Entdeckungen, Überraschungen

In den Schweizer Konzertsälen herrscht Leben

Von Peter Hagmann

 

Biel – und Joseph Lauber

Sechs Sinfonien hat er geschrieben, keine einzige ist bekannt, keine wird gespielt. Wie bedauerlich das ist, lässt sich jetzt allerdings nachprüfen – und vielleicht hat das Folgen. Denn das Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn und sein Chefdirigent Kaspar Zehnder haben es sich zusammen mit dem von Graziella Contratto geleiteten Label Schweizer Fonogramm zur Aufgabe gemacht, Joseph Lauber der musikalisch interessierten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Lauber? Nie gehört, noch vergessener als Joachim Raff oder Hans Huber. Dabei waren die Voraussetzungen nicht schlecht: Als Sohn eines Schneidermeisters im Luzerner Hinterland geboren und bei Neuchâtel aufgewachsen, konnte Joseph Lauber (1864-1952) dank einem von den Chocolatiers Suchard gewährten Stipendium in Zürich bei Friedrich Hegar, in München bei Josef Gabriel Rheinberger und in Paris bei Jules Massenet studieren. Bald zog es ihn nach Genf, wo er am Theater als Kapellmeister wirkte und am Konservatorium Komposition unterrichtete – zu seinen Schülern, allerdings auf privater Ebene, zählte auch Frank Martin. In der Schweizer Musikszene wurde seine Stimme gehört, die grosse Karriere suchte er jedoch nicht. Dafür schrieb er über zweihundert Werke, die in der Universitätsbibliothek Lausanne aufbewahrt werden.

Mit Hans Huber, dessen Name immerhin noch einen Basler Konzertsaal ziert und dessen Sinfonien in den 1990-er Jahren von dem schwedischen Label Sterling vorgelegt wurden, teilt Joseph Lauber die Verankerung in der deutschen Spätromantik und die Nähe zu Johannes Brahms – wobei Laubers Musik durchaus auch französische Farben kennt. Seine sechs Sinfonien, zwischen 1895 und 1918 mit einem Nachzügler 1949 entstanden, gehören zum Anregendsten aus dem Bereich der Schweizer Musikgeschichte vor dem Ende des Ersten Weltkriegs. In ihnen verbindet sich ästhetische Weltläufigkeit mit dem Duft der Heimat – eigenartig schweizerisch, jedoch ohne eine Spur ohne Enge klingt diese Musik. Und leicht geht sie ins Ohr, denn das Material ist geschickt erfunden und ebenso geschmeidig wie vielschichtig verarbeitet.

Auf den drei Compact Discs von Schweizer Fonogramm lässt sich das ausgezeichnet nachvollziehen. Nicht zuletzt dank der hervorragenden Aufnahmetechnik von Frédéric Angleraux. Schweizer Fonogramm sieht sich als «ein Label von Musikern für Musiker». Im Vordergrund stehen Sachbezogenheit und Qualitätsanspruch, wovon auch die informativen Booklets zeugen. Ausserdem wird konsequent an der Studioaufnahme und an der CD als netzunabhängigem Tonträger festgehalten, obwohl die Aufnahmen, wenigstens zum Teil, auch im Internet greifbar sind. Zentral bleibt jedoch die interpretatorische Qualität. Das Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn zeigt sich von allerbester Seite, es legt Zeugnis ab von dem erfolgreichen Weg, den es mit Kaspar Zehnder in den vergangenen zehn Jahren zurückgelegt hat. Jetzt strebt der Chefdirigent nach neuen Ufern. Unter seiner Leitung hat das Orchester einen deutlichen Qualitätssprung vollzogen, das war in vielen der unter schwierigen Bedingungen, zum Beispiel in engen räumlichen Verhältnissen entstandenen Opernproduktionen zu erfahren, das war auch im Abschiedskonzert Kaspar Zehnders zu hören (hier vermerkt als Abend in dem wunderschönen Konzertsaal von Solothurn). Sehr bildhaft die Rumänische Rhapsodie Nr. 2 von George Enescu, farbenreich und brillant die «Nächte in spanischen Gärten» von Manuel de Falla mit der virtuosen Pianistin Judith Jáuregui, vital und klangschön die Achte Sinfonie Antonín Dvořáks. Der Leistungsausweis darf gezeigt werden.

 

Zürich – Streichquartett im sakralen Raum

;on wegen «Konzertsaal»: In Zürich wird für manches Konzert, für Kammermusik zumal, nicht die Kleine Tonhalle gemietet, sondern in die Kirche St. Peter ausgewichen. Der barocke Raum verfügt über eine reiche, füllige Akustik, die gerade das Streichquartett herrlich umhüllt, ohne die Transparenz zu erschweren. Eben erst bestätigte es sich wieder in einem der vier Quartettprogramme, welche die von Jürg Hochuli betreute Neue Konzertreihe Zürich von Frühsommer bis Frühherbst in St. Peter anbietet. Angesagt war das Schumann-Quartett, eines der berühmtesten unter den Ensembles jüngerer Generation. Es hat einen neuen Bratscher; Veit Herstenstein heisst er, und er passt haargenau zu den drei Brüdern Erik Schumann (Erste Geige), Ken Schumann (Zweite Geige) und Mark Schumann (Cello). Hertenstein passt darum so gut, weil er als Kammermusiker äusserst aktiv mitwirkt. Mit seinem kernigen Ton und seiner pointierten Artikulation verhilft er zusammen mit dem ohnehin aussergewöhnlich präsenten Sekundgeiger den Binnenstimmen zu einem Profil, das dem musikalischen Geschehen im Quartett spannendes Gleichgewicht verschafft. Nicht Erste Geige und Cello geben den von Zweiter Geige und Bratsche grundierten Ton an, alle vier gemeinsam tun es – das trifft man in dieser Ausprägung nicht alle Tage.

Geschwister auch im Programm: Fanny Hensel, geborene Mendelssohn, ging ihrem gut drei Jahre jüngeren Bruder Felix Mendelssohn Bartholdy auf dem Weg der Musik voran. Eine schöne Idee, die in der Verwirklichung jedoch nicht aufging. Fanny Cäcilie Mendelssohn Bartholdy hatte es bekanntlich nicht leicht. Als Frau blieb ihr die musikalische Laufbahn versagt, nämlich von der Familie untersagt, und als Künstlerin stand sie hinter ihrem Bruder zurück. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht, wie ihr Streichquartett in Es-dur von 1834 ahnen liess. Die Begabung ist klar zu hören, zugleich schliesst das Werk aber auch immer wieder und unverkennbar, in einzelnen Wendungen wie im Tonfall, an das neun Jahre zuvor entstandene Streicherokett in Es-dur des Bruders an. Dennoch setzte sich das Schumann-Quartett mit Verve für Fanny Hensel ein, besonders in der Romanze des dritten Satzes, in der die Viola voranging. Mit mehr Erfolg tat es Ensemble beim späten, nach dem Tod der Schwester komponierten Streichquartett in f-moll von Felix Mendelssohn Bartholdy. Die Interpretation orientierte sich eindeutig an der biographischen Situation, das geradezu orchestrale Forte, zu dem das Schumann-Quartett in der Lage ist, bot es an; ein weiter Bogen spannte sich zwischen dem zornigen Tränenausbruch im Kopfsatz und dem Grabgesang im Adagio. Beispielhafte Kammermusik war das. Am 21. August folgt das Pavel Haas-Quartett, am 11. September das Simply Quartet.

 

Basel – weiterhin im Aufbruch

Besonders quirliges Leben herrschte im grossartig renovierten Musiksaal des Basler Stadtcasinos, in dem das Sinfonieorchester Basel zusammen mit dem Gastdirigenten Jukka-Pekka Saraste zum Abschluss seiner sinfonischen Saison auftrat. Gut gefüllt der Saal und besetzt mit auffallend vielen jungen Menschen – wie schaffen das Hans-Georg Hofmann als Künstlerischer Direktor und Franziskus Theurillat als Orchesterdirektor? Vor mir drei Girls, die Mahlers Erste gewiss noch nie gehört hatten, die nach den Beckenschlägen aufgeregt wisperten und beim stürmischen Einsatz des Finales nach dem gemessenen Trauermarsch des dritten Satzes sichtbar erschreckten – die aber das Gebotene mit aller Aufmerksamkeit aufnahmen und heftig applaudierten. Ach ja, es wird bald aussterben, das Sinfoniekonzert…

Auch auf dem Podium wird in Basel das Gegenteil bewiesen. Das Sinfonieorchester Basel lebt weiterhin im Zeichen des Aufbruchs, obwohl (oder gerade weil?) sein Chefdirigent Ivor Bolton mehr durch Abwesenheit glänzt als durch das Gegenteil. In seiner Existenz als freies, wenn auch von der öffentlichen Hand unterstütztes Orchester gibt es seine zehn bisweilen doppelt geführten Abonnementskonzerte, bietet es aber auch ein breites Spektrum an Konzertformaten anderer Art, in denen es direkt auf sein angestammtes Publikum zugeht und gleichzeitig neue Hörerschichten anzusprechen sucht. Vor allem aber erwies es bei seinem Saisonbeschluss (vor einem wegen der Pandemie verschobenen Chorkonzert mit Hans Hubers Oratorium «Erfüllung und Weissagung» am 20. August) seine anhaltend hochstehende Form, und zwar in klanglicher wie in technischer Hinsicht.

Ganz eng an der Seite des Solisten Steven Isserlis stand das Sinfonieorchester Basel beim Cellokonzert von William Walton, einem für kontinentaleuropäische Ohren etwas seltsam wirkenden und dementsprechend selten gespielten Werk. Was Isserlis, ein Ausdrucksfanatiker erster Güte, aus der Partitur herausholte, wie er aus ihrer Schrägheit kein Hehl machte und, umgekehrt, ihre Kantabilität zu ungeschmälerter Wirkung brachte, war schon eindrücklich genug. Vollends trat das aber bei der Sinfonie Nr. 1, D-dur, von Gustav Mahler heraus, die Jukka-Pekka Saraste in gelassener Souveränität, dabei aber mit allem Temperament anging. Und als im Finale die Hornisten nicht nur ihre Schalltrichter in die Höhe hoben, sondern sich, wie es der Komponist verlangt, von ihren Sitzen erhoben, gab es sogar Ungewöhnliches zu sehen.

Wenn die Jungen mit den Alten

Neues Glück beim Carmina-Quartett

 

Von Peter Hagmann

 

Über Jahre hinweg verlief das Wirken des Carmina Quartetts auf Bahnen kontinuierlichen, ja wachsenden Erfolgs – wovon die solide Verankerung im Konzertbetrieb und eine reiche Diskographie zeugen. In jüngerer Vergangenheit musste das 1984 gegründete Streichquartett jedoch zwei harte Schicksalsschläge hinnehmen. 2016 erlitt sein Cellist Stephan Goerner einen Hirnschlag, der ihm die weitere Mitwirkung im Quartett verunmöglichte. Und im Jahr darauf verstarb Susanne Frank, zweite Geigerin im Ensemble, nach schwerer Krankheit. Das Quartett sah sich auf den Primgeiger Matthias Enderle und die Bratscherin Wendy Champney reduziert und vor die Frage gestellt, ob es unter solchen Umständen noch weitergehen könne. Alles sehr traurig.

Allein, es geht weiter, denn es gab Nachwuchs, sogar Nachwuchs aus den eigenen Reihen. Chiara Enderle, die Tochter von Matthias Enderle und Wendy Champney, ist eine fantastische, hochmusikalische Cellistin und eine leidenschaftliche Kammermusikerin. Sie ist 2018 ins Carmina Quartett eingetreten – zusammen mit der neuen Geigerin Agata Lazarczyk, die wie ihre gleichaltrige Kollegin Chiara Enderle an der Zürcher Hochschule der Künste gelernt hat und heute ad interim auf einer Konzertmeister-Position im Sinfonieorchester St. Gallen tätig ist. Andere Quartette haben sich nach Einbrüchen in der Besetzung aufgelöst, das Alban Berg Quartett zum Beispiel, das 2005 seinen Bratscher Thomas Kakuska verloren und sich drei Jahre später vom Konzertpodium verabschiedet hat. Das Carmina Quartett dagegen hat die heikle Situation mit einem sozusagen weichen, offenbar problemlosen Generationenwechsel brillant gemeistert.

Wie glänzend das Ensemble mit der neuen Situation umgeht, erwies jetzt ein Auftritt bei der Neuen Konzertreihe Zürich im temporären Kammermusiksaal der Kirche St. Peter. Die Älteren bringen ihre Erfahrung ein, die Jüngeren sorgen für frische Luft. Matthias Enderle ist ein ganz und gar souveräner Primarius, der mit Freundlichkeit und sicht- wie hörbarer Freude zu führen versteht, und mit Agata Lazarczyk ist am zweiten Pult eine Geigerin dazugekommen, die klanglich wie musikalisch hervorragend zu Enderle passt. Bei Wendy Champney ist die Bratsche, was sie bei ihr immer war, nämlich alles andere als eine Schattenpflanze; sie klingt vielmehr klar und deutlich, bisweilen sogar äusserst prägnant als eine Scharnierstelle zwischen Diskant und Bass. Dort freilich, bei Chiara Enderle am Cello, herrschen strahlendes Temperament, pure Musizierlust und mitreissende Expressivität – was die Tochter ins Ensemble der Eltern einbringt, setzt dem i das Pünktchen auf. Nicht zuletzt steht es für eine familiäre Harmonie, die sich heute keineswegs mehr von selbst versteht.

So hätte denn die Werkfolge des Abends eigentlich umgekehrt sein müssen: von d-moll nach D-dur, doch hätte das der Chronologie, vielleicht auch dem emotionalen Gewicht der Werke widersprochen (immerhin darf festgehalten werden, dass in diesem Programm die Tonarten einen erkennbaren Zusammenhang bildeten). Der Abend hob also in D-dur an – mit dem Streichquartett Hob. III:79 von Joseph Haydn. Das übrigens nicht, wie es der Programmtext insinuierte, dem letzten Quartettzyklus des Komponisten entstammt, denn auf die sechs für den Grafen Erdödy geschriebenen Stücke des Opus 76 von vermutlich 1797 folgten 1799 noch die beiden Lobkowitz-Quartette op. 77. Was das im besten Fall sein kann, ein Streichquartett und dessen Interpretation, erwies der langsame Satz in der entfernten Tonart fis-Dur, der in gehauchten piano-Schattierungen vielerlei Art daherkam und sich am Ende förmlich aufzulösen schien. Was Haydn aus der einfachen Dreiklangsbildung an motivischer Verwandlung gewinnt und wie das Carmina-Quartett diesen Prozess hörbar machte, das war grosse Kunst.

Daraufhin d-moll, nämlich das Streichquartett D 810 von Franz Schubert, das unter seinem Titel «Der Tod und das Mädchen» bekannt ist. Einen anderen Ton liess das Carmina Quartett da eintreten; er zielte von Anfang an deutlicher auf das Emotionale als auf das Verarbeitende. Das zeigte schon der Beginn, wo auf den längeren Notenwerte mit wenig oder gar keinem Vibrato gespielt und eine Spannung sondergleichen erzielt wurde – eine Spannung, die sich in der Durchführung ungeheuer verdichtete. Und eindrücklich, was das Quartett am Schluss des Kopfsatzes, wo die reguläre Kadenz eine nach der Art eines neapolitanischen Sextakkords vertiefte Subdominante erhält, an Intensität des Tons zu erzielen vermag. Nicht weniger hochstehend das Andante con moto des zweiten Satzes, eine Folge von Variationen über ein einfaches Thema, deren Steigerung in der Faktur und deren Verdichtung im Ausdruck zu unerhört plastischer Wirkung gebracht wurde. Als dann im Trio zum Scherzo des dritten Satzes das Cello die Führung übernahm, dachte man für einen Augenblick an Haydn zurück. In dessen Quartett aus Opus 76 hatte sich im Trio zum Scherzo genau dasselbe ereignet.

Wenn vier Instrumente zu einem werden

Das Rolston String Quartet in der Neuen Konzertreihe Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Sehr vernünftig, die vier Leute, die sich hier über Debussy und Brahms unterhielten. Rolston String Quartet nennen sie sich, eben erst sind sie in der Quartett-Serie der Neuen Konzertreihe Zürich aufgetreten. Warum Rolston? Im kanadischen Banff Centre for Arts liegt der Grund. Dort hat sich das Quartett mit Luri Lee und Emily Kruspe (Violinen), Hezekiah Leung (Viola) und Jonathan Lo (Violoncello) zusammengetan. Und dort wirkte der Geiger und Dirigent Thomas Rolston, dessen Tochter Shauna Rolston Shaw der Primgeigerin eine Violine von Carlo Annibale Tononi aus dem frühen 18. Jahrhundert zur Verfügung stellt.

Vernünftig sind die vier jungen Leute so, wie es sich Goethe in seiner Umschreibung des Streichquartetts gedacht haben mag. Es herrscht uneingeschränkte Gleichberechtigung. Beim Rolston String Quartet gibt es keine Primgeigerin, die als Solistin brilliert und drei Knappen zur Seite hat. Es gibt auch keinen Cellisten, der nach der Art eines Haudegens vorangeht und den Ton angibt. Die klanglichen Gewichte sind vollkommen austariert. Damit man ihn gut hört – das tut man, und zwar gerne – sitzt der Bratscher zwar rechts, wie gewohnt, doch vorne, während der temperamentvoll agierende Cellist seinen Platz auf derselben Seite, aber hinten findet. Wenig Mühe, sich vernehmen zu lassen, zeigt die Zweite Geigerin; sie vermag so viel Energie ins Ensemble zu geben, dass sich ihr Part wie von selber aufwertet. Die Primgeigerin wiederum bringt einen im Kern zarten, aber gleichwohl leuchtenden Ton ins Spiel – und dass sie, während sie den Bogen führt, gerne nach oben blickt, unterstreicht diesen Eindruck.

Jedenfalls überraschten gleich zu Beginn des Streichquartetts in g-Moll von Claude Debussy die klangliche Homogenität des jungen Quartetts, die Wärme seines Tons und dessen Verankerung in den tieferen Instrumenten. Mag sein, dass die Saiten von Jargar aus Kopenhagen, die ein wenig wie Darmsaiten klingen wollen, es aber nicht sind, entscheidend dazu beigetragen haben. Von Bedeutung war aber wohl auch die mit viel Nachhall ausgestattete Akustik in der Zürcher Peterskirche, die da und dort ein Detail untergehen lässt, dafür aber den Klang der Ensembles mit einer reichen Aura versieht. Jedenfalls entwickelte sich der erste Satz des Quartetts von Debussy in angeregtester Atmosphäre – dies auch darum, weil an diesem Abend so sorgsam wie effektvoll mit dem Vibrato umgegangen wurde. In den Pizzicato-Ketten des zweiten Satzes erwies sich die Formation als rhythmisch absolut sattelfest, während das Andantino mit exquisiten Klangmischungen, aber leider auch einigen unschönen Glissandi aufwartete. Spannend von Anfang bis Schluss wirkte das Quartett Debussys – so wie es nicht eben häufig zu erleben ist.

Und dann das zwanzig Jahre zuvor entstandene Streichquartett in a-Moll, op. 51.2, von Johannes Brahms. Auch hier – und in diesem Fall naheliegender als bei Debussy – dominierte ein üppiger, aus der Tiefe aufsteigender Klang. Dies mit besonderem Gewinn im Andante moderato des zweiten Satzes, das zu schönster Kantabilität fand. Der Kopfsatz lebte ausgeprägt von der Präsenz der mittleren Stimmen – es schien, als ob die Zweite Geige und die Bratsche das musikalische Geschehen vom Inneren her zusammenhielten. In grossartigem Temperament und feuriger Virtuosität schliesslich das Finale. Nicht nur sehr vernünftig, die vier Leute aus Kanada. Sondern auch sehr gut.

Ein Streichquartett hebt die Welt aus den Angeln

Bach, Beethoven und Mendelssohn mit dem Chiaroscuro-Quartett in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Selbst für eingefleischte Liebhaber des Streichquartetts dürfte dieser Abend im Rahmen der Neuen Konzertreihe Zürich zu einem Schlüsselerlebnis geworden sein. Mit dem Auftritt des Chiaroscuro-Quartetts in der Kirche St. Peter öffnete sich eine Tür zu einer ganz und gar neuen Vorstellung davon, was das Streichquartett sei, wie es klingen könne und welche Hörerlebnisse es biete. Schon gleich zu Beginn, wie Pablo Hernán Benedí an der zweite Geige das Thema aus Johann Sebastian Bachs «Kunst der Fuge» anklingen liess, stand im Raum, dass hier aufgrund ganz anderer Prämissen gearbeitet wird als in Streichquartetten herkömmlicher Art. Wie dann die Primgeigerin Alina Ibragimova antwortete, wie wenig später die Cellistin Claire Thirion und endlich die Bratscherin Emilie Hörnlund dazu traten und nach 78 Takten der Contrapunctus 1 aus dem gewaltigen Fugen-Kompendium des Thomaskantors zu seinem Ende fand, hatte man schon erheblich gereinigte, geöffnete und sensibilisierte Ohren.

Einzigartig am Chiaroscuro-Quartett ist nicht die Tatsache, dass die vier Ensemblemitglieder allesamt wertvolle alte Streichinstrumente spielen; das taten und tun auch andere Quartette, berühmtere wie weniger berühmte. Die Besonderheit besteht vielmehr darin, dass diese alten Instrumente nicht, wie es sonst der Fall ist, auf die heutigen Erfordernisse hin umgebaut, also mit Verstärkungen und modernen Saiten versehen sind, sondern dass sie ihren ursprünglichen Zustand bewahrt haben. Sie sind mit Darmsaiten bespannt, werden etwas tiefer gestimmt und mit jenen Bögen bespielt, die der Entstehungszeit der jeweiligen Stücke entsprechen. Das allein ergibt schon einen stark veränderten Klang – allerdings nicht das etwas stumpfe Näseln, durch welches das Spiel so eminenter Vorkämpfer wie Alice Harnoncourt oder Jaap Schroeder noch beeinträchtigt war. Der Umgang mit den alten Instrumenten hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren derart entwickelt, dass auf ihnen heute eine ganz eigene, klanglich brillante Virtuosität möglich, ja selbstverständlich ist. In krassem Gegensatz zu Erscheinungen wie der Geigerin Anne-Sophie Mutter oder dem Cellisten Mischa Maisky dominiert hier ein heller, fast silberner Klang, der in der Leichtigkeit der Tongebung und im Leisen verankert ist, der ausserdem von einer unerhörten Vielfalt an Farben lebt.

Die Instrumente sind das eine, das andere und ebenso wichtig ist die Spielweise. Grundlage bilden beim Chiaroscuro-Quartett nicht der satte, in jedem Moment von Vibrato getragene Ton, sondern sein Gegenteil: das gerade, reine Klingen, das durch Obertöne geformt und durch ein differenziertes, oftmals kaum bemerkbares Vibrato bereichert wird – jene Sonorität also, die von den im Klangbild der sechziger Jahre sozialisierten Besserwissern besonders acharniert bekämpft wurde, inzwischen aber selbst im sogenannt herkömmliche Musizieren ihre Wirksamkeit entfaltet. Wo das Vibrato und die mit ihm verbundenen Möglichkeiten des Kaschierens fehlen, erhöhen sich allerdings die Anforderungen an die Reinheit der Intonation – und da erwiesen die drei Stücke aus der «Kunst der Fuge», wozu das Chiaroscuro-Quartett in der Lage ist. Nicht nur entfalteten die einzelnen Töne im Gehörgang eine Intensität sondergleichen, auch das Zusammenklingen erreichte ein Miteinander und Ineinander exzeptioneller Güte; es war von einer Leuchtkraft, die einen geradezu von den Kirchenstühlen abheben liess. So war dieser Einstieg für die Ausführenden wie die Rezipierenden gleichermassen von Nutzen.

Mit solcherart gespitzten Ohren betrat man den Garten der Nummer 2 aus Ludwig van Beethovens Opus 18, des Streichquartetts in G-dur von 1800. Um sogleich zu bemerken, dass in diesem Fall der hallige Kirchenraum, eine Übergangslösung für die Zeit der Bauarbeiten an der Tonhalle, seine Einschränkungen bemerkbar machte: Die kleinen Notenwerte, gerade wenn sie wie im Kopfsatz als Auftakte eingesetzt sind, gingen unter. Davon abgesehen herrschte aber vielgestaltige Munterkeit, die sich vitaler Phrasierung und expliziter Artikulation verdankte. Im Adagio cantabile ging Alina Ibragimova mit ihren agilen Diminutionen entschieden voran – wobei zugleich auffiel, wie gleichberechtigt die vier Stimmen in Erscheinung traten, wie klar darum die einzelnen Lineaturen und ihr Zusammenwirken in der vom Ensemble gepflegten Transparenz zur Geltung kamen. Das mag auch darauf zurückgehen, dass mit Pablo Hernán Benedí, dem ganz in sich ruhenden Sekundgeiger, der spürbar solistisch agierenden Primgeigerin ein ebenbürtiger Partner gegenüber stand, dass ausserdem die Cellistin Claire Thirion mit ihrem kernigen, aber nie bohrenden Klang, ihrer flinken Beweglichkeit und ihrem weiten Ausdrucksspektrum das Geschehen diskret, aber erfolgreich steuerte – wie sich im Finale erweisen sollte. Zuvor gab es aber noch das Scherzo, in dessen flüsterndem Ton zutage trat, mit welch hoch entwickelter die Piano-Kultur das Quartett zu Werk geht. Da war denn die ganze Kunst dieses aussergewöhnlichen Ensembles ausgelegt: Kunst im Zeichen von historisch informierter Aufführungspraxis 2.0. Das Ergebnis wird man nicht so rasch zu den Akten legen.

Zumal es im Streichquartett Nr. 1 in Es-dur, op. 12, von Felix Mendelssohn Bartholdy, einem Meisterwerk aus der Feder eines Frühvollendeten, zu einer Potenzierung dieser Kunst kam. Mit ihren ziehenden Tönen setzte die langsame Einleitung die Latte schon hoch, mit dem lebhaften Gespräch zwischen den vier vernünftigen Leuten nahm das Allegro non tardante die Herausforderung brillant auf. Eine Überraschung bot die Canzonetta des zweiten Satzes, deren Allegretto in Tempo und Artikulation grossartig getroffen war. Wie herrlich sich auf den alten Instrumenten, so sie wirklich alt sind, singen, welch spritzige Agilität sich auf ihnen aber auch erzielen lässt, gaben das Andante espressivo und das Finale in Molto allegro e vivace zu verstehen. Am Ende durfte man – zunächst einmal Atem holen und dann feststellen, dass dieses enorm heikle und darum nicht besonders oft gespielte Stück so vielleicht noch nie erklungen ist.

Einmal mehr hat der Abend erwiesen, welch ungemein weites Feld hier zu beackern wäre. «Wäre», denn was sich im Bereich der Oper, des Chorwesens, der Orchestermusik längst etabliert hat, bildet im Bereich der Kammermusik noch immer eine Ausnahme. Mit aller Deutlichkeit hat das Chiaroscuro-Quartett gezeigt, welches Potential hier wartet – und wie es dieses Potential zu nutzen weiss. 2005 von Alina Ibragimowa als reines Frauen-Quartett im Umkreis der Londoner Musikhochschulen gegründet, steht es heute an der Spitze jener Gruppe von rund einem Dutzend Streichquartetten, die sich der historisch informierten Aufführungspraxis verschrieben haben; 2010 trat Pablo Hernán Benedí an die Stelle von Sara Deborah Struntz. Besonders fällt auf, dass die vier Ensemblemitglieder noch weitere Tätigkeitsfelder bearbeiten, sei es in Orchestern, in anderen Ensembles oder solistisch – und das durchaus jenseits des Spiels auf Darmsaiten. Alina Ibragimova, die zusammen mit dem Pianisten Cédric Thibergien eine hochkarätige Einspielung der Geigensonaten Mozarts vorgelegt hat (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 26.04.17), spielt neben dem Wirken im Quartett auch neue Musik; in einem Vierteljahr wird sie in Bergen (und mit dem Dirigenten Edward Gardner) ein Violinkonzert des norwegischen Komponisten Rolf Wallin zur Uraufführung bringen. Das ist eine Gegenwart, die spannender nicht sein könnte. Sie hat fraglos Zukunft.

Das Streichquartett – ungebrochen am Leben

Haydn und Tschaikowsky mit dem Schumann-Quartett

 

Von Peter Hagmann

 

Wer glaubt, das Streichquartett sei zu elitär, um zu überleben, dürfte sich täuschen. Wohl noch nie in der gut zweihundertjährigen Geschichte dieser Gattung hat es so viele so herausragende Streichquartette gegeben, wie es heute der Fall ist. Dafür kann mancher Grund genannt werden. Der erste betrifft die Ausbildung an den Musikhochschulen, die in der jüngeren Vergangenheit bedeutend an Qualität gewonnen hat. Die jungen Musikerinnen und Musiker werden sodann nicht nur gut, sondern auch in grosser Zahl ausgebildet, während auf der anderen Seite, bei den Orchestern beispielsweise, in vielen Gegenden Europas gespart und abgebaut wird – weshalb die Gründung eines Ensembles oder der Beitritt zu einem solchen trotz prekärer Einkommenslage zu einer wichtigen professionellen Perspektive geworden ist. Nicht zu vergessen ist schliesslich, dass all diese Ensembles nicht existierten, wenn es für sie kein Publikum gäbe. Und dieses Publikum gibt es – in dem hochstehenden und anregenden Streichquartettzyklus, den die Neue Konzertreihe Jürg Hochulis in der Kirche St. Peter in Zürich durchführt, war es eben wieder zu erleben.

Versammelt sind hier Zuhörer, die wissen, worauf sie sich einlassen – sonst wäre das Schumann-Quartett aus Deutschland nicht so emphatisch gefeiert worden. Die Brüder Erik Schumann (Erste Geige), Ken Schumann (Zweite Geige) und Mark Schumann (Cello) sowie die aus Estland stammende, aber in Deutschland aufgewachsene Bratscherin Liisa Randalu hatten ja auch eine ausgesprochene Rarität im Gepäck. Von Peter Tschaikowsky kennt man die Ballette und die Sinfonien, vielleicht noch das erste Klavierkonzert und das Violinkonzert; dass er aber auch drei Streichquartette komponiert hat, ist so gut wie unbekannt – in den Konzertprogrammen erscheinen diese Werke kaum je. Dabei hinterlässt gerade das dritte Quartett in der seltenen Tonart es-moll tiefe Eindrücke, zumal in einer emotional so aufgeladenen Interpretation, wie sie das Schumann-Quartett geboten hat. Den Kopfsatz mit seiner harmonisch eigenartigen Einleitung gingen sie in aller Intensität, doch ohne jedes Zuviel an Vibrato oder Glissando an. Im scherzoartigen zweiten Satz brachten sie die rhythmischen Formungen zu beinah körperlicher Gegenwärtigkeit, während sie im Trauermarsch des dritten Satzes, für den sie stark wirkende Dämpfer aufsetzten und einen ganz dunklen Ton anschlugen, zu unglaublicher Bildhaftigkeit fanden – man sah förmlich die Mönche vorbeiziehen, welche die leeren Quinten hier andeuten. Um so befreiender dann das Finale mit seiner orchestralen Extraversion.

Zuvor hatte es einen Klassiker des Repertoires gegeben, das meisterliche Streichquartett in B-dur Hob. III:78, die Nummer 4 aus den sechs Erdödy-Quartetten op. 76, die den Titel «Sonnenaufgang» trägt. Und auch dieses Werk erklang in pointierter Interpretation. Zum einen darum, weil das Schumann-Quartett eine etwas spezielle Aufstellung kennt, sitzt dem Primgeiger doch nicht der Cellist gegenüber, sondern vielmehr die Bratscherin, während der Cellist dort seinen Platz hat, wo in anderen Quartetten der Meister an der Bratsche wirkt. Das hat den entschiedenen Vorteil, dass die gern unterbelichtete Mittelstimme deutliches Relief bekommt, was dem Sonnenaufgangs-Quartett Haydns besonders zugute kommt. Schärfungen erfuhr aber nicht nur die Polyphonie, sondern auch das Klangbild. Das Schumann-Quartett gehört zu jenen Ensembles jüngerer Generation, denen der differenzierte Umgang mit dem Vibrato selbstverständlich ist. Der gerade oder mit bloss kleinem Vibrato versehene Ton hat hier auch seinen Platz, was etwa dem Anfang des Stücks seinen ganz eigenen Reiz sicherte. Musikalische Interpretation als Vergegenwärtigung, mithin als Übertragung eines mehr als zweihundert Jahre alten Kunstwerks in die Jetztzeit, war hier auf blendendem Niveau verwirklicht.

Partnerschaft – beim Wort genommen

Nicolas Altstaedt und Alexander Lonquich spielen die Cellosonaten Beethovens

 

Von Peter Hagmann

 

Wie es wohl klingen würde? Ein Streichquartett im Grossen Saal der Tonhalle Zürich mit seinen 1500 Plätzen, ein Klaviertrio im Konzertsaal des Kultur- und Kongresszentrums Luzern vor 1800 Besuchern – das waren problematische Erfahrungen. Kammermusik, die Bezeichnung sagt es, ist nun einmal nicht für philharmonische Säle geschrieben, sie verlangt intimere Räume. Nun aber, als Veranstaltung der Neuen Konzertreihe Zürich, die fünf Sonaten für Klavier und Violoncello Ludwig van Beethovens in der Tonhalle Maag, in dem hölzernen Konzertsaal mit seinen 1200 Sitzen, den sich das Tonhalle-Orchester Zürich für die drei Jahre der Bauarbeiten in der Tonhalle am Bürkliplatz errichtet hat.

Die Überraschung zunächst: sehr gut besetzt war der Saal – obwohl die Beschilderung, die den Konzertbesucher vom Bahnhof Hardbrücke in die Tonhalle Maag locken sollte, noch immer auf sich warten lässt. Ausserdem wirkte das Auditorium frisch, auch mit jungen Menschen durchsetzt, wo doch im Bereich der klassischen Musik so gerne vom Silbersee der älteren Generation die Rede ist und vom lautlosen Sterben des Konzerts, insbesondere des kammermusikalischen Konzerts. Dann aber, und vor allem, die akustische Entdeckung: ausgezeichnet klang der Saal, hell und transparent, zugleich aber auch vollmundig, da es reichlich (künstlich erzeugten?) Nachhall gibt. Freude herrscht: auch Kammermusik funktioniert in dem Provisorium, das sich so gar nicht wie ein Provisorium ausnimmt.

Das Fazit kann gezogen werden, obwohl der Cellist Nicolas Altstaedt gerade nicht zu den Dröhnern gehört und obwohl Alexander Lonquich am Steinway diesem Ansatz mit wahren Wundern aus der Welt des Leisen antwortete. Wie manche seiner Generationsgenossen setzt Altstaedt nicht auf Druck, er geht auch mit dem Vibrato äusserst sparsam um – der Prunk des Tons an sich ist seine Sache nicht. Das Cello steht bei ihm in Verwandtschaft mit der Gambe; es singt im Prinzip fein und zart, auch wenn es seine Stimme bisweilen ernsthaft zu erheben weiss. Wie es in diesem Leisen singt, wie ausdrücklich und wie vielgestaltig, das war absolut hinreissend.

Mit seinem ganz geöffneten, wie für einen solistischen Auftritt eingerichteten Flügel zeigte Lonquich wiederum an, dass er sich nicht in der Funktion des Begleiters, sondern in jener des gleichberechtigten, auch gleichermassen verantwortliche Partners versteht. Damit hat es allerdings seine Richtigkeit, sind diese Sonaten doch nicht für Violoncello und Klavier, sondern, umgekehrt, für Klavier und Violoncello geschrieben. Nicht dass das Klavier die Hauptsache wäre wie in manchen der frühen Violinsonaten, es ist aber auch nicht jene Nebensache, zu der es Cellisten früherer Zeiten gemacht haben – die beiden Instrumente begegnen sich in dieser Musik ganz einfach auf Augenhöhe.

Was das heissen kann, war gleich in den ersten Takten der F-dur-Sonate op. 5, Nr. 1, von 1796 zu hören – in der langsamen Einleitung zum Kopfsatz etwa, die sich abgesehen von einigen Akzenten durchwegs im Leisen abspielt. Spannend, wie hier zur Harmonie der geglückten Balance der motivische Diskurs trat, das Austauschen musikalischer Gesten zwischen den beiden Instrumenten. Noch deutlicher kam das Spannungsverhältnis im Allegro, das den Hauptteil des ersten Satzes ausmacht, zur Geltung. Es hebt mit dem ersten Thema an – das freilich vom Klavier vorgetragen wird, während das Cello die begleitenden Quinten der linken Klavierhand aufnimmt und sie zum Dreiklang erweitert. Vorzüglich war das gemacht. Und nicht zuletzt in einer Perfektion, die vor zwei, drei Jahrzehnten noch nicht selbstverständlich war – man muss nur kurz an grosse Cellisten wie Mstislaw Rostropowitsch oder Heinrich Schiff denken.

Dabei herrschten zwar leise Töne, aber vibrierende Energie – so sehr, dass in der zweiten Sonate aus dem frühen Opus 5, jener in g-moll, eine Saite riss, was Nicolas Altstaedt jedoch keineswegs aus der Fassung brachte. Er spielte sich nach der Reparatur vielmehr richtig warm, denn in der A-dur-Sonate op. 69 (1807) wird das Violoncello kurz zur Diva. Ganz allein trägt es im eröffnenden Allegro ma non tanto das Thema vor, worauf es sich auf einem tiefen E niederlässt und den Platz freigibt fürs Klavier, das nach einer kleinen Assonanz und einem gewaltig niederstürzenden Lauf das Thema in Doppeloktaven ans Licht stellt. Altstaedt hauchte, während Lonquich für einen Augenblick den Tiger aus dem Tank liess – genau aus solcher Art, Musik in Klang zu bringen, war an diesem (leider wieder völlig verdunkelten) Abend so unendlich viel zu erleben.

Im langsamen Satz dieser Sonate, einem Adagio cantabile, in dem Alexander Lonquich die Melodie bisweilen nach alter Manier asynchron klingen liess, deutete sich an, was nach der Pause in den beiden relativ späten Sonaten des Opus 102 aus dem Jahre 1815 zum zentralen Moment der Interpretation werden sollte. Es ist eine nicht in Worte zu fassende Innigkeit. Sie zeigte sich im langsamen Satz der C-dur-Sonate, ganz besonders aber jenem der D-dur-Sonate. Die beiden Musiker nahmen sich in diesem Adagio con molto sentimento d’affetto alle Zeit der Welt, und dies ohne jeden Hang zum Kitsch. Ganz leicht spielten sie die Diminutionen aus, so dass sich der Eindruck eines ruhig liegenden Sees ergab. Und sie erzeugten eine Atmosphäre der Versenkung, wie sie in dieser Intensität nur live, nur im Konzert entstehen kann.

Achtung: Streichquartett

Eröffnung einer neuen Konzertreihe in der Zürcher Peterskirche

 

Von Peter Hagmann

 

Auf nach St. Peter – nicht in Rom, sondern in Zürich. In der eleganten Barockkirche an der Peterhofstatt gibt es jetzt nämlich eine neue Konzertreihe mit nichts anderem als Streichquartetten. Da die Tonhalle Zürich wegen Bauarbeiten für drei Spielzeiten geschlossen ist, zieht die Neue Konzertreihe Zürich in die Tonhalle Maag; dort veranstaltet sie ihren gewohnt hochstehenden Abonnementszyklus. Zusätzlich aber bietet Jürg Hochuli, dessen Agentur die Neue Konzertreihe Zürich führt, in der Kirche St. Peter eine Reihe von sechs Abonnementskonzerten, die allein den Streichquartetten gehört. Angekündigt sind etablierte Ensembles der Spitzenklasse wie das Belcea-Quartett oder das Cuarteto Casals, aber auch eine Reihe jüngerer Gruppierungen wie das Signum-Quartett, das Quartett der Geschwister Schumann, das Armida-Quartett oder das Chiaroscuro-Quartett, das sich der historisch informierten Aufführungspraxis verschrieben hat.

Aufsehenerregend ist das. Zählen schon reine Kammermusikreihen zu den Raritäten, so bildet eine ganz dem Streichquartett gewidmete, über eine Saison gespannte Konzertserie die absolute Ausnahme. Die Kammermusik Basel, 1926 gegründet und ungebrochen lebendig, führt in ihren Programmen auch Streichquartette, aber eben nicht nur; es gab und gibt dort auch Abende mit anderen kammermusikalischen Besetzungen bis hin zu Konzerten mit vokalem Anteil. Anders als in Basel stehen in der neuen Zürcher Quartettreihe ausschliesslich Werke des klassisch-romantischen Repertoires auf dem Programm – mit Ausnahme des ersten Streichquartetts von Leoš Janáček, das von Corina Belcea und ihren drei Herren gespielt wird. Doch die Interpretationen versprechen höchstes Niveau, mithin ebenso viel Lustgewinn wie Erkenntnis. Das Streichquartett, nicht zu Unrecht als Königsgattung bezeichnet, bildet ja die Keimzelle und Experimentierstätte der Kunstmusik – und das gilt, auf die Interpretationen bezogen, bis heute. Und vielleicht noch nie gab es ein so grosses Angebot an profilierten Streichquartetten, die dieser Gattung in anregender Weise nachgehen.

Beispielhaft zu erleben war das bei der ausserhalb des Abonnements geführten Eröffnung der Neuen Konzertreihe Zürich in St. Peter. Zunächst durfte man zu Kenntnis nehmen, dass das akustisch geht: Streichquartett in diesem Kirchenraum. Gewiss, es gibt dort mehr Nachhall als im Kleinen Saal der Tonhalle Zürich, doch wenn sich die Interpreten, was ihre Aufgabe ist, auf den Raum einstellen, bleibt die Verständlichkeit gewahrt – ja, es tritt sogar eine Opulenz dazu, die der Kammermusik gut ansteht. Vor allem aber ermöglichte der Eröffnungsabend die Begegnung mit einem der aufregendsten jungen Streichquartette. Auffallend am Doric String Quartet aus London ist die Tatsache, dass nicht der Primgeiger Alex Redington die Kraftquelle bildet, sondern vielmehr der hinreissende Cellist John Myerscough; das führt zu neuartigen Kräfteverhältnissen. Dazu kommt, dass Jonathan Stone an der zweiten Geige wie die Bratscherin Hélène Clément so viel Präsenz zeigen, dass die Mittelstimmen nicht im Hintergrund bleiben, sondern gemäss ihren Funktionen im musikalischen Satz mit Prägnanz in Erscheinung treten.

Das ist Musizieren im Streichquartett auf der Höhe der Zeit. Es zeigte sich auch im differenzierten, bewussten Einsatz des Vibratos; im eröffnenden Moderato des Streichquartetts in C-dur op. 20 Nr. 2 von Joseph Haydn kam es gleich zu jenem spannungsvollen Ziehen, welches das Non-Vibrato erzeugen kann. Allerdings fiel dort auch auf, wie unsorgfältig, ja geschmacklos der Primgeiger, und nur er, mit dem Portamento umgeht, dem Gleiten im Übergang vom einen Ton zum anderen. Eindrücklich dafür das Pianissimo, zu dem das Quartett etwa im Adagio des zweiten Satzes fand. Hier konnte man sich auch an belebten Trillern, an sprechenden Rezitativen und von innen heraus bewegten Tonleitern erfreuen – so macht Haydn unendlich Vergnügen. Mit dem Streichquartett in G-dur D 887 von Franz Schubert tat sich dann eine ganz andere Welt auf – eine Szenerie voller Wagnisse und Extremsituationen. Nirgends sonst, auch nicht in seinen späten Klaviersonaten, hat Schubert derart ungewöhnlich formuliert und derart weit vorausgeahnt – das war in der Auslegung durch das Doric String Quartet geradezu existentiell spürbar.

Das erste Abonnementskonzert der neuen Reihe bestreitet am Sonntag, 8. Oktober, um 17 Uhr das Signum-Quartett. Es spielt von Haydn das Streichquartett in D-dur op. 20 Nr. 4 und von Beethoven das späte Streichquartett in a-moll op. 132.

Ein Herz und eine Seele – mit Philippe Herreweghe

Bachs Matthäus-Passion in der Tonhalle Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ob im Chor eine Sängerin oder ein Sänger pro Stimme das Angebrachte sei, ob es deren drei, deren fünf oder deren zwölf sein sollten, das wurde und wird im Fall der Johannes- wie der Matthäus-Passion Johann Sebastian Bachs heftig diskutiert. Die Matthäus-Passion in der Monumentalbeseztung Willem Mengelbergs ist wohl definitiv vorbei – wenn auch die historisch informierte Aufführungspraxis eines Tages auf die Idee kommen könnte, auch den Weg hin zu ihr neu zu beleuchten. Die Johannes-Passion in rein solistischer Besetzung wiederum, vor gut dreissig Jahren in Basel erprobt, war ein anregendes Experiment, das wenig Folgen zeitigte. Heute, da die historische Praxis angekommen und sozusagen Allgemeingut geworden ist, hat sich die kleine chorische Besetzung etabliert – wobei Exponenten wie Nikolaus Harnoncourt oder in jüngerer Zeit René Jacobs wieder für eine grössere Anzahl an Mitwirkenden pro Stimme optiert haben. Die definitive Lösung gibt es nicht, zu sehr hängt die Besetzungsstärke auch von der Grösse des Raums und von den stimmlichen Fähigkeiten jedes einzelnen Chormitglieds ab.

Auf dieser Ebene hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren die wohl bedeutendsten Veränderung ereignet. Heute kommt für die Passionen Bachs in der Regel ein Chor mit geschulten, wenn nicht gar professionellen Sängerinnen und Sängern zum Einsatz. Paradebeispiel dafür ist der Dirigent Philippe Herreweghe, der seit 1998 regelmässig mit der Matthäus-Passion zur Neuen Konzertreihe Zürich gekommen ist und das auch dieses Jahr, als Abschluss einer achtteiligen Tournee mit seinen Ensembles, wieder getan hat. Von welcher Qualität sein Chor ist, zeigt sich allein in der Tatsache, dass ausser dem Evangelisten und dem Sänger des Jesus die Solisten allesamt in den Chor integriert sind. Wenn aber Chormitglieder vom Format der Sopranistin Dorothee Mields oder des Bassisten Tobias Berndt mit von der Partie sind und wenn man von diesen Einzelnen aufs Ganze schliesst, eröffnen sich allerschönste Perspektiven. Es war denn auch auf Anhieb zu hören. Der Klang wirkt in einer glücklichen Weise homogen, nicht durch die Aussenstimmen bei vergleichsweise schwächerer Mittellage bestimmt, sondern gerade dort, in seiner Mitte, kraftvoll aufgefüllt. Besonders zur Geltung kommt das bei den Chorälen, deren kunstvolle Harmonisierungen im Hören gleichsam mit Händen zu greifen sind.

Dies aber nicht, weil Philippe Herreweghe auf jenen kompakten Ton setzte, den John Eliot Gardiner mit dem Monteverdi Choir so meisterhaft evoziert. Herreweghe hatte schon immer das Fliessende und das Flexible im Blick – das vielleicht auch als ein früh erwachter Reflex gegen das Monumentale früherer Tradition. Im Collegium Vocale Gent, das für die doppelchörig angelegte Matthäus-Passion zweigeteilt wird, wirken je drei Sänger pro Stimme, zwölf im einen, zwölf im anderen Chor; dazu kommen acht Frauenstimmen für die hervorgehobenen Choralmelodien (anders als bei den beiden Einspielungen der Passion leider nicht die prägnanteren Knabenstimmen). Im Gesamtklang scheint das Individuelle der einzelnen Mitglieder spürbar zu bleiben, was zu einer auf Anhieb erkennbaren Vitalität führt. Zugleich erzielt Herreweghe – und da hat er in den zurückliegenden zwanzig Jahren ein unglaubliches Knowhow entwickelt – eben jene spezifische Homogenität, die einerseits aus dem Verzicht auf das Vibrato resultiert, die andererseits aber auch von einer hochgradigen entwickelten Legatokunst, nicht zu verwechseln mit dem Dauerlegato früherer Zeiten, und einem ganz eigenartigen Ziehen geprägt ist. Aus der Arbeit am Detail entstehen so eine stetig vorwärtstreibende Spannung und eine Emotionalität sondergleichen; jedenfalls geriet auch die jüngste Zürcher Matthäus-Passion wieder zu einem tief berührenden Erlebnis. Nicht zuletzt trägt dazu die um einen Halbton tiefere Stimmung von 415 Hertz bei.

Aus dem so speziellen Chor, bei dem sich auch die Turbae in besten Händen befinden, treten nun also die Vokalsolisten heraus. Und es sind alles veritable Solisten, anders als im Balthasar Neumann-Chor von Thomas Hengelbrock, der kollektiv hochstehend klingt, in den ebenfalls von Chorsängern bestrittenen solistischen Auftritten aber nicht restlos befriedigt (http://www.peterhagmann.com/?p=1034). Zu den Höhepunkten der diesjährigen Zürcher Matthäus-Passion gehören ohne Zweifel die beiden grossen Sopran-Arien mit Dorothee Mields, die vorführten, wie sich mit adäquater Technik, also mit fast instrumentaler Präzision der Linienführung, Emotion erzeugen lässt. Sehr anrührend auch «Erbarme dich» mit dem grossartigen Altisten Damien Guillon – und mit der Konzertmeisterin Christine Busch, die hier konzertierend brillierte, darüber hinaus aber das Geschehen insgesamt zusammenhielt. Wie überhaupt das ebenfalls zweigeteilte Orchester und ganz besonders die wieder äusserst engagiert mitgehende Continuo-Gruppe des ersten Orchesters von dem aussergewöhnlichen Niveau zeugten, das in den Ensembles rund um Philippe Herreweghe herrscht.

Ein vokal-instrumentales Meisterstück wurde «Ich will bei meinem Jesu wachen» mit Reinoud van Mechelen und seinem hellen Tenor sowie den vier Herren an der Blockflöte und der Oboe da caccia. Vom konzertierenden Zusammenspiel lebte aber auch die Bass-Arie «Komm süsses Kreuz», bei der Romina Lischka den Gambenpart versah und bei der mit Peter Kooij ein langjähriger Weggefährte Herreweghes mit von der Partie war. Weniger überzeugten dagegen die beiden Hauptsolisten. In seinem Bemühen, den rapportierenden Duktus in der Partie des Evangelisten mit Emphase aufzuladen, ging dem Tenor Maximilian Schmitt bisweilen die Kontrolle über das an sich schon sehr ausgeprägte Vibrato verloren; zudem kam in solchen Momenten eine nasale Farbe ins Spiel, die ausgesprochen störte. Geradezu als eine Fehlbesetzung erschien mir der Bariton Florian Boesch in der Partie des Jesus; mit seinem Opernpathos und seinem donnernden Forte fiel er aus der Gesamtanlage der Aufführung heraus. Gewiss geht die Matthäus-Passion, was die Figur des Jesus betrifft, einen Schritt weiter als die Johannes-Passion. An diesem Abend wurde dieser Schritt aber mit einem Paar Siebenmeilenstiefeln getan.