Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker – rein medial

 

Von Peter Hagmann

 

Sogar die Wiener Philharmoniker mussten ihren Kotau vor Kaiserin Corona machen. Sie machten ihn agil, wie es ihre Art ist – und so konnte das Neujahrskonzert 2021 trotz allem stattfinden. Im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins wie stets, aber ohne Publikum, ohne Blumenschmuck, wenn auch nicht ohne Zuhörer, nicht ohne Beifall. Millionen von Menschen in über neunzig Ländern der Welt verfolgten die Direktübertragung durch Radio und Fernsehen des Österreichischen Rundfunks, weitere Hunderttausende werden den Anlass in den Streaming Diensten oder über CD und DVD wahrnehmen. Und wer wollte, konnte sogar interaktiv teilnehmen, konnte sich von überall her auf einer Internetseite anmelden, um seinen Beifall durch ein Grazer Unternehmen über sechs leistungsstarke Server und zwanzig hochqualitative Lautsprecher in den Saal übertragen lassen – als Seelenbalsam für das Orchester.

Dennoch: die Aufzeichnung des Konzerts, wie sie jetzt bei Sony greifbar ist, lässt die gedämpfte Atmosphäre deutlich spüren. Ebenso wie auf die Umstände mag das auf den Dirigenten Riccardo Muti zurückgehen, der am Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker seit bald zwanzig Jahren mitwirkt und es heuer, im Jahr seines achtzigsten Geburtstags, zum sechsten Male leitete. Muti hielt vor dem kollektiven Neujahrsgruss eine längere, pathosgesättigte, inhaltlich den sicheren Allgemeinplatz jedoch nicht verlassende Ansprache und sorgte für einen feierlichen, opulenten Grundton. Gut bekommt das vor allem den beiden grossen Walzern aus der Schatzkiste von Johann Strauss (Sohn). Im «Kaiserwalzer» steigert Muti den einleitenden Marsch in goldrichtig gemessenem, aber nicht stur durchgezogenem Tempo zu einem mächtigen, klanglich perfekt ausbalancierten Höhepunkt, der die Würde der durch die Pandemie besonders empfindlich getroffenen musikalischen Kunst kraftvoll ins Licht rückt. Der im Dreivierteltakt gehaltene Hauptteil dann schwankt bewegend zwischen nachdenklicher Melancholie und geradezu trotzigem Diesseitsvertrauen. Dass in einem Vierteljahr, spätestens einem halben Jahr alles wieder anders als jetzt sein mag, das lässt Muti im «Frühlingsstimmenwalzer» anklingen. Auch hier rauscht das Orchester in grossem Ton auf, es spielt jedoch so brillant mit der ihm eigenen rhythmischen Flexibilität, dass die frische Jugendlichkeit dieses ebenfalls von Johann Strauss (Sohn) stammenden Stücks ungeschmälert zur Geltung kommt. Auch wer der übersteigerten Kommerzialität des Neujahrskonzerts distanziert gegenübersteht, wird hier vorbehaltlos anerkennen können, dass kein Orchester der Welt diese Musik besser spielt als die Wiener Philharmoniker.

Zu diesen beiden Grosswerken und dem traditionellen Doppel mit dem «Donauwalzer» von Johann Strauss (Sohn) und dem abschliessenden «Radetzkymarsch» von Johann Strauss (Vater) kam in diesem Neujahrskonzert ein geistreich zusammengestelltes Programm, das in etwas entlegenere Gefilde der Walzerproduktion vorstiess. In der Ouvertüre zu seiner Bühnenmusik «Dichter und Bauer» lässt Franz von Suppé hören, dass auch bei sogenannt leichter Musik Handwerk und Inspiration gefordert sind – in der Auslegung durch die Wiener mit Muti zeigt sich jedenfalls mancher Reiz. Und im Walzer «Bad’ner Mad’ln» gibt Karl Komzák (Sohn), ein einflussreicher k.u.k Marschkomponist, tritt zutage, wie eng das, was wir heute unter dem Stichwort «Wiener Walzer» subsumieren, mit der Militärmusik verbunden ist.

Neujahrskonzert 2021. Wiener Philharmoniker, Riccardo Muti. Sony 10350162 (2 CD, Aufnahme 2021, Publikation 2021).

Theater ohne Theater als neues Theater?

Salzburger Festspiele II – Verdis «Aida» im Grossen Festspielhaus

 

Von Peter Hagmann

 

Der Triumphmarsch, oratorisch / Bild Monika Rittershaus, Salburger Festspiele

 

Golden prangt der Eiserne Vorhang, der die ganze Breite der Bühne im Salzburger Grossen Festspielhaus abdeckt. Verständlich, «Aida» steht auf dem Programm der Salzburger Festspiele 2017, da darf die vorsorgliche Assonanz an das Ausstattungstheater, das nicht nur in der Arena von Verona mit Giuseppe Verdis Oper verbunden ist, nicht fehlen. Allein, wer auf ein diesbezügliches Fest setzt, muss die Segel streichen. Kein einziger Elefant weit und breit. Aber was dann?

Musik, ganz einfach. Mit Riccardo Muti steht ein ausgewiesener Fachmann am Pult, und die Wiener Philharmoniker, die diesen Sommer neben ihren fünf doppelt bis dreifach geführten Konzerten vier der fünf neuen Produktionen im Opernprogramm bestreiten – die Wiener Philharmoniker geben dem Dirigenten, was sie zu geben vermögen. Dass sie hellwach auf die subtilen Tempoveränderungen reagieren, mit deren Hilfe Muti entweder den Sängern zur Seite bleibt oder das Geschehen vorantreibt, versteht sich angesichts der Erfahrung, über welche die Musiker, hauptberuflich Mitglieder des Wiener Staatsopernorchesters, naturgemäss verfügen. Aber die klangliche Flexibilität, die sie in den Abend einbringen, die leuchtende Transparenz im Leisen und die samtene Kraft im Lauten, vor allem aber die zartgliedrige, in vielen Farben schimmernde Lineatur, das ist nur bei diesem Orchester zu hören. Muti weiss wie kein Zweiter auf dieser Klaviatur zu spielen.

Und dann die Besetzung: erstklassig. Als ein profunder, seine Machtposition eins zu eins in seinen klangvollen Bass umlegender Oberpriester Ramfis eröffnet Dmitry Belosselskiy die Geschichte um die kriegerische Auseinandersetzung zwischen Äthiopien und Ägypten und die Liebe zwischen zwei jungen Menschen aus den gegnerischen Lagern. Und schon schlägt die Stunde für «Celeste Aida», wo sich Francesco Meli (Radamès) als Inbegriff des kultivierten italienischen Tenors vorstellt. Weil ihm Muti und das Orchester Raum lassen, braucht er nirgends zu drücken, sein schlanker, glänzender Ton breitet sich gleichsam von selbst im Raum aus. Italienische Gesangkunst, sie kann auch so klingen.

Einen Lidschlag später droht die erste Konfrontation, denn Amneris, die als Tochter des ägyptischen Königs (Roberto Tagliavini) auf ihre Ansprüche achtet, sind die Emotionen des jungen Offiziers nicht entgangen. Lauernd versucht sie die Situation zu erkunden, und das wirkt um so stärker, als Ekaterina Semenchuk auf einen Mezzosopran mit metallener Tiefe und grandioser Expansion vertrauen kann. Doch kaum ist man sich dessen gewahr, weitet sich das Duett zum Terzett, denn dazu tritt jetzt Aida, und das ist in diesem Fall Anna Netrebko: ganz in sich ruhend, mit perfektem Ausgleich zwischen den Registern und einem Timbre, das den weiten Ambitus der Stimme in jedem Moment trägt. «Ritorna vincitor» wird da zu einem ersten Höhepunkt.

Womit schon bald der Triumphmarsch ansteht. Überraschend rasch und behende steigt Muti in das gross angelegte Tableau ein; der von ihm eingeschlagene Weg zeigt an, dass er bei aller Grösse, bei aller emotionalen Dringlichkeit jedem Zug ins Demonstrative aus dem Weg zu gehen sucht. Sorgsam baut er die klanglichen Weiterungen auf; die ägyptischen Trompeten strahlen um die Wette, ohne dass je eine Spur Schärfe aufkäme. Und bewusst steuert er in den Tempi auf die abschliessende Hymne hin, die er dann breit aussingen lässt. Weil aber die Attacke jederzeit geschmeidig bleibt, schleicht sich kein Pomp ein. An Grösse freilich fehlt es diesem zweiten Finale nirgends; jeder Elefant wäre hier als schwergewichtig überflüssig aus dem musikalisch mit allem Raffinement gestalteten Rahmen gefallen. Dann allerdings wird es schwierig.

Markus Hinterhäuser, der neue Intendant der Salzburger Festspiele, hatte die gewiss reizvolle Idee, mit der im Exil lebenden Iranerin Shirin Neshat eine im Visuellen tätige Künstlerin zu verpflichten, die als Regisseurin des Abends für einen frischen Blick sorgen sollte. «Aida» auf der Opernbühne, und das bei den Salzburger Festspielen und mit Riccardo Muti, der für das rigorose Durchsetzen seiner musikalischen Interessen bekannt ist – es gibt einfachere Ausgangslagen. Dass das Experiment gescheitert sei, kann man so einfach nicht sagen, es ist aber auch nicht wirklich geglückt. Abstrakt, in kühlem, reinem Weiss hält Christian Schmidt die Bühne; sie bleibt frei von jeder Dekoration, jeder Annäherung an orientalisierende Formen und prunkendes Gold. Farbakzente setzen die sehr streng geschnittenen und dennoch strahlende Pracht verbreitenden Kostüme von Tatyana van Walsum.

Augenschmaus vom Feinsten bietet das, und in der ausgeprägten Kontrastbildung zu dem zwar klar kontrollierten, aber doch heftig aufwallenden musikalischen Geschehen bildet es eine spannungsvolle Folie. In den beiden eher statisch angelegten Akte eins und zwei bis hin zum Triumphmarsch funktioniert das glänzend. Unglaublich schön der riesige, weisse, in zwei Hälften geteilte Würfel, in dem sich die diversen szenischen Konstellationen effektvoll arrangieren lassen. Und das mit Sinn für symmetrische Bildungen, zum Beispiel mit der geistlichen Macht in Schwarz und Weiss auf der einen Seite und der weltlichen in Weiss und Schwarz auf der anderen.

Ob der blendenden Schönheit, die der musikalischen Qualität in nichts nachsteht, fällt nur wenig auf, dass sich die Darsteller zur Hauptsache an der Rampe aufhalten, wo der Dirigent sie haben will, und ausserdem so stereotyp agieren, wie es ihnen behagt. Das ist es, was in den Akten drei und vier, wo sich der Fokus verengt und das Licht auf die einzelnen Figuren fällt, zum Problem wird. So gut das Konzept von Shirin Neshat die Grand Opéra in Verdis «Aida» fasst, so sehr fällt es dort, wo das Drama an die Stelle des Tableaus tritt und das Theater sein Recht einfordert, wo Menschen in Erscheinung treten und Interaktion entsteht, in sich zusammen.

Als Amonasro, als äthiopischer König und Vater Aidas, bringt Luca Salsi einen weichen, warmen Bariton ein; mit dieser Stimme formuliert er aber eine Botschaft von ausgesuchter Grausamkeit, zwingt er doch seine Tochter, ihren Geliebten dazu zu bringen, ein innerstes militärisches Geheimnis preiszugeben. Aus der Spannung zwischen dem stimmlichen Profil und der inhaltlichen Brutalität vermag die Regisseurin jedoch keinerlei szenische Energie zu gewinnen – dazu fehlt ihr schlicht das Handwerk, das es bekanntlich auch in diesem Bereich braucht. So bleiben die Begegnungen zwischen Aida und Radamès, die besonders den vierten Akt tragen, musikalisch hochgradig erfüllt, szenisch aber unterentwickelt.

Am Ende des Abends dominierte das Gefühl, einer halbszenischen Aufführung von Verdis Oper «Aida» beigewohnt zu haben. Einer Aufführung, in der sich das Hörbare und das Sichtbare in einer sehr speziellen, bisweilen überaus glücklichen Weise begegnen, in der zur Musik aber kein Theater tritt und Musiktheater somit nicht entstehen kann, wenigstens nicht Musiktheater der hergebrachten Art. Weist diese Salzburger «Aida» ähnlich wie der unvergessliche «Ring des Nibelungen» beim Lucerne Festival des Sommers 2013 in die Richtung einer neuen Existenz des musikalischen Theaters oder handelt es sich bei dieser Produktion um eine hochästhetisch abgespeckte Version der als überholt empfundenen Ausstattungsoper italienischer Provenienz? Darüber darf nachgedacht werden.