Kunst ohne Macht? Milde ohne Schuld?

Milo Rau bringt «La clemenza di Tito» von Wolfang Amadeus Mozart auf die Bühne des Genfer Grand Théâtre

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Carloe Parodie, Grand Théâtre de Genève

Die Gebrauchsanleitung folgt ganz am Ende. Während das Sextett der Solisten, der Chor des Genfer Grand Théâtre und das Orchestre de la Suisse Romande, allesamt unter der Leitung von Maxim Emelyanychev, das Loblied auf den aufgeklärten, nicht an sich selbst und an der Erhaltung seiner Macht interessierten, vielmehr zulassenden und vergebenden Herrscher singen, erscheinen auf dem Bühnenhintergrund Sätze, die ein wenig nach der Art des epischen Theaters Bertolt Brechts zu erklären suchen, was Milo Rau mit seiner für die Genfer Oper entwickelten Produktion wollte: warum er sich «La clemenza di Tito», der späten Huldigungsoper Wolfgang Amadeus Mozarts, zugewandt hat und was er mit seiner szenischen Umsetzung mitteilen wollte.

Bedenkenswerte Sätze werden da in den Raum gestellt. Sätze über die Verbeugung Mozarts und seines Dramaturgen Caterino Mazzolà vor dem habsburgischen Kaiser Leopold II. und über die Ideale der Französischen Revolution. Über deren Scheitern und den darauffolgenden Übergang in die Restauration. Über die Verbindung des Bürgertums mit dem Adel zum Zweck der Machterhaltung. Über die Scheinheiligkeit der Empathie gegenüber unterprivilegierten Schichten – auch und gerade im Bereich der engagierten Kunst, welche die Unterschicht glorifiziere, um sie nicht am Wohlstand teilhaben lassen zu müssen. Über den Endzustand, in den eine Gesellschaft, welche die Ausübung von Macht und die Anwendung von Gewalt zu ihren Grundlagen zähle, unweigerlich gerate. Tiefster Kulturpessimismus exponiert sich da. Sich davon berühren, ja aufrütteln zu lassen, ist in diesen Zeiten der Pandemie, der Klimaerwärmung und der Despoten fürwahr am Platz.

Ob es bei «La clemenza di Tito» geschehen muss, das freilich darf nach der jüngsten Genfer Produktion – die Premiere wurde umständehalber nur im Internet gezeigt wurde und ist dort über die Plattform des Grand Théâtre noch bis zum 28. Februar verfügbar – ganz entschieden dahingestellt bleiben. Was Milo Rau bietet, ist Thesentheater, das nicht von vornherein schlecht sein muss, das aber nur im Rahmen eines freien szenischen Projekts zu gültiger Verwirklichung findet. Unter den Vorgaben, die eine Oper mit ihren durch die Musik definierten Zeitverläufen macht, neigen theatrale Formen, wie sie Milo Rau pflegt, fast zwangsläufig zu Beliebigkeit. Bei Christoph Marthaler ist es ähnlich; so treffende Projekte er auf die Bühne bringt, so wenig dringt er in Operninszenierungen zum Kern seines Künstlertums vor – bei Glucks «Orphée et Euridice» am Opernhaus Zürich (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 17.02.21) war es erneut zu beobachten. In Genf kommt dazu, dass der Regisseur das Stück selbst denunziert. «La clemenza di Tito» entstand zwar im Auftrag des Hofes als Verherrlichung eines Kaisers, schlägt sich in Wirklichkeit aber auf die Seite der Aufklärung. Diesen für eine Krönung im Jahre 1791 beispiellosen Schritt ex post als fehlgeleitet herabzumindern, ist billig.

Was ist denn zu sehen? Das Orchester belegt wie üblich den (hochgefahrenen) Graben, der Chor ist unter Einhaltung der Abstandsregeln im ganzen Raum verteilt. Die von Anton Lukas gestaltete Bühne zeigt das Interieur einer vornehmen Galerie mit entsprechender Besucherschaft; über der zweiflügligen Eingangstür prangt der Bildschirm, auf dem erläuternde Texte sichtbar werden, aber auch jene Videoeinwürfe, für die Moritz von Dungern zeichnet. «Kunst ist Macht» verkündet der Bildschirm jederzeit – eine jener zweifellos als Provokation gedachten Ausrufe, mit denen Milo Rau sein Publikum schüttelt und mit denen der Genfer Opernintendant Aviel Cahn sein Haus ins Gespräch zu bringen sucht. Ausserdem ein wohlfeiler Allgemeinplatz, denn Kunst braucht Geld, und Geld schafft Macht. Auf wessen Kosten das Modell funktioniert, lässt die Rückseite der drehbaren Bühne sehen. Dort ist ein Aufenthaltsort der Ausgestossenen aufgebaut – mit Haufen von Abfall, mit Mülltonnen, mit wenig stillen Ecken zum Pinkeln und mit grossformatigen Graffiti. Frauen und Männer sind es, Alte und Kinder, alle nicht der weissen Mehrheit entstammend.

«Everybody counts» sprayen zwei Junge auf einen riesigen Karton. Das wird beim Wort genommen, das Kollektiv der Figuranten wird als eine Versammlung von Individuen präsentiert. Immer und immer wieder werden die Darstellerinnen und Darsteller auf dem Bildschirm in Nahaufnahme herangezoomt und mit ihren Biographien vorgestellt. Erschütternde Schicksale treten da zutage; sie machen deutlich, dass hinter jedem Insassen dieses Elendslagers ein Mensch steht. Was diese Aktionen mit «La clemenza di Tito» zu tun haben, das freilich bleibt die Frage. Bisweilen erscheinen sie reine, als plakative, wider den Stachel löckende Illustration – und wer dazu die tief berührende Musik Mozarts hört, reist haarscharf an der Grenze zum Sozialkitsch. Erst recht gilt das für das Herz, das im Rahmen eines schamanischen Rituals einem Figuranten aus dem Leib geschnitten wird. Wie echt sieht es aus, es stamme aber, so der Regisseur gegen Ende der Oper, von einer Kuh; es steht für jenes andere Herz, nach dem der milde Kaiser auf dem Höhepunkt seiner Verzweiflung gerufen hat. Worin der deutende Mehrwert der krassen szenischen Metapher jenseits des blossen Effekts steht, darüber darf gerätselt werden.

Wie denn überhaupt von der Interpretation einer Oper kaum die Rede sein kann. Wie es die ganz auf ihre Subjektivität bezogenen Dirigenten und Pianisten der Spätromantik taten, setzt Milo Rau seine Weltsicht über die Vorlage, zu deren Deutung er eingeladen gewesen wäre. Im Ergebnis führt das zu einem Berg an Gedankensplittern und Assoziationen, welche die dem Abend zugrundeliegende Oper nur schemenhaft erkennen lassen; ausserdem beschert es dem Genfer Haus nach der verunglückten Produktion der «Entführung aus dem Serail» in der ersten Spielzeit Aviel Cahns (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 27.01.20) eine weitere Niederlage auf dem heiklen Terrain der Mozart-Pflege.

Ganz und gar auf der Strecke bleibt nämlich die Hauptsache, die Musik Mozarts. In den Rezitativen stark gekürzt – gut gekürzt, muss man sagen –, darf sie, wie in der «Entführung» vor Jahresfrist, nach der Art eines Soundtracks das aufgeblähte szenische Geschehen begleiten. Das ist umso bedauerlicher, als der Dirigent Maxim Emelyanychev eine bemerkenswerte Lesart der Partitur vorlegt. Der junge Russe stammt aus dem Umfeld von Teodor Currentzis, in dessen Ensemble er am Pianoforte mitgewirkt hat. Von seinem Mentor übernommen hat er den kreativen Umgang mit der historisch informierten Aufführungspraxis und die sprühende Energie, seine Phantasie ist aber weitaus delikater. Manche Tempi mögen etwas überzogen, da und dort auch leicht verhetzt wirken. Aber seine Achtsamkeit im Klanglichen hat sich voll auf das Orchestre de la Suisse Romande übertragen. Ausgezeichnet zusammengestellt auch das Ensemble mit dem ausstrahlungsmächtigen, wenn auch in der Höhe nicht immer freien Tenor Bernard Richter als Tito sowie mit Serena Farnocchia als Kaisertochter Vitellia und der blendenden Mezzosopranistin Anna Goryachova in der Hosenrolle des Sesto. Ihnen zur Seite Marie Lys als Servilia, Cecilia Molinari als Annio und Justin Hopkins als Publio. Beifall gab es ebenso wenig wie Protestrufe. Das ist vielleicht die spürbarste Einbusse einer Streaming-Premiere.

Türkisch, aber sehr anders

Mozarts «Entführung» mit Luk Perceval in Genf

 

Von Peter Hagmann

 

Belmonte und Konstanze mit ihren Begleitern in Genf / Bild Carole Parodi, Grand Théâtre de Genève

Guten Gewissens lasse sich «Die Entführung aus dem Serail» nicht mehr auf den Spielplan setzen, so eine weit verbreitete Ansicht. Sie betrifft natürlich nicht die Musik Wolfgang Amadeus Mozarts, wohl aber das Libretto von Johann Gottlieb Stephanie dem Jüngeren. Vom Mohrenland ist dort die Rede, von einem türkischen Harem wird berichtet, in dem ein lächerlich furchterregender Moslem zwei junge Frauen christlichen Glaubens gefangen hält, von einem grossmütigen Herrscher, der für eine andere, eine aufgeklärte Art Islam steht – und das alles vorgetragen im Ton einer harmlosen Komödie. Dass die durch Triangel und Glockenspiel unterstrichene Munterkeit auf Missverständnissen beruht, die weniger mit dem Stück als mit lange Zeit gängiger Aufführungspraxis zu tun hat, darauf hat Nikolaus Harnoncourt schon vor vierzig Jahren hingewiesen.

Für Aviel Cahn, der nach zehn Jahren erfolgreicher Tätigkeit an der Spitze der Oper von Antwerpen und Gent die Leitung des Genfer Grand Théâtre übernommen hat und dort durch alle Fenster frische Luft einziehen lässt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 06.05.19) – für Aviel Cahn ist eine Produktion der «Entführung» im Massstab eins zu eins ausgeschlossen. Turban, Pluderhose und Krummsäbel verblieben im Fundus, die Begegnung mit dem gefährlichen Türken vor den Toren der Stadt der belagerten Stadt Wien, der all jenen, deren er habhaft werden konnte, umstandslos den Kopf abschlagen liess, fand nicht statt. Das Stück erfuhr vielmehr eine zugespitzte, äusserst persönliche Interpretation – denn für die Inszenierung war kein Geringerer als Luk Perceval verpflichtet, der wie von ihm erwartet aus dem Singspiel des 18. Jahrhunderts ein szenisches Projekt der Jetztzeit machte. Und dies nicht nur mit Billigung, sondern mit aktiver Unterstützung des Dirigenten Fabio Biondi, der ans Pult des Orchestre de la Suisse Romande trat und dort für neue Töne sorgte. Das für seine konservative Haltung bekannte Genfer Premierenpublikum mochte das nicht goutieren; der Protest, der dem szenischen Team galt, war einhellig und heftig.

Ganz unverständlich ist es nicht. So undenkbar eine «Entführung» alten Stils heute ist, so wenig hat die Genfer «Entführung» neuen Stils mit der Oper Mozarts zu tun. Ausgelassen sind nicht nur zwei Arien Osmins und da Finale, gestrichen ist auch der gesamte Sprechtext, der im Singspiel an die Stelle der Rezitative tritt und das inhaltliche Gerüst der Oper bildet. Genau gleich war es bei der Produktion von Mozarts «Entführung» 2016 in der Oper Zürich (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 09.11.16), und so sind jetzt auch in Genf die Probleme dieselben wie damals. Auch wenn in beiden Produktionen der gestrichene Sprechtext durch Einfügungen anderer Art ersetzt wurde, so ergab sich doch hier wie dort der Eindruck, einem Arienabend beizuwohnen oder einen der zur Langspielplattenzeit beliebten Querschnitte aus dem Lautsprecher zu vernehmen. Wenn im zweiten Aufzug nach «Traurigkeit ward mir zum Lose», der Arie der Konstanze, unvermittelt die ebenfalls von ihr gesungene Martern-Arie folgt, fehlt eben doch, was die Abfolge der beiden musikalischen Nummern verständlich macht: die an Konstanze gerichtete Frage des Bassa Selim, ob sie sich nun für ihn habe entscheiden können.

Auf der anderen Seite denkt man natürlich mit wenig Vergnügen an die Sprechtexte, die bisweilen von des Deutschen unkundigen Sängern geradebrecht wurden. Das ist in der Genfer «Entführung» nicht der Fall. Dort wird zwar auch gesprochen, das aber in herrlichstem, über Lautsprecher verstärktem Französisch – und zwar von vier Schauspielern, die als Doubles zu den Hauptfiguren Konstanze und Belmonte, Blonde und Osmin treten. Françoise Vercruyssen, Joris Bultynck, Iris Tenge und Patrice Luc Doumeyrou denken in meist stillen Monologen über ihr Gestern, ihr Heute, ihr Morgen nach und setzen die Gedanken überaus eindrücklich in Körpersprache um. Bultynck, der als alt gewordener Belmonte auftritt, lässt das Aufziehen der Gebrechlichkeit herzerweichend sehen, während Doumeyrou den Osmin, mit Gipsfuss im Rollstuhl sitzend, als einen wildgewordenen, jeder Hemmung baren Randständigen zur Geltung bringt.

Verhandelt werden in der Inszenierung Luk Percevals neben einer enormen Fülle zeitgeistiger Anspielungen zwei der Themen, die von der «Entführung» angesprochen werden: die Entfremdung, zum Beispiel durch das erzwungene Exil, in das sich Konstanze und Blonde getrieben sehen, und die Sehnsucht, sei es die nach dem fernen, fehlenden Partner, sei es die nach einem inneren Kern des Daseins. Perceval übt scharfe Gesellschaftskritik – Kritik an der Hektik eines Lebens, in dem unablässig gestrebt wird: nach Erfolg und Anerkennung, nach Geld und Einfluss. So rennen in der Choreographie von Ted Stoffer die Mitglieder eines Bewegungschors ohne Unterlass um den monströsen, in seinem Innern mit einer strengen Anordnung von Tischen und Bänken versehenen Holzturm, den der Ausstatter Philipp Bussmann auf die ebenfalls intensiv genutzte Drehbühne gestellt hat. Sie haben keine Zeit für nichts, jeder ist für sich, das Alleinsein in der Masse greift um sich – Einsamkeit als Zeichen der Zeit. Die Hektik auf der Bühne steht allerdings in eigenartigem Gegensatz zu den Texten der türkischen, im deutschen Exil lebenden Autorin Aslı Erdoğan, die dem Regisseur ihren Roman «Der wundersame Mandarin» zur Verfügung gestellt hat. Aus diesem Band stammen die Texte zwischen, bisweilen auch zu den Arien und Ensembles. Da wäre es wieder, das Türkische, allerdings nicht im Gewand des reizvoll Exotischen.

Die Texte von Aslı Erdoğan erzeugen eine emotionale Anmutung von ausserordentlicher Stärke – nur: mit Mozart und seiner «Entführung» haben sie bloss am Rand zu tun. Sie nehmen Motive aus Mozarts Oper auf und fügen sie zu einem Bild ganz eigener Kraft – was so anregend wie problematisch ist. Dass nicht ganz untergeht, was an einem Abend mit Mozarts Oper die Hauptsache sein sollte, dafür sorgt der Dirigent Fabio Biondi. Mit einer Liebe sondergleichen geht er die Partitur an. Noch und noch dringt er in unerhörte Dimensionen des Ausdrucks vor, nuanciert er die Tempi, dass man einem atmenden, will sagen: lebendigen Körper gegenüberzustehen glaubt – das reine Gegenteil zu der mechanistischen, ja autistischen Herangehensweise, die Christian Curnyn bei Mozarts «Figaro» in Basel pflegt (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 22.01.20). Zugleich hat er das erstaunlich tief im Graben sitzende, weich artikulierende und warm klingende Orchester so aufgestellt, dass die couleur locale, wie sie sich im Schlagwerk äussert, zurückgedrängt wird zugunsten der kontrapunktischen Momente, die auch diese Partitur reich beleben.

Auf solcher Basis können sich die Sängerinnen und Sänger aufs Schönste entfalten. Als Konstanze bringt Olga Pudova, die aus der Schule des Marinsky-Theaters kommt, einen im Timbre fest gefügten, zugleich leichten, beweglichen und stilistisch sicher geführten Sopran ein – ihre fulminante Auslegung der Martern-Arie bildet gewiss den Höhepunkt des Abends. Ganz anders, wie es die Rolle eben verlangt, Claire de Sévigné als Blonde: eine helle Stimme und quicklebendige Darstellerin. Belmonte dagegen wirkt eigenartig zurückhaltend – vielleicht darum, weil Julien Behr seinen ebenmässigen Tenor doch zu sehr aufs Legato ausrichtet, was in diesem musikalischen Umfeld retrospektiv wirkt. Denzil Delaere meistert die einzige Arie des Pedrillo untadelig. Herausragend indessen Nahuel de Pierro, der einen sehr gezügelten, fast artifiziellen Osmin geben kann und dabei sein tiefes D sonor klingen lässt.

Da die originalen Sprechtexte getilgt sind, darf Bassa Selim zu Hause bleiben. Darum entfallen auch das finale Quintett und der Huldigungschor auf den gnädigen Herrscher. An ihre Stelle hat Fabio Biondi ein Duett Mozarts («An die Hoffnung», KV 309) und Ausschnitte aus «Ascanio in Alba» gesetzt, die dem melancholischen Abend ein stilles Ende setzen.