In Amsterdam wird über das Musiktheater von morgen nachgedacht
Von Peter Hagmann
Inklusion, Diversität, Teilhabe, das sind die Stichworte der Stunde. Die Oper und erst recht das Konzert gelten in weiten Kreisen als Auslaufmodelle. Auf Bühne und Podium werde immer dasselbe in immer derselben Weise vorgeführt, während im Auditorium der Silbersee schimmere, die unbewegte Fläche grauer bis weisser Häupter. Zukunft sei da keine, heisst es, und fast macht es den Anschein, als fänden die pauschalen Diagnosen in den von der Pandemie durchgeschüttelten, jetzt erst langsam wieder zu einer Art Normalität zurückfindenden Häuser ihre Bestätigung. Wie weit sie der Realität entsprechen, mag hier dahingestellt bleiben.
Klar zu sehen ist jedoch, wie sehr sich die Stichworte der Stunde als Antwort auf die angebliche Krise der Institutionen verbreiten. Allenthalben ist die Rede davon, dass es hohe Zeit sei, ein jüngeres, mit der Musik als Kunst vielleicht nicht vertrautes Publikum anzusprechen, dass dringend die Tür zu öffnen sei für die Frauen und besonders solche nicht-weisser Hautfarbe, und dass das Intendantenmodell mit der ungeteilten Verantwortung an der Spitze eines Hauses der Vergangenheit angehöre, dass vielmehr Mitwirkungsmodelle und Teamarbeit greifen sollten – wie zum Beispiel im Theater Basel, dessen Schauspieldirektion nicht mit einer einzigen Person besetzt ist, sondern mit deren vier. Die Tatsache, dass es im Bereich der aufführenden Künste, aber keineswegs nur dort, nicht um Fragen des Lebensalters, des Geschlechts, der Herkunft geht, sondern in erster Linie um die Qualität von Idee und Ausführung, das wird weniger laut thematisiert.
Wer sich fragt, was die zeitgeistige Dreifaltigkeit von Inklusion, Diversität und Teilhabe für die Zukunft des Musiktheaters bedeute, kann seinen Blick nach Amsterdam wenden. Dort wirkt Sophie de Lint, die ab 2012 an der Seite des Intendanten Andreas Homoki als Operndirektorin in Zürich gearbeitet und immer wieder vorzügliche Besetzungen zustande gebracht hat. Auf die Spielzeit 2018/19 hin hat sie als Intendantin an die Niederländische Nationaloper gewechselt – in das in das 25 Jahre alte Muziektheater, wo die Oper zusammen mit dem Niederländischen Nationalballett residiert. Mit seinen grossen, hohen Fenstern im Halbkreis der auf die Amstel ausgerichteten Schaufassade steht das von Wilhelm Holzbauer und Cees Dam entworfene Haus für eine ganz eigene Offenheit. Vielleicht auch für eine Art jugendlicher Ausstrahlung, denn tatsächlich besteht De Nederlandse Opera als produzierende Institution erst seit 1964. Das sei Problem wie Chance zugleich, betont Sophie de Lint, und sie wird dabei sekundiert durch ihren Chefdirigenten, den 32 Jahre alten, aus Lausanne stammenden Lorenzo Viotti. Problem insofern, als Oper in Amsterdam keineswegs so eng in der Gesellschaft verwurzelt ist wie etwa in Mailand oder in Wien – will sagen: als das Publikum immer wieder aufs Neue verführt, herangezogen und bei der Stange gehalten werden muss.
Gerade daraus ergeben sich aber auch die Chancen, die dem Haus offenstehen. In Amsterdam muss wenig mit mit etablierten Hör- und Seherwartungen gerechnet werden – weshalb der Begriff von dem, was eine Oper ausmacht, von Offenheit lebt. Das hat schon der Regisseur Pierre Audi genutzt, der lange und erfolgreich tätige Vorgänger von Sophie de Lint. Zahlreich sind die Uraufführungen und die szenischen Experimente, die Audi teils in Kooperation mit dem Holland Festival gewagt hat. Ausserdem hat er das Opera Forward Festival eingerichtet, eine Experimentierstätte, welche die ästhetischen Gegebenheiten der Gattung befragt, aber klar darüber hinausgeht. Auf dieser Schiene fährt Sophie de Lint weiter, und sie tut es mit entschiedenem Engagement. In dieser Stadt mit ihrem Völkergemisch und ihrer starken Präsenz jüngerer Generationen, so betont sie, erweise sich die Orientierung an Themen wie Inklusion, Diversität und Teilhabe als der richtige Weg, das Publikum abzuholen. So stehen grosse Stücke aus dem Repertoire wie «La traviata», «Tosca» oder «Der Freischütz» neben Raritäten wie «Die ersten Menschen» von Rudi Stephan oder «Der Zwerg» von Alexander Zemlinksy, vor allem aber auch neben Novitäten wie «Upload» von Michel van der Aa oder «Denys & Katya» von Philip Venables. Dies letztgenannte Stück bildete Teil des Opera Forward Festival, das eben gerade stattfand und unter dem Titel «New Beginnings» stand.
«New Beginnings» – das war, so der Eindruck von einem Festival-Wochenende, vielleicht doch etwas gross gesprochen. Zeugt der Auftritt der hervorragenden jungen Mezzosopranistin Katia Ledoux, die später am Abend auf der Bühne stand, zuvor jedoch im Foyer dem Publikum auf den Treppen Popsongs vortrug, tatsächlich von einem Neubeginn? Und dies zu Zeiten, da Jonas Kaufmann mit einer CD brilliert, auf der er beliebte Weihnachtslieder um Besten gibt? Spannender war die Performance, die der Regisseur Gregory Caers unter dem Titel «Dwars» mit Studierenden einer Amsterdamer Theaterakademie im Muziektheater entwickelt hat. Das Publikum sass in längs gerichteten, einander gegenüber aufgestellten Reihen auf der Bühne. Zwischen den beiden Gruppen verlief eine Gasse, durch die zu elektronischen erzeugten Rhythmen junge Frauen und Männer von der einen Seite zur anderen gingen, liefen, rannten. Nach und nach nahmen die Zusammenstösse zu, steigerte sich die Aggressivität, bis die ersten, schliesslich alle erschöpft, um nicht zu sagen: tot zu Boden fielen. Nicht ohne Effekt war die szenische Konkretisierung einer einfachen Idee, die an Peter Handkes wortloses Schauspiel «Die Stunde da wir nichts voneinander wussten» erinnerte. Und nicht ohne Schmerz der Hinweis auf den Krieg, der diese Tage so nachhaltig bestimmt.
Ein besonders gewagtes Projekt trug den Titel «I Have Missed You Forever». Im Zentrum stand ein Themenkreis um Verlust, Tod, Trauer. Und die Besonderheit bestand darin, dass in dieser Produktion der Teamgedanke radikal umgesetzt wurde. Acht Konzeptdenker, fünf Textautoren, fünf Komponisten und zwanzig Darsteller, überall Frauen wie Männer, auch Menschen unterschiedlicher Herkunft, waren beteiligt. Sie fügten sich in eine Performance, bei der es, wenigstens anfangs, um den Abschied ging, zum Beispiel um den von einer Mutter. Für die Realisierung wurde der Zuschauerraum in der hübschen Stadsschouwburg von 1894 völlig umgebaut und zur Spielfläche verwandelt. Getanzt wurde da, gesprochen, gesungen, gespielt – alles zumindest scheinbar aus spontaner Eingebung heraus. Erst rituell gezügelt, später zunehmend frisch und fröhlich, laut und heftig. Die eineinhalb Stunden Spieldauer gerieten freilich zu einer Geduldsprobe eigener Art. Das Ding drehte sich um sich selbst, blieb im Text unverbindlich und fand im Musikalischen zu keinerlei Profil. Wenn das die Zukunft sein, wenn das für eine neue Qualität stehen soll, bitte sehr.
Trost brachte eine ganz und gar konventionelle, wenn auch in jeder Hinsicht hervorragend gemachte Oper auf der Guckkastenbühne: «Eurydice – die Liebenden, blind» von Manfred Trojahn. Die zweite Vorstellung nach der eine Woche zurückliegenden Uraufführung fand an einem lichtdurchfluteten, nach Frühling duftenden Sonntagnachmittag statt, zog aber Publikum in Massen an und stiess auf helle Begeisterung. Trojahn, der sich das Libretto selbst geschrieben hat und sich dabei durch den Gedichtzyklus «Die Sonette an Orpheus» von Rainer Maria Rilke inspirieren liess, erzählt den Mythos nicht neu, kleidet ihn aber doch in Gewänder der Jetztzeit. Zwischen Orpheus und Eurydike – bei Trojahn heisst sie Eurydice – herrscht ein komplexes Beziehungsgeflecht; sie erinnert sich an die Vorzüge und die Nachteile anderer, in der Gestalt Plutos erscheinender Liebhaber, er wird von Proserpina begeht, die unter dem harten Griff ihres Gatten leidet. Vielschichtig spannend ist das. Und es wird getragen von einer wunderschönen, meisterlich gefertigten Musik. Von Musik unserer Zeit.
Zu erleben war es, weil das Nederlands Philharmonisch Orkest unter der Leitung von Erik Nielsen die gerade in den ausgebauten tiefen Lagen, das Stück spielt schliesslich im Hades, unerhört farbenreichen Klänge mit aller Sensibilität zur Geltung brachte. Und weil sich Andrè Schuen (Orpheus), Julia Kleiter (Eurydike), Thomas Oliemans (Pluto) und Katia Ledoux (Proserpina) von bester Seite zeigten und ein absolut stimmiges Ensemble bildeten. Geradezu spektakulär jedoch die Inszenierung von Pierre Audi in der Ausstattung von Christof Hetzer und im Lichtdesign von Jean Kalman. Virtuos spielt das szenische Team mit der Weite und der schwarzen Leere der Bühne; es belebt das Geschehen mit grossen, aussagekräftigen Elementen, bleibt zugleich aber sparsam in der Bewegung der Akteure. Da ist es wieder, das choreographisch gedachte und gleichzeitig sprechende Bildertheater, mit dem der Regisseur Pierre Audi bis hin zu Wagners «Ring des Nibelungen» 1997/98 seine Ära an der Spitze der Niederländischen Nationaloper geprägt hat. «New Beginnings» fanden hier vielleicht nicht statt; Inklusion, Diversität und Teilhabe blieben als Themenkreise aussen vor. Aber vergessen wird man die Produktion nicht so rasch.