Schöne neue Musik

 

Peter Hagmann

Weiter Blick, farbiger Klang

«Glut» von Dieter Ammann, eine Uraufführung beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Elf Orchester und je drei Auftragskompositionen innerhalb dreier Jahre – das ist das Projekt «Œuvres suisses», das die im Verband «orchester.ch» organisierten Sinfonieorchester der Schweiz und die Schweizer Kulturstiftung «Pro Helvetia» verfolgen. 33 neue Werke für grösser oder kleiner besetzte Klangkörper kommen da zusammen, und sie sollen, so der fromme Wunsch, nicht nur von den Auftraggebern aus der Taufe gehoben, sondern auch für zweite und dritte Einstudierungen an die anderen Orchester weitergereicht werden. Mit im Boot ist zudem das Radio; SRF2 schneidet die Uraufführungen mit und stellt diese Aufzeichnungen dann für eine CD-Box zur Verfügung.

Das Projekt richtet sich an Komponistinnen und Komponisten, die den Schwerpunkt ihres Wirkens in der Schweiz haben. Seinen Anfang nahm es mit «Vergessene Lieder» von Nadir Vassena, uraufgeführt im Dezember 2013 durch das Orchestra della Svizzera italiana unter der Leitung von Ion Marin. Seither ist einiges geschehen, denn inzwischen stehen wir bei der Nummer 26, der «Erosion» von Martin Wettstein – die sinnigerweise am genau gleichen Abend vom Musikkollegium Winterthur vorgestellt wurde wie die Nummer 25, nämlich «Glut» von Dieter Ammann, herausgebracht vom Tonhalle-Orchester Zürich. Es lebe der Föderalismus.

Die Idee mag in Zeiten, da auch in künstlerischen Bereichen die nationalen Grenzen sich doch deutlich relativiert sehen, nicht ganz taufrisch wirken. Auch war nicht zu erwarten, dass das Projekt zu 33 Neuentdeckungen führt; es geht da mehr um eine Bereicherung des Repertoires auf der Basis des Status quo. Für Überraschungen bleibt aber gleichwohl Raum, wie das jüngste Werk Dieter Ammanns erwies. «Glut» ist ein wunderbares, in seiner Weise herrlich schönes, dabei ganz und gar gegenwärtiges Stück Musik – die Uraufführung mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und dem Dirigenten Markus Stenz unterstrich es.

Eine Tondichtung ist «Glut» nicht, dennoch gehen die Gedanken in diese Richtung. In seiner weiten räumlichen Anlage, seinem vielschichtigen Umgang mit klanglichen Flächen und den immer wieder einbrechenden Eruptionen berichtet das Stück durchaus von dem, was sein Titel andeutet – lässt es an eine glühende Feuerstelle denken. Die Energie ist da sozusagen zurückgenommen ins Innere des Glimmens. Ruhe und Bewegung herrschen zugleich; im selben Mass, in dem Liegendes und Flächiges dominieren, flackert es hier, schiesst dort etwas auf. Immer wieder verdichten sich die Kräfte, kommt es zu kurzen Flammenbildungen, bisweilen sogar zu Momenten repetitiver Bewegung.

All das ist mit beeindruckender Sicherheit der Formulierung, mit blendendem Sinn für die Dramaturgie der Abläufe und in souveränem Umgang mit dem grossen Orchesterapparat in Klang gesetzt. Natürlich ist die Dissonanz hier längst emanzipiert, steht sie nicht mehr in Abhängigkeit zur Konsonanz, in die sie sich auflösen muss, wir befinden uns ja im 21. Jahrhundert. Davon spricht auch der selbstverständliche Einbezug von Mikrointervallen, die zur Verdichtung des klanglichen Gewebes beitragen, sowie ausserdem, ja vor allem, der Einsatz eines üppig besetzten Schlagzeugs. Von ferne erinnert die phantasievoll ausgedachte Vielfalt der perkussiven Klangwirkungen an die «Notations» von Pierre Boulez. Zugleich und ebenso sehr kommt es zu betörend sinnlichen Akkordbildungen mit hinzugefügten Sexten und Nonen, wie sie Olivier Messiaen geliebt hat. Und lässt die Kunst der Instrumentation, zum Beispiel die Einbindung der tiefen Blechbläser in einen vielfach geteilten, sirrenden Streicherklang, an Richard Strauss denken.

So verbindet sich in «Glut» das starke Eigene des Komponisten Dieter Ammann mit der weiten Welt dessen, was den Komponisten (und somit uns) musikalisch umgibt – ohne dass aus den Anklängen eine Ideologie gemacht würde. Die unverkrampfte, geradezu spielerische Freiheit im Umgang mit bestehendem musikalischem Material und dessen Integration in die individuelle Handschrift, das erscheint als das eigentlich Zeitgemässe an diesem nur eine Viertelstunde dauernden, äusserst ereignisreichen Werk. Dass es der ebenso temperamentvolle wie in diesem Repertoire besonders erfahrene Dirigent Markus Stenz zusammen mit dem hochgradig engagierten Tonhalle-Orchester Zürich so plastisch zu formen verstand, dass er es in so kraftvoller Gestaltung Klang werden liess, sicherte der Uraufführung ihre Wirkung.

Danach gab es in einem mutigen Akt der Programmgestaltung das selten gespielte, unvollendet zurückgelassene Bratschenkonzert von Béla Bartók mit dem grossartigen Solisten Nils Mönkemeyer und eine sehr persönliche, kräftig zugreifende, in der Tempogestaltung attraktive Auslegung der zweiten Sinfonie, C-dur, von Robert Schumann. Wie sehr sich das Zürcher Orchester an einer starken und darum fordernden interpretatorischen Handschrift zu entzünden vermag, ist in der jüngeren Vergangenheit etwas in Vergessenheit geraten. Hier war es wieder einmal zu erleben.