klang in den Zuschauerraum findet. Die Kommunikation zwischen dem orchestralen Nibelheim und der Bühne wird mit Hilfe von Bildschirmen erzeugt. Unerhört voll und fasslich klingt das Orchester für den Zuhörer in der vierten Reihe; später, auf einem Platz hinten auf der Estrade, ändert sich wenig an diesem Eindruck. Saft und Kraft in aller Schönheit erzeugen die Streicher, aber auch die Hörner, während die solistisch hervortretenden Bläser, namentlich das Englischhorn, farbig schimmernde Linien aufscheinen lassen.

Das alles geschieht unter der Leitung von Jonathan Nott, der 1996 als junger Kapellmeister in Wiesbaden seinen ersten «Ring» dirigiert und im Wagner-Jahr 2013 mit einer konzertanten Aufführung der Tetralogie sensationellen Erfolg erzielt hat. Die Erfahrung ist zu hören. In Wagners Partituren kennt er sich eins zu eins aus; mit sicherem Gespür für die Tempi und ihre Verbindungen, mit instinktivem Gefühl für das Rauschhafte und zugleich mit untrüglichem Wissen um die Einzelheiten zieht er durch die beiden Abende: als ein genuiner Theatermusiker, der den Leitmotiven ihre Rechte lässt, sich aber nie bemüssigt fühlt, den belehrenden Zeigefinger auszustrecken. Alte Instrumente, wie sie diesen Sommer beim Lucerne Festival zu hören waren, haben ihren Reiz; in Basel ist zu erleben, dass es auch ohne sie zu spannenden Ergebnissen kommen kann.

Die spezielle szenische Konfiguration bildet die Basis für Musiktheater im Raum – denn Benedikt von Peter, Intendant des Theater Basel und, zusammen mit Caterina Cianfarini, Regisseur des Basler «Ring», ist ein Raumkünstler. Das hat er in verschiedenen, in ihrer Wirkung oft überwältigenden Inszenierungen, etwa mit Luigi Nonos «Prometeo» 2016 in Luzern oder in Basel 2020 mit «Saint-François d’Assise» von Olivier Messiaen, vor Augen geführt. In Wagners Tetralogie macht die Heranführung der Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne ans Publikum heran besonders Sinn und gehörig Effekt. Wer die bebenden Körper ganz nah vor sich sieht und dabei jedes Wort versteht, bekommt eine Ahnung davon, was Singen heisst – erst recht Singen auf der Bühne und Wagner-Singen. Indessen weist das Konzept zwei entscheidende Schwächen auf. Zunächst ist die Nähe natürlich nur in den ersten Sitzreihen wirklich erlebbar; wer seinen Sitz weiter hinten im Zuschauerraum vorfindet, für den bleibt die Nähe fern wie stets in der Oper – zumal die durch Natascha von Steiger konzipierte Einheitsbühne mit grossen Elementen, etwa einem mehrstöckigen Holzhaus als Sinnbild für die Burg Walhalla, arbeitet und den Blick in den Hintergrund zieht. Das führt zu einer deutlichen Ungleichbehandlung des Publikums.

Vor allem aber erhält in der Basler szenischen Einrichtung der Körperausdruck besonderes Gewicht – und der ist, wie stets bei Benedikt von Peter, handgreiflich, bisweilen jedoch nicht sonderlich differenziert ausgeprägt. Zwar setzt das die musikalische Vitalität fasslich in Gang und Geste um, zugleich aber steht es dem Werk Wagners im Weg. In den beiden grossen Streitgesprächen zwischen Wotan und Fricka in «Rheingold» wie in der «Walküre» verliert die hochstehende Schlagfertigkeit und dessen musikalische Umsetzung an Schärfe, weil zu viel szenische Betriebsamkeit herrscht. Mit seinem dunklen Timbre gibt Nathan Berg einen überherrischen und darum schon merklich angeknacksten Göttervater, der viel zu oft und viel zu stark auf den Tisch haut, während Solenn’ Lavanant Linke die Göttergattin packend singt, aber zu sehr mit Hysterie versieht. Auch der Loge von Michael Laurenz, stimmlich von hohem Format, wirkt überzeichnet. Rollendeckend dagegen die Erda der ehrwürdigen Hanna Schwarz und Frickas Schwester Freia, die für einmal nicht von einer Soubrette, sondern von Lucie Peyramaure mit ihrer pointierten stimmlichen Präsenz gesungen wird.

Das alles findet Platz in einer Inszenierung, die den «Ring des Nibelungen» als Rückblende, als Erinnerung Brünnhildes an ihr Leben, zu erzählen sucht. Wotans Lieblingstochter, Trine Møller bringt das mit farbenreicher Stimme, aber ebenfalls mit etwas heftiger Körpersprache zur Geltung, sieht ihren Vater, seinen zum Scheitern verurteilten Machtanspruch, ausgesprochen kritisch – ja, sie schildert es so, dass ihre Stiefmutter Fricka als Anführerin einer Verschwörung gegen Wotan erscheint. Immer wieder tritts Fricka hinter einer Wand hervor und fordert, ohne ein Wort zu singen, von ihren Untergebenen Donner (Michael Borth) und Froh (Ronan Caillet), ins Bühnengeschehen einzugreifen. Dieses Geschehen zeigt sich in einer Art Zeitlosigkeit, indem sich Ungleichzeitiges gleichzeitig ereignet. Die handelnden Figuren sind in ihren unterschiedlichen Lebensaltern gegenwärtig – Siegfried zum Beispiel mit einem Hörnchen am Gürtel und einem Holzschwert als Kind, auch als Jugendlicher. Das mag aufgesetzt wirken, denkt aber die dramaturgischen Ansätze Wagners weiter, denn durch die Leitmotive und die immer wieder eingefügten Rekapitulationen bleibt die Tetralogie über weite Strecken als Ganzes präsent.

Allerdings schafft die Basler Art der Bühnenerzählung für das Publikum auch Momente der Verwirrung und solche der Ablenkung. Zudem wird hier «Der Ring des Nibelungen», der von A bis Z durchkomponiert ist, durch unnötige, weil banale Zwischentexte unterbrochen. Dabei gäbe es reichlich genug zu erleben. «Rheingold» etwa als ein ins Grosse verlängertes Puppentheater, in dem die Rheintöchter wie in den ersten Inszenierungen der Tetralogie als an Stäben geführte Nixen erscheinen, während Alberich (der vorzügliche Andrew Murphy) als riesige Kröte herumhüpft und später als veritabler Drache aus den seitlichen Vorhängen hervorschnaubt. Oder in der «Walküre», mit Ric Furman und Theresa Kronthaler, Siegmund und Sieglinde als ein von Anfang an schwer gefährdetes Liebespaar. Artyom Wasnetsov gibt einen furchterregenden Hunding, Runi Brattaberg neben Thomas Faulkner als Fasolt einen nicht weniger schlagkräftigen Fafner, und Karl-Heinz Brandt macht als Mime auf die Fortsetzung im nächsten Herbst neugierig.

Von den Nibelungen, deren rhythmisch vertrackte Hammerschläge leider nicht sehr gut vernehmbar geraten, wird erzählt, sie gewännen das Gold in den Tiefen des Rheins und dort in Schluchten und Grüften. Fast in denselben Worten berichtet das die Basler Mission in einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden Schilderung ihrer Tätigkeit in Afrika. Dies im Rahmen eines dokumentarischen Theaterstücks von Regine Dura und Hans-Werner Koestinger mit dem Titel «Gold, Glanz und Götter» – einem Teil des Festivals zum «Ring». Es handelt vom globalen Wirken der Basler Handelsherren, die mit ihren auch den Sklavenhandel einbeziehenden Dreiecksgeschäften zwischen Europa, Afrika und Südamerika im Namen Gottes des Herrn mächtig Gold an die Gestade des Rheins gebracht haben. Davon die Rede ist zunächst in einem kleinen Raum im obersten Stock des Basler Stadttheaters, später dann, nach einem eiligen Gang durch ein endlos wirkendes Treppenhaus in die tiefste Tiefe des Materiallagers. Dort wird diese von heute aus peinliche Geschichte anhand vieler nicht ganz neu entdeckter, aber doch hochinteressanter Dokumente ausgebreitet. Und dort kommen auch wieder jene Messing-Gefässe zum Einsatz, die schon im «Chorritual» auf dem Theaterplatz zu sehen waren und die auf der Bühne als Rheingold den Körper Freias zudecken. Auch hier: Leitmotive. Aber solche der eigenen Art.

Krippenspiel und Ritual

Das Theater Basel wagt sich an Bachs «Matthäus-Passion»

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Ingo Höhn, Theater Basel

Muss es wirklich sein, die «Matthäus-Passion» auf der Opernbühne? Nun, so fern liegt es nicht, wenn man an die latente Dramatik von Johann Sebastian Bachs magistraler geistlicher Musik denkt. Und Versuche in diese Richtung der Interpretation gab es immer wieder, bis hin zur Aneignung durch den Choreographen John Neumeier. Aber eine Aufführung als Fest der »Community« unter Beteiligung von Kindern sowie Bürger- und Jugendchören aus Stadt und Region, ja selbst unter Mitwirkung des Publikums, das an zwei Stellen zum Mitsingen eingeladen ist – sieht das nicht sehr nach einer gutmenschlichen, wenn nicht gar populistischen Aktion aus?

Tatsächlich erscheint die «Matthäus-Passion» im Theater Basel auf den ersten Blick als ein monumentales Krippenspiel, denn die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu Christi wird von Kindern vorgeführt. Rührend wirkt das – und zugleich berührend, denn das szenische Arrangement, das Benedikt von Peter, der Intendant des Basler Dreispartenhauses, als Regisseur zusammen mit der Bühnenbildnerin Natascha von Steiger und einem grossen Team entwickelt hat, nimmt den ganzen Raum des Theaters in Anspruch und lebt so von einer eigenen Wirkungsmacht. Sitzplätze finden sich im Auditorium wie ihm gegenüber auf einer ansteigenden, weit in den Bühnenhintergrund reichenden Rampe. Das Orchester ist nach Vorgabe der doppelchörig konzipierten Partitur links und rechts von der Spielfläche platziert. Weitere Instrumentalisten finden sich im Hintergrund des Zuschauerraums wie jenem der Bühne; auch die Chöre klingen von allen Seiten her. Der Raum, mit dem Benedikt von Peter immer wieder gerne und bewusst arbeitet, umfasst alles und schafft Gefühle der Gemeinschaftlichkeit.

Vorne rechts André Morsch, der mit seinem klangvollen Bariton einen emotionalen, teils heftig aufbrausenden, teils zutiefst verzagten Jesus gibt, auf der linken Seite, von der Kostümbildnerin Lene Schwind schwarz gewandet wie alle musikalisch Mitwirkenden, Robin Tritschler als ein stimmlich vielfarbiger, plastisch und daher verständlich deklamierender Evangelist, der als Hilfsregisseur auf der Bühne unentwegt die grosse Gruppe der Kinder durchs Geschehen lenkt, hier liebevoll zugewandt, dort energisch. Allein, so niedlich das aussieht, so sehr fällt die Stilisierung auf – im Agieren der Kinder, aber auch in den Projektionen auf Bildschirme in der Bühnenmitte, die immer wieder zu Tableaux vivants gefrieren. Benedikt von Peter sieht die «Matthäus-Passion» nicht nur als ein geistliches Drama, sondern auch als ein Ritual, in dem Grundwerte unserer Gesellschaft bestätigt und bekräftigt werden.

Gebrochen wird das Ritual durch eine Volksschülerin mit blondem Haarschopf, die immer wieder störend und dazwischenrufend über die Bühne stürmt – eine Art Greta, die das Gezeigte und Vorgetragene mitnichten akzeptiert. Dem gebundenen und gedemütigten Jesus löst sie die Fesseln, gegen Ende warnt sie mit beschwörenden Rufen vor dem drohenden Zusammenbruch des Klimas, und wenn sich beim Schlusschor alles zum Schlafen legt, wirbelt sie die Bettdecken durcheinander. Ist der Schlussakkord verklungen, erscheinen einige der Kinder in Grossaufnahme auf den Bildschirmen und geben Stellungnahmen zum Zustand der Welt und der Gesellschaft ab. Die «Matthäus-Passion» als ein Spiel von Kindern für Kinder, denen hier Aug und Ohr für eine zentrale Tradition geöffnet werden, aber ebenso sehr als ein Spiel von Kindern für Erwachsene, denen der Spiegel vorgehalten wird. Vielleicht etwas viel Moral, doch keineswegs fehl am Platz.

Jedenfalls, zum befürchteten Krippenspiel wird der Abend nicht wirklich; er lässt vielmehr eine Produktion erleben, die konsequent durchdacht ist und in der künstlerischen Verwirklichung auf ambitionierte Professionalität setzt. Das Sinfonieorchester Basel tritt in kleiner Besetzung auf, mit modernen Instrumenten, aber in hohem Mass historisch informiert – wofür der Dirigent Alessandro De Marchi zu sorgen weiss. Durchwegs flüssige Tempi herrschen hier, prägnante Artikulation, sorgsamer Umgang mit dem Vibrato, bisweilen zugespitzte Expressivität. Zu sehr im Hintergrund bleibt der Generalbass, der neben den Orgeln auch Lauten kennt. Und nicht zu befriedigen vermag der von Michael Clark vorbereitete Theaterchor, der, gross besetzt, schwerfällig klingt und an der Premiere manch heiklen Moment des Zusammenwirkens durchlebte. Erstklassig dagegen das Solistenquartett mit der jungen Isländerin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir an der Spitze, einer erstaunlichen Sopranistin. Ihr zur Seite standen an der Premiere die ebenso bewegliche wie stimmgewaltige Altistin Beth Taylor, der Tenor Nathan Haller mit seinem hellen, klar zeichnenden Timbre und der Bass Christian Senn.

Gottvertrauen nach dem Ende – Messiaens «Saint-François» im Theater Basel

 

Von Peter Hagmann

 

 

Bild Ingo Hoehn, Theater Basel

Ein richtiges Ausrufezeichen sollte es werden, darum fiel die Wahl auf «Saint François d’Assise». Mit der ausladenden Oper Olivier Messiaens wollte Benedikt von Peter seine Intendanz und Operndirektion am Theater Basel einläuten. Das hat, denkt man die räumlichen Gegebenheiten und die Traditionen in der Musikstadt Basel, seine Plausibilität. Und die Planungen, vor zwei Jahren in die Wege geleitet, liefen ausgezeichnet – bis die Pandemie dazwischenkam. Aviel Cahn, der «Saint François d’Assise» als Schweizer Erstaufführung zum Abschluss seiner ersten Spielzeit am Genfer Grand Théâtre angesetzt hatte, musste Ende Juni der Theaterschliessungen wegen auf die Produktion verzichten. Benedikt von Peter in Basel blieb bei seinen Plänen und kam so nicht nur zu unerwarteter Ehre, er lieferte auch ein äusserst starkes Lebenszeichen aus dem so hochgradig gefährdeten Bereich des Musiktheaters. Der Preis, den er dafür zahlte, war freilich hoch.

Denn unter den derzeit herrschenden Voraussetzungen liessen sich die Vorgaben, von denen Olivier Messiaen in «Saint François d’Assise» ausgeht, in keiner Weise beim Wort nehmen. Sie sind exorbitant, und zwar nach allen Seiten. Das Publikum sieht sich mit einer Spieldauer von über vier Stunden konfrontiert, der Chor soll mit 150, das Orchester mit 120 Mitgliedern besetzt sein – alles unmöglich in Zeiten von Abstandsregel und Maskenpflicht. Das neue Basler Team bat daher den argentinischen Komponisten Oscar Strasnoy, über seinen Lehrer Gérard Grisey ein Enkelschüler Messiaens, um die Erstellung einer Kammerversion. Auf 42 Sänger ist der Chor verkleinert; er wirkt unsichtbar hoch oben im Schnürboden. 45 Mitwirkende umfasst das Orchester, das, auf der Bühne sitzend, geradezu als gross besetztes Solistenensemble erscheint. Reduziert wurden vorab die Mehrfachbesetzungen bei den Bläsern und den Streichern, während das wie oft bei Messiaen stark ausgebaute Schlagwerk sowie die heulenden Ondes Martenot ihre prägenden Rollen bewahren.

Die Einrichtung zeugt von hoher Kunst. Die Verkürzung der Spieldauer, sie ist, soweit sich das in einer einzigen Aufführung beurteilen lässt, nicht wirklich zu spüren. Und was der von Michael Clark betreute Theaterchor wie das Sinfonieorchester Basel unter der Leitung des fabelhaft präsenten Dirigenten Clemens Heil leisten, verdient alle Bewunderung. Die kompositorische Handschrift ist da, hörbar, erkennbar – und gleichwohl: Ist das noch das als Oper verkleidete Mysterienspiel Olivier Messiaens? Erhöht ist die Durchhörbarkeit, das steht ausser Frage. So lässt sich denn auch besser als bei der Grossbesetzung in die rhythmischen Vertracktheiten eindringen. Mehr Schwierigkeiten öffnen sich auf der Ebene der Klangfarben und ihrer Balance. In der Basler Fassung klingt Messiaens Partitur wesentlich monochromer, trockener, ja spröder als im Original – als ein Stück der Avantgarde von gestern.

Da liegt er, der Konflikt. An Olivier Messiaen kann man sich reiben – bis heute. Die von ihm nach dem Zweiten Weltkrieg vorangetriebene Schärfung des Denkens in Reihen hat die Serialität zum Herzstück der musikalischen Avantgarde Westeuropas werden lassen. Seine Neigung zu komplexen Rhythmen und aperiodischen Verläufen, zu denen er sich durch die Erkundung der Vogelgesänge inspirieren liess, war ebenso folgenreich wie der Umgang mit Klangfarben, der durch fernöstliche Praktiken genährt war. Allein, dass all das mit einem tiefen Glauben verbunden war, dass es sich zu einer Musik fügte, die sich als Gotteslob und nur als das verstand, davon wollten manche der diesseitigen, ganz dem technischen  Fortschritt verpflichteten Avantgardisten nichts wissen.

So erscheint es auch in der Basler Aufführung von «Saint François d’Assise». In den Hintergrund gerät durch die Reduktion auf eine Kammerfassung nämlich der enthusiastische Ton, der auf Messiaens authentischer Frömmigkeit beruht. Nichts kann dem Komponisten gross genug sein, um die Schöpfung und ihren Schöpfer zu lobpreisen, darum muss auch der C-Dur-Akkord am Schluss der Oper mindestens doppelt so lang ausgehalten werden, als es Clemens Heil anzeigt – beim Organisten Messiaen lässt sich das lernen. All die Momente der Freude, der Zuversicht auf die bevorstehende Auferstehung und das Erscheinen der endgültigen Wahrheit, all die Harmonien in Terz- und Quintlage wirken so, als wären sie ihrer Spitzen beraubt. Die im Spätromantischen wurzelnde Überwältigungskraft wird im Basler Programmheft mit einem Zitat des amerikanischen Komponisten Morton Feldman abgetan, der Messiaens Orchesterbehandlung als Disney-Kitsch bezeichnet. Das ist ein Missverständnis. Gerade in «Saint-François d’Assise» ist Messiaens Musik genuin katholisch, von Weihrauch umgeben. Was in der evangelisch-reformierten Basler Auslegung nur wenig spürbar wird.

Zumal das Bühnengeschehen in eine ähnliche Richtung wirkt. Als entschieden deutender Regisseur bekannt, hat Benedikt von Peter zusammen mit seinem Ausstatter Márton Ágh und dem Lichtdesigner Tamás Bányai seine eigene Bilderwelt entwickelt. Sie basiert auf einem Konzept, das den Raum als Ganzen in den Blick nimmt: die Bühne mit Hilfe von Rampen in den nur zu sechzig Prozent besetzten Zuschauerraum verlängert und umgekehrt Zuschauer auf der Bühne platziert. Als Ort des Geschehens dient ein verwahrloster städtischer Platz mit ehemaligem Warenhaus und verlassener Bankfiliale. Die Vögel auf der Hochspannungsleitung, die sich durch den Raum zieht, sind papierene Abbilder ihrer selbst – wir befinden uns in einer Situation fünf nach zwölf. Einzig ein Bettler und seine Spiessgesellen bevölkern die Szenerie. Nach und nach wird deutlich, dass der Bettler der Heilige ist, der mitten im Zerfall für Mitmenschlichkeit und Liebe steht. Die Botschaft der Inszenierung verleiht dem Stück Messiaens eine überraschend kritische Note.

Schade nur, dass der Regisseur die langen musikalischen Verläufe bisweilen mit ablenkendem Aktionismus stört. Der Effekt des grossen Vogelkonzerts im sechsten der acht Bilder zum Beispiel wird dadurch unnötig vermindert. Die Ausstrahlung der Akteure auf der Bühne ist aber von zutiefst berührender Wirkung. Nathan Berg, der viel kerniger, präsenter, gleichsam menschlicher singt als es der grosse José van Dam seinerzeit getan hat, lebt von packender Unmittelbarkeit. Und an der Spitze des ausgezeichnet besetzten Ensembles gibt Rolf Romei den Leprakranken, der von Saint François geheilt wird, mit einer Intensität sondergleichen. Zum Lichtpunkt des Abends wird jedoch die Erscheinung des Engels, der kein Engel ist, sondern ein junges Mädchen, das dem Heiligen bis zu seinem sehr menschlichen Tod beisteht. Was Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, die junge isländische Sopranistin, mit ihrem kristallklaren Timbre aus diesem Auftritt macht, gehört zum Besten des Abends.

Das Don Giovanni-Prinzip

Mozarts Oper im Theater Luzern

 

Von Peter Hagmann

 

Solenn’ Lavanant Linke als Donna Elvira auf der Luzerner Bühne / Bild Ingo Hoehn, Luzerner Theater

Immer wieder diese Handschuhe. Es sind weisse Lederhandschuhe, wie sie Auto(renn)fahrer zu tragen pfleg(t)en. Überlebensgross erscheinen sie auf der schwarzen Leinwand, herausgestreckt aus einem Gebüsch, und immer wieder schmiegen sich Frauengesichter in die lockenden Hände. Sie gehören Don Giovanni – der aber nicht sichtbar wird. Nie, kein einziges Mal. Die Hände scheinen vielmehr die unsrigen zu sein: die meinen, der ich hier schreibe, oder die Ihren, stolzer Zuschauer, schöne Zuschauerin. Möglich wird das durch die Mitwirkung von Bert Zander, einem Live-Video-Künstler der ersten Garde. Hinter einer schwarzen Leinwand, die einem nie geöffneten Vorhang gleich die Bühne verschliesst, ist eine Kamera versteckt; sie macht fürs Publikum sichtbar, was sich in der Nacht des Geschehens ereignet. Es ist die Nacht, in der Wolfgang Amadeus Mozarts Opera buffa «Don Giovanni» spielt.

Dies nicht in einem Kino, was die herangezoomten Gesichter annehmen liessen, sondern im Luzerner Theater, wo der Hausherr Benedikt von Peter am Werk war. Don Giovanni, so der Befund des Regisseurs nach dem Studium des Werks, sei als Figur nicht wirklich fassbar, als Person wirke er vielmehr wie abwesend. Er stelle eher eine Verkörperung von Prinzipien dar, wie sie allen Menschen eingeschrieben seien: Begehren, Triebhaftigkeit, Lust. Als Ansatz zu einer szenischen Deutung ist das so plausibel wie spannend. Absolut ungewohnt, überraschend und packend ist jedoch der Weg, den der Regisseur zusammen mit Katrin Wittig (Bühne) und Geraldine Arnold (Kostüme) für die szenische Umsetzung eingeschlagen hat. Es ist eine moderne Anwendung des uralten dramaturgischen Prinzips der Mauerschau, wo ein Vorgang indirekt vermittelt wird, indem er nicht konkret gezeigt, sondern in Form einer Erzählung rapportiert wird.

Der Erzähler ist in Luzern Leporello, der tatkräftig wahr macht, was er in der ersten Szene andeutet: dass er nimmermehr Diener, sondern fortan Herr sein und somit all das bekommen will, was die Herren haben, was den Dienern aber verwehrt bleibt. Leporello ist der wirkliche Don Giovanni – Vuyani Mlinde lässt es brillant sehen und exzellent hören. Vor allem insofern, als sein Timbre jenem von Jason Cox, dem hier kernig virilen, dort zart verführerischen Don Giovanni, ausgesprochen nahe steht. Und als er dieselben weissen Handschuhe trägt. Ein Kleidertausch, wie ihn Lorenzo da Ponte im zweiten Akt vorsieht, ist nicht nötig, ein spanischer Federhut reicht. Und nicht weiter erstaunt, dass sich der Diener einzelne Ausrufe, ja ganze Sätze seines Herrn zu eigen macht. Schliesslich rückt uns der Erzähler Leporello extrem auf die Pelle; ein Steg führt ihn über den Orchestergraben ins Publikum, wo er sich bisweilen durch die Stuhlreihen zwängt. Das steht für die Arbeit mit dem Raum, die zur szenischen Handschrift Benedikt von Peters gehört – wovon auch das Finale des ersten Akts zeugt. Dort nämlich sind die zum Hauptorchester dazutretenden Nebenorchester auf dem ersten Balkon platziert und in aller Klarheit zu vernehmen, weshalb das kalkulierte musikalische Durcheinander als solches voll zu erleben ist.

Überhaupt erhält Mozarts Partitur in dieser Produktion scharfes Profil. Unter der Leitung von Clemens Heil, dem Musikdirektor des Hauses, geht das Luzerner Sinfonieorchester seine Aufgaben äusserst temperamentvoll an. In ihren frischen Zeitmassen und ihren zugespitzten Farben gibt die Ouvertüre den Ton vor. Nicht zu überhören ist dabei, wie sorgfältig der Dirigent phrasieren und wie nuanciert er in den Streichern das Vibrato verwenden lässt. Bisweilen nimmt das Stürmische freilich penetrante Züge an, übersteigt der Ausdruckswille die doch auch feingliedrige musikalische Faktur. Im zweiten Akt ist das besser kontrolliert, öffnet sich auch Raum für Momente entspannten Ausschwingens. Besondere Aufmerksamkeit erregt Valeria Polunina am Hammerflügel; technisch und stilistisch souverän, dazu mit Phantasie begabt führt sie vor, dass Continuo-Spiel durchaus mehr sein kann als das einfache Klang-Klang von Akkorden, das es auch heute noch gibt. Witzig und verspielt nimmt sie eben erklungene Motive auf, führt sie weiter, verwandelt sie und wirft sie gegebenenfalls lustvoll dem Orchester zurück. Amüsant etwa der Beginn des zweiten Akts, wo Leporello soweit ist, den Dienst bei Don Giovanni endgültig zu quittieren. Auf der Leinwand sieht man den Darsteller dabei aus dem Theater auf den Vorplatz und weiter zur Reuss flüchten, was vom Hammerflügel mit einer sich immer schneller drehenden Sequenz untermalt wird – ein Musterbeispiel für musikalisch-szenische Interaktion.

Genau das ist es, was die Produktion über ihre spezielle Anlage hinaus auszeichnet. Der unsichtbare Don Giovanni ist Gift für alle, seine weissen Handschuhe wirken auf Männer wie Frauen. Das wird umso deutlicher, als diese Männer wie Frauen in denkbar lebhaftester Weise gezeichnet sind. Don Ottavio, um bei den Männern zu bleiben, erscheint nicht als ein weinerliches Weichei, von dem man gerne glaubt, dass ihn Donna Anna nicht wirklich haben mag, sondern als ein Intellektueller, der mehr begreift, als es den Anschein hat – mit seinem helen Tenor lässt Emanuel Heitz keinen Zweifel daran. Und Masetto tritt nicht als Tölpel auf, der weder gegen Don Giovanni noch seine Braut Zerlina eine Chance hat, Flurin Caduff gibt ihn vielmehr als einen selbstbewussten, auch zornigen jungen Mann. Warum Zerlina als Hürchen erscheinen muss, vermag ich nicht zu sehen, aber Diana Schnürpel singt und spielt so hinreissend, dass sich die Frage erübrigt. Mag sein, dass der Regisseur die junge Frau keinesfalls als schlaues Bauernmädel zeigen wollte – so wie für ihn Donna Anna nicht eine in ihren Konventionen gefangene Adlige sein mag. Der Versuch, dieser Figur einen emanzipatorische Zug zu verleihen, scheitert allerdings an den vokalen Möglichkeiten von Rebecca Krynski Cox, die eine für diese Partie viel zu schwere, zu wenig bewegliche Stimme einbringt. Sehr gelungen dagegen das Porträt von Donna Elvira – und das, obschon sich Solenn’ Lavanant Linke an der Premiere als erkrankt melden lassen musste. Erst in der letzten Arie bricht die mit dieser Figur gemeinhin verbundene Hysterie durch, davor erscheint Donna Elvira als die einzige wirkungsvolle Gegnerin Don Giovannis.

Wie dann Boris Petronje (Commendatore) mit seinem profunden Bass das Ende einläutet, gerät die Produktion in ein fulminantes Finale. Da blitzt sie noch einmal auf, die Vitalität, die Mozarts Stück von 1784 als hochgradig gegenwärtig vorführt. Und die manche Aufführung in Starbesetzung hinter sich lässt.

Musiktheater in Luzern als Spiel mit dem Raum

Verdis «Traviata» und ein literarisch-musikalisches Projekt bei Benedikt von Peter

 

Von Peter Hagmann

 

Die Salle Modulable ist tot, es lebe die Salle Modulable. Im Kopf von Michael Haefliger, dem Intendanten des Lucerne Festival, knistert die Idee weiter, obwohl der Versuch ihrer Verwirklichung vom Luzerner Kantonsparlament mit einem schnöden Federstrich zunichte gemacht worden ist. Wenn nicht in Luzern, dann vielleicht anderswo, sagt sich der Initiant – an dieser Maxime festzuhalten ist nicht verboten. Darüber hinaus aber hat die Idee einer Salle Modulable inzwischen durchaus zu einer Art Verwirklichung gefunden – in Luzern und just in dem Haus, das der Salle Modulable hätte weichen sollen. Als Benedikt von Peter im Spätsommer 2016 seine Intendanz beim Luzerner Theater antrat, tat er das mit einer spektakulären Produktion von Luigi Nonos Hörtragödie «Prometeo». Sie machte die Bühne und das Parkett, mit einem durchgehenden Boden versehen, zu einem den ganzen Raum umfassenden Spielort (https://www.peterhagmann.com/?p=742). So also kann man mit einer Guckkastenbühne auch umgehen, mochte man damals staunend gedacht haben. Das war allerdings nur der Anfang.

Verdis Monodram

Mit seiner Inszenierung von Giuseppe Verdis Oper «La traviata» ging von Peter noch einen Schritt weiter. Die 2011 in Hannover entstandene, zwei Jahre später in Bremen wiederaufgenommene und jetzt nach Luzern gebrachte Produktion hebt nicht nur die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum auf, sie lenkt auch die Aufmerksamkeit des Publikums und fokussiert sie mit einer radikalen Ausschliesslichkeit auf die Hauptfigur. Der Orchestergraben ist geschlossen, die Bühne bis hart an die Zuschauerreihen gezogen. Das Feld beherrscht die an Tuberkulose erkrankte Edel-Prostituierte Violetta – den ganzen, pausenlosen Abend lang allein, denn das übrige Personal der Oper ist in die Dunkelheit des Raums verbannt, es singt unsichtbar aus dem Off, genauer: vom zweiten Rang herunter. Umgekehrt ist das Orchester, das üblicherweise in den Graben versenkt und darum nur hörbar ist, in ganzer Besetzung sichtbar; es ist im hinteren Teil der Bühne aufgestellt, klingt weitaus direkter als sonst und partizipiert in deutlich erhöhtem Mass am Ereignis, zu dem dieser Abend wird.

Um das gleich noch zu Ende zu führen: Auch diesbezüglich, auch was die Anordnung der musikalisch-dramatischen Parameter betrifft, ist einiges fruchtbar auf den Kopf gestellt. «La traviata» gilt als Sängerinnen-, als Sängeroper par excellence. Im Normalfall der Rezeption verfolgt man das Stück mit geschärfter Aufmerksamkeit für die vokale Kunst; was instrumental dazugefügt ist, nimmt man hier eher beiläufig wahr. Das rückt dieser Abend ganz entschieden zurecht. Das Luzerner Sinfonieorchester spielt so grossartig, wie es seinem gewachsenen Ruf entspricht. Und Clemens Heil, der Luzerner Musikdirektor, der schon bei der Wiederaufnahme dieser «Traviata» in Bremen am Pult stand, hat das Geschehen nicht weniger souverän in der Hand als anfangs Saison bei «Prometeo». Wie die Holzbläser konzertierend eingreifen, was die Posaunen an (dynamisch durchaus kontrollierter) Schärfe beifügen, wie fahl (und damit in einem genuinen Sinn dramatisch) ein Col legno klingen kann, was der verminderte Todesakkord auslöst, wenn er ohne Vibrato gespielt und kristallklar intoniert wird – Wahrnehmungen solcher Art lassen ein Stück, das bekannt ist wie wenige, überraschend neu erscheinen.

Nicole Chevalier als Violetta Valéry in Luzern / Bild Ingo Hoehn, Luzerner Theater

Noch stärker, weil unglaublich drastisch die Überraschungen, mit denen Nicole Chevalier aufwartet. Sie ist nun also die einzige Darstellerin auf der Bühne, und sie gibt dort eine richtiggehende Performance. Das Stück ist ihr wohlvertraut, sie lebt es nicht, sie spielt es – will sagen: Sie steht immer einen Schritt neben der Partie, was sich etwa darin äussert, dass sie Textpassagen ihrer Gegenüber vom zweiten Rang mitflüstert. Oder ist es etwa umgekehrt? Ist sie vielmehr so restlos identifiziert, dass sie die Antworten, die sie von oben erhält, im Zuhören und Aufnehmen mitspricht? Beides mag sein. Wichtiger ist, dass die alles andere als idyllische, vielmehr hochgradig problematische Liebe, von der «La traviata» erzählt, in der Aufführung zusätzlich problematisiert wird – was aber keine Tautologie darstellt, sondern interpretierend einen Aspekt in der Aussage des Stücks hervorhebt. Tatsächlich stellt die handfest interpretierende Arbeit Benedikt von Peters, des Künstlerintendanten, in der Ausstattung von Katrin Wittig (Bühne) und Geraldine Arnold (Kostüme) ein Stück Regietheater dar: Regietheater vom Feinsten.

Der Regisseur sieht die stürmische Beziehung zwischen Violetta und Alfredo nicht als jenen dualen Vorgang, als den wir Liebe gemeinhin definieren, sondern vielmehr als eine Imagination, wenn nicht gar eine Projektion, die von der Darstellerin immer und immer wieder durchlebt wird. Das ist nun gründlich anders als jede hergebrachte «Traviata» – an die in Luzern bestenfalls noch ein Tablett mit Champagnergläsern erinnert. Anders geartet ist dieser Abend auch in der darstellerischen wie, vor allem, der musikalischen Intensität. «This is for you», ruft Nicole Chevalier zu Beginn und am Ende ins Publikum, und damit wir es auch wirklich mitbekommen, ist sie sich nicht zu schade, über die Armlehnen und die Köpfe hinweg ins Publikum zu balancieren und vor Ort singen. Hautnah kann der Kontakt da werden, der Zuschauer erfährt, wie sehr jede Faser des Körper am Entstehen des Gesangs teilhat. Tatsächlich ist Nicole Chevalier nicht nur eine unerhört packende Darstellerin, sondern auch eine hinreissende Sängerin. Kein einziger punktierter Verlauf gerät verwaschen, ihr Rhythmusgefühl ist hochgradig ausgeprägt – und es wird unterstützt vom Orchester, das fabelhaft präzis artikuliert, ohne je in teutonisches Skandieren zu verfallen. Die Vokale von herrlicher Farbenkraft, die Konsonanten mit hörbarer Lust ausgelebt. Und die Botschaft: so intensiv, dass einem der Atem stockt. Kein Wunder, springt das Publikum am Schluss wie ein Mann (oder eine Frau) von den Sitzen.

Obwohl sie aus dem Nirgendwo klingen, lassen die Partner Violettas wenig zu wünschen übrig – sollte das Stadttheaterniveau sein, kann man zur Neudefinition des Begriffs nur gratulieren. Kein Geringerer als Claudio Otelli gibt den Giorgio Germont, den strengen Vater Alfredos, der mit aller Unerbittlichkeit die geltende Norm wie die Ehre der Familie vertritt: mit einem Timbre, dessen glänzendes Metall durch jedes Mark und jedes Bein dringt, und einem Volumen, das der Scala würdig, hier aber klug gezügelt ist. Als Alfredo hält Diego Silva dieses Niveau nicht ganz; seine Technik ist formidabel, seine Stimme verfügt aber nicht über jene Vielfalt der Obertöne, die diese grandiose Partie erst zum Ereignis machen kann. Im übrigen herrscht auch im Ensemble bis hin zu dem von Mark Daver vorbereiteten Chor des Luzerner Theaters vorbildliches Niveau.

Max Frisch begegnet Gustav Mahler

Theater, zumal im Dreispartenhaus, heisst heute in Luzern etwas anderes als: Oper, Schauspiel und Ballett. Es heisst: Öffnung, Durchdringung. Öffnung des Raums oder Durchdringung der Sparten. Beides verwirklicht sich in dem Projekt «Der Mensch erscheint im Holozän», das der Dirigent Yoel Gamzou, der Regisseur Peter Rothenhäusler und die Dramaturgin Julia Reichert konzipiert haben. Auch hier sitzt das Luzerner Sinfonieorchester auf der Bühne, wenn auch in etwas anderer Aufstellung als gewohnt. In seiner Mitte muss nämlich ein Gang freibleiben für den Schauspieler Adrian Furrer, der Herrn Geiser sprechen lässt, so lange Herr Geiser sprechen kann – ja, Herrn Geiser aus Max Frischs Erzählung «Der Mensch erscheint im Holozän». In einer Nüchternheit sondergleichen schildert Frisch in diesem späten Text einen Witwer, der sich, in die Jahre gekommen, in seinem Tessiner Domizil gegen den Zerfall der mentalen Fähigkeiten stemmt und ganz beiläufig, als Leser realisiert man den Moment erst im nachhinein, einen Schlaganfall mit Sprachverlust erleidet.

Adrian Furrer und das Luzerner Sinfonieorchester in «Der Mensch erscheint im Holozän» / Bild Ingo Hoehn, Luzerner Theater

Wie die Sprache schwindet, setzt die Musik ein – mit Gustav Mahlers nur als Particell überlieferter Sinfonie Nr. 10. Natürlich nicht in einer der bekannten Spielfassungen für sehr grosse Besetzung. Yoel Gamzou hat, angesichts des Quellenbestands ist das legitim, eine eigene Fassung erstellt, die den Möglichkeiten des Orchesters auf der Bühne wie den Erfordernissen des kurzen, aber heftig einfahrenden Abends entspricht. Nach und nach versammelt sich das Orchester im Halbdunkel. Das entspricht dem Verlauf, der mit der zögernden, bebenden Einstimmigkeit des Beginns anhebt, dabei aber erst nach und nach zu festerer Kontur findet. Ist das Orchester versammelt, bricht sich die Verzweiflung Bahn: dröhnen aus dem zweiten Rang jene wahnsinnigen Schläge herab, die sich im Finale finden – Schläge, die das Schicksal dem Komponisten bereitgehalten hat. Und erklingt jener scharf dissonante Akkord aus neun Tönen, der sich ohne Zweifel an einer ähnlichen Tonballung im Adagio der unvollendeten neunten Sinfonie von Mahlers Lehrer Anton Bruckner orientiert. Eindrucksvoll ist das, auch wenn man sich, etwa von der opulenten Spielfassung von Deryk Cookes herkommend, an das aufgerauhte Klangbild im Luzerner Stadttheater erst gewöhnen muss.

Die Musik in ihrer hier besonders zugespitzten Emotionalität tritt an die Stelle der verschwundenen Sprache – so weit, so einleuchtend. Dies zumal das Fürchterliche, das «Der Mensch erscheint im Holozän» nach und nach erkennen lässt, von Frisch in eine Sprache von äusserster Lakonik gefasst ist. Einer Lakonik allerdings, die sich auf der Bühne wohl kaum vortragen lässt. Läse jemand die Erzählung Frischs mit lauter Stimme, er müsste es fast tonlos tun, weil nur dann Stil und Konstruktion des Sprachlichen zur Geltung kämen. Adrian Furrer, dessen sagenhafte Gedächtnisleistung nur bewundert werden kann, tut das gerade nicht. Er lädt die vorgetragenen Sätze aus der natürlich stark gekürzten Erzählung vielmehr mit Emphase auf und bannt so das Publikum, verstösst aber gegen die Idee des Textes, ja des Abends selbst. Die Heftigkeit, mit der Herr Geiser gegen den wachen Sinnes bemerkten, ebenso virtuos wie vergeblich bekämpften Abbau im Gehirn rudert, kommt zur Geltung; die hohe Artifizialität, in der Frisch mit dem Sujet umgeht, bleibt hingegen auf der Strecke. Gescheitert, muss man dem Projekt attestieren – um sogleich beizufügen: auf hohem Niveau.