Das Licht der Aufklärung, in Musik gebracht

Mendelssohns «Lobgesang»
beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Das nennt man Künstlerpech. Angesagt beim Lucerne Festival war der Abschluss des thematischen Schwerpunkts rund um Felix Mendelssohn Bartholdy, der vor Jahresfrist das neue Frühlings-Festival mit dem Lucerne Festival Orchestra und seinem Chefdirigenten eröffnet hatte. Doch exakt jetzt musste sich Riccardo Chailly als erkrankt melden und seine beiden Auftritte absagen. Als Glück im Unglück kann wiederum gesehen werden, dass für das grosse Finale mit Mendelssohns zweiter Sinfonie, dem «Lobgesang», Andrés Orozco-Estrada gewonnen werden konnte.

Ein Glück – und das trotz der Turbulenzen der letzten Jahre rund um den 45-jährigen Kolumbianer. Von Wien aus, wo er von 1997 bis 2003 studiert hat und wo er 2004 beim Tonkünstler-Orchester Niederösterreich mit nachhaltigem Erfolg eingesprungen ist, hat er blendend Karriere gemacht. Als Nachfolger von Paavo Järvi war er 2014 bis 2021 Chefdirigent beim Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks in Frankfurt, ab 2020 wirkte er als Chefdirigent der Wiener Symphonikern. Mitte 2021 wurde dann allerdings berichtet, dass er für das Jahr zuvor eine sehr stattliche Summe aus dem Topf der Corona-Hilfen beantragt und erhalten habe. Das ist ihm übelgenommen worden. Als er im Frühjahr 2022 völlig überraschend und fristlos von seiner Aufgabe bei den Wiener Symphonikern zurücktrat, wurde jedoch weniger vom umstrittenen Verhalten des Dirigenten während der Pandemie gesprochen als von Differenzen mit dem Intendanten und dem Wunsch des Orchesters, den bis 2025 laufenden Vertrag nicht zu verlängern. Diesem Wunsch war von den Wiener Behörden stattgegeben worden.

So weit, so heikel. Inzwischen hat Orozco-Estrada ein neues Dach gefunden: 2025 wird er als Gürzenich-Kapellmeister und Generalmusikdirektor das Erbe von François-Xavier Roth antreten, der seinerseits als Chefdirigent zum SWR-Sinfonieorchester Stuttgart zurückkehrt. Und an den künstlerischen Fähigkeiten Orozcos kann nicht der geringste Zweifel herrschen, das hat sein Auftritt in Luzern in aller Deutlichkeit gezeigt. Mendelssohns «Lobgesang» kam zu einer stimmigen, musikalisch erfüllten Aufführung, die vom Publikum mit Stehapplaus quittiert wurde. Keine Spur von den Tempoexzessen und den dynamischen Ausreissern, die vor einigen Wochen Paavo Järvi beim Tonhalle-Orchester Zürich hat hören lassen (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 01.02.23). Frisch, aber ohne Druck, dafür übers Ganze der Partitur aufeinander bezogen die Tempi. Der Klang körperhaft, in seinen Extremwerten jederzeit kontrolliert – will sagen: die Posaunen deutlich auftragend, doch nicht mit geballter Faust, die Trompeten weniger als Klangkrone denn als Verlängerung des Farbspektrums nach oben, die Hörner rund und kompakt, das Holz in ausgezeichneter Feinabstimmung und lebendig sprechend. Mit ihrem energischen Zugriff und ihrer griffigen Artikulation trugen die Streicher das Geschehen. Nur die Orgel, die hätte etwas besser hörbar sein können.

So kam es in der Sinfonia, der dreisätzigen instrumentalen Einleitung, mehr als einmal zu besonderen Momenten, etwa dank der Holzbläser, deren individuelle Klangfarben sich ganz wunderbar mischten. So ist es eben beim Lucerne Festival Orchestra, und so kann es sein, wenn ein Dirigent das Potential dieser noch immer aussergewöhnlichen Formation zu nutzen versteht. Dann aber, nach dem ruhig fliessend genommenen Adagio religioso, schlug die Stunde des von Howard Arman vorbereiteten MDR-Rundfunkchors aus Leipzig, einer grossen, mit strahlenden Stimmen in allen Registern versehenen Körperschaft. In den Chorklang mischte sich die Sopranistin Regula Mühlemann in ihrer Natürlichkeit und mit ihrem obertonreichen Timbre; ihr zur Seite stand, in der undankbaren Partie des zweiten Soprans, aber nicht minder eindrucksvoll, Simona Šaturová. Bleibenden Eindruck hinterliess auch der Tenor Allan Clayton – nicht zuletzt deshalb, weil er subtil mit jenen piano-Wirkungen arbeitete, welche die Partitur verlangt.

Überhaupt wurde raffiniert leise, aber auch gepflegt kraftvoll agiert. Und zudem durchaus mit Effekt. «Die Nacht ist vergangen»: Für den entscheidenden Satz stieg Regula Mühlemann ganz in die Höhe und sang  ihn von einem der oberen Balkone aus in den Saal – frappant war das. Es offenbarte, dass im «Lobgesang» von 1840 der 400 Jahre zuvor erfundene Buchdruck mit beweglichen Lettern gepriesen wird, aber mehr noch dessen Weiterungen in der Reformation, in der Aufklärung, in der Entwicklung hin zu einer sinnvoll lebbaren Gleichheit aller Menschen. Dies in den Klängen eines in eine jüdische Familie geborenen, jedoch im bürgerlichen Protestantismus der Universitätsstadt Leipzig aufgewachsenen Komponisten.

Der anregenden, in jeder Hinsicht hochstehenden Auslegung von Mendelssohns «Lobgesang» ging voran das glückliche Cellokonzert seines Freundes Robert Schumann. Leicht und luftig liess Andrés Orozco-Estrada das Lucerne Festival Orchestra klingen, was vortrefflich passte zu dem feingliedrigen Ausdruck, den Pablo Ferrández anschlug. Grossartig der Reiz der klanglichen Abschattierungen, die der junge Spanier verwirklichte, berührend die Ruhe, die er in den drei ineinander übergehenden Sätzen fand. Etwas eintönig wirkte allein das durchgehende, immer gleiche Vibrato und das bisweilen manierierte Pianissimo; beides erinnert an Anne-Sophie Mutter, die dem aufstrebenden Musiker Förderung zuteilwerden lässt. Dass er seinen eigenen Weg finden wird, ist freilich nur eine Frage der Zeit.

Verfeinerung im Einfachen

Verdis «Rigoletto» in Basel

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Matthias Baus, Theater Basel

Man mag ihn mögen oder nicht – für die neue Produktion von Giuseppe Verdis «Rigoletto» im Theater Basel ist kein Lob hoch genug. Intelligentes, sinnlich erfülltes Musiktheater gibt es da. Die guten Nachrichten kommen zunächst aus dem Graben, wo das Sinfonieorchester Basel auf der vollen Höhe seines Vermögens musiziert: zupackend, aber nirgends grob, klangschön, präzis im Rhythmischen und mit allem Sinn für federnde Eleganz. Dazu angeleitet werden die Musikerinnen und Musiker durch Michele Spotti, einen jungen Dirigenten aus Mailand, dem das Orchester am Ende der Premiere sichtbaren Beifall zollte. Sehr zu Recht, erweist sich Spotti doch als ein sattelfester, ebenso effizienter wie diskreter «maestro concertatore»; er lässt den Sängerinnen und Sängern den nötigen Raum und bleibt ihnen sorgsam zur Seite, behält den Fortgang des Dramas aber jederzeit entschieden in der Hand und sorgt so für durchgehende Spannung. Als besonders wirksam erweist sich dabei des Dirigenten Gefühl für die Tempi und die Beziehungen unter ihnen – da ist ein Raffinement gefordert, ohne das ein Werk wie «Rigoletto» platt bleibt. In der Oper gilt die Aufmerksamkeit des Publikums zuallererst der vokalen Kunst, der Ärger sodann dem Regisseur, während die Formung der musikalischen Seite eher beiläufig mitgenommen wird. Hier ist diese Gewohnheit in jeder Beziehung ausser Kraft gesetzt.

Im Vokalen und in der Ausgestaltung des dramatischen Geschehens herrscht nämlich das reine Glück. Die Besetzung ist erstklassig, sie braucht sich vor keinem anderen Haus zu verstecken. An Überraschungen fehlt es nicht. Als Rigoletto bringt Nikoloz Lagvilava eine ungeheure Bärenstimme ins Spiel, eher einen Bass als einen Bariton, jedenfalls eine abgrundtiefe Schwärze und eine Kraft, die den Narren auch vom Vokalen her zum Aussenseiter macht, das brutal Instinktive in seinem Handeln betont und den Zusammenbruch umso schärfer herausstellen. Einen Buckel braucht es nicht, die Kapuze zu dem dunkelbraunen Ledermantel, den ihm die Kostümbildnerin Clémence Pernoud entworfen hat, sagt alles. Pavel Valuzhin als Herzog bietet mit seinem hellen, obertonreichen Tenor und seiner darstellerischen Agilität das scharfe Gegenbild; schade nur, dass der Sänger gerne zu hoch intoniert (und damit eine Gepflogenheit italienischer Provenienz strapaziert). Speziell dann wieder der Mörder Sparafucile, für den mit David Shipley ein eher hoch liegender, feinzeichnender Bass verpflichtet ist – weshalb denn auch besonders auffällt, dass er, wie er sich Rigoletto mit seinem schönen Namen vorstellt, das in hoher Lage tut. Sein edles weinrotes Gewand mit dem Kummerbund deutet ja auch, dass er seine Dienstleistungen als echter Gentleman anbietet und, so ist anzunehmen, in derselben Weise ausführt. Mit einer echten Donnerstimme wartet Artyom Wasnetsov als Monterone auf – ein später Verwandter des Komturs aus «Don Giovanni». Und dann: Regula Mühlemann, die in Basel ihre erste Gilda singt und das ganz ausgezeichnet macht. Jungmädchenhaft hängt sie an ihrem Vater, doch wie Rigoletto ihr den Hausarrest auferlegt, wird sie rasch störrisch, um dann dem Herzog förmlich zuzufliegen – alles grossartig, alles bewegend dargestellt. Und stimmlich grandios gemeistert dank einem Timbre, das auf einer samtenen Grundlage ein weitgefächertes Farbspektrum ausbreitet. Im Übrigen: Ohne Fehl das Ensemble, ohne Tadel der von Michael Clark vorbereitete Chor.

Zusammen mit dem Orchester sind es die Menschen auf der Bühne, die den Basler «Rigoletto» prägen. Der Regisseur Vincent Huguet dagegen hält sich vorteilhaft zurück; er nennt Verdis Oper sogar «abstrakt» – mit gutem Grund, bilden die beiden Szenen in den Salons des Herzogs doch eher Beiwerk, während das Stück seinen Kern in der direkten Interaktion zwischen den Figuren findet. Das nimmt der Regisseur sehr genau in den Blick, das hat er mit aller Sorgfalt ausgeführt. Der französische Designer Pierre Yovanovitch, hat ihm eine dementsprechend neutrale Bühne eingerichtet. Eine mächtige Rundtreppe, elegant geformt, führt aus luftiger Höhe herunter auf die Spielfläche, wo sich im Verlauf der drei Akte drei halbrunde Wände um die Akteure positionieren: eine immer stärkere Einengung, in der sich die Zuspitzung des Dramas spiegelt. Zugleich aber auch eine Assonanz an die vor einem Vierteljahrhundert aufgestellte, anhaltend umstrittene und bekanntlich nicht nur betrachtete Eisenskulptur «Intersection» des Amerikaners Richard Serra auf dem Platz vor dem Theater. Wenn sich Rigoletto am Ende seiner Möglichkeiten sieht, senkt sich zudem ein zarter, luftiger, aber doch eindeutiger Käfig auf den vom Täter zum Opfer gewordenen Menschen. Alles bloss andeutet, zudem in erlesenen Farben – Design vom Besten, aber sehr wohl mit Aussage. Und in jedem Fall besser als Buckel und Samt. Im Februar folgt an dem sehr lebendigen Basler Haus eine Übernahme von Luigi Nonos «Intolleranza 1960» mit dem Hausherrn Benedikt von Peter am Regiepult. Da wird zweifellos ein ganz anderer Wind wehen.

Mozart-Arien mit Regula Mühlemann und dem Kammerorchester Basel

Von Peter Hagmann

 

Ihre Stimme ist einfach zauberhaft. Glockenrein klingt sie, mit einem reichen Spektrum an Obertönen versehen, was ihr ausgeprägten Glanz verleiht, und dazu kommt eine weiche Rundung im Timbre, die Fülle und Opulenz erzeugt – Regula Mühlemann verfügt über eine vokale Erscheinung von hoher, ja beglückender Individualität. In mancher Hinsicht lässt sie an Edith Mathis denken, ihre ebenfalls aus Luzern stammende, zwei Generationen jüngere Kollegin. Wie ihre berühmte Vorgängerin arbeitet Regula Mühlemann mit einem Höchstmass an technischer Präzision. Jederzeit untadelig Sitz und Führung der Stimme, eindrücklich das Legato, das weite Bögen trägt – und erst die Diktion: herrlich abgefärbt die Vokale, deutlich zeichnend, aber nie schneidend die Konsonanten, dementsprechend grossartig die Verständlichkeit.

Erleben lässt es sich mit einer neuen CD: einer zweiten Sammlung von Mozart-Arien, für die Regula Mühlemann wieder mit dem Kammerorchester Basel und seinem Gastdirigenten Umberto Benedetti Michelangeli zusammengearbeitet hat. Und auch hier finden sich nicht nur bekannte Nummern wie «Deh vieni, non tardar», die Arie der Susanna aus «Le nozze di Figaro», sondern auch Raritäten wie «Amoretti, che ascosi qui siete», jene erstaunliche Cavatina aus «La finta semplice», die Mozart im Alter von zwölf Jahren komponiert hat. Den Auftakt machen «Solitudini amiche» – «Zeffiretti lusinghieri», Rezitativ und Arie der Ilia aus «Idomeneo». Sehr langsam nimmt Regula Mühlemann die Arie, sie führt aber vor, dass sie die Bögen in Spannung zu halten vermag und dass ihr Atem dafür ausreicht. Erst recht gilt das für «In un istante»­ – «Parto, m’affretto», die Klage der Giunia aus «Lucio Silla». Hier zeigt die Sopranistin nämlich ihre Kunst der ganz und gar unangestrengten Koloratur, und sie lässt dabei Perlenketten von unerhörter Ausdehnung glänzen.

Die Bewunderung für das stimmliche Vermögen der jungen Sängerin wird allerdings etwas getrübt durch Defizite in der künstlerischen Ausformung. Mit dem Kammerorchester Basel steht Regula Mühlemann ein Ensemble zur Seite, das über lange Erfahrung im Bereich der alten Musik verfügt und im Instrumentalen bemerkenswerte Horizonte eröffnet. Im Vokalen werden sie zu wenig aufgenommen. Während das Orchester, das in alter Technik, auch in tieferer Stimmung spielt, hörbar macht, wie der reine, gerade Ton eine Dissonanz würzt, pflegt die Sängerin im Grunde jenes durchgehende Vibrato, das in der Vergangenheit geradezu Pflicht war und in der Gesangskunst von heute noch immer lebt, aber doch längst hinterfragt ist. Inzwischen setzen viele Sängerinnen und Sänger auf Differenzierungen im Gebrauch des Vibratos und nutzen erfolgreich die damit verbundenen Erweiterungen des Ausdrucksspektrums. Dasselbe gilt für das sprechende Singen, dem Regula Mühlemann, auch dies gemäss einer Norm von gestern, das ungebrochene Legato vorzieht. In «Ach, ich fühl’s, es ist verschwunden», der schmerzerfüllten Arie der Pamina aus dem zweiten Akt der «Zauberflöte», ruft sie nach Tamino und zieht dabei die dritte Silbe des Namens betont in die Länge, obwohl sie nur ein Achtel dauern und in Pausen führen soll. Es gibt also noch Potential in der schon jetzt hohen Kunst der Sängerin. Und es ist nicht daran zu zweifeln, dass Regula Mühlemann in dessen Erkundung weiter gewinnen könnte.

Mozart Arias II. Regula Mühlemann (Sopran), Kammerorchester Basel, Umberto Benedetti Michelangeli (Leitung). Sony Classical 19439752372 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2020).

Von Luzern nach Luzern

Regula Mühlemann in «Roméo et Juliette» von Gounod

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Ingo Hoehn, Luzerner Theater

 

Vorab dies: Das Stadttheater Luzern ist zu klein für «Roméo et Juliette». Charles Gounod hat für seine Oper von 1867 eine opulente Orchesterbesetzung vorgesehen, die nicht nur Platz im Graben verlangt, sondern auch Volumen im Zuschauerraum. Vier Hörner, drei Posaunen, Schlagzeug, dazu Streicher, die ein Gegengewicht zu den Bläsern bilden – die Partitur braucht Luft, um in ihrer ganzen Wärme zum Klingen zu kommen, und sie benötigt eine gewisse Pedalwirkung, welche die Farben des Orchesters mischt und sie in sinnvollen Bezug zum vokalen Geschehen auf der Bühne bringt. In Luzern ist das nur partiell möglich. Von da her gesehen ist es ein Wunder, was der Luzerner Musikdirektor Clemens Heil und das hellwache Luzerner Sinfonieorchester in der neuen Produktion von «Roméo et Juliette» zustande bringen.

Regula Mühlemann jedenfalls konnte sich im Orchesterklang aufgehoben fühlen. An der Premiere von «Roméo et Juliette» kam die junge Sopranistin zu einem grossartigen Erfolg – nicht nur, weil sie als Luzernerin nach Luzern zurückgekehrt ist, sondern auch und vor allem, weil sie künstlerisch gewaltig vorwärts gemacht hat. Seit ihrem Debüt bei den Salzburger Festspielen 2012, dort allerdings in einer Freilicht-Aufführung im Residenzhof, und ihrem Rezital im Rahmen der Debüt-Reihe des Lucerne Festival 2013 hat ihre Stimme merklich an Kontur gewonnen. In ihrem glockigen Ansatz erinnert sie noch immer an jene von Edith Mathis, einer anderen Luzernerin, das besorgt ihr einen ganz eigenen Reiz. Inzwischen jedoch hat sich das Farbenspektrum erweitert und hat sich auch das Volumen vergrössert – ohne dass die Eigenheiten des Timbres verlorengegangen wären. Nach wie vor bringt Regula Mühlemann neben der ganz selbstverständlichen Beweglichkeit einen ungewöhnlichen Reichtum an Obertönen ein und kennt sie eine Kultur des Leisen, wie sie gerade in der Oper nicht eben häufig anzutreffen ist. Der Vergleich ist zu hoch gegriffen, das versteht sich, aber man darf ihn wagen – und ihren vokalen Charakter in jenem Bereich ansiedeln, der von Alfredo Kraus so eindrucksvoll repräsentiert wurde.

Der Luzerner Produktion von Gounods «Roméo et Juliette» bringt das manchen Vorteil. Natürlich ist der Enthusiasmus der ersten Liebe spürbar, gewiss geht die Verzweiflung über den unglücklichen Ausgang des glücklichen Aufbruchs direkt unter die Haut – aber ihren besonderen Zug erhält die Luzerner Juliette durch das Zarte, das Scheue, die Innigkeit, die Regula Mühlemann der Partie entlockt. Sie bildet damit den perfekten Gegensatz zu dem in italienischer Manier stemmenden Tenor von Diego Silva, der seinem Roméo etwas unerhört Drängendes verleiht. Das szenische Potential, das sich aus dem vokalen Kontrast ergibt, hat der junge Regisseur Vincent Huguet geschickt zu nutzen gewusst. Er nimmt ihn insofern auf, als er der Liebe über die Grenzen eine Familienfehde hinaus die in ihren Normen und ihren Ansprüchen erstarrte Gesellschaft der Capulets und der Montaigus gegenüberstellt. Zeugnis davon bieten die allgegenwärtigen Gipsstatuen, mit denen die Bühnenbildnerin Aurélie Maestre die Szenen strukturiert, vor allem aber die körperlichen Konfrontationen; die Kampfszene zwischen Mercutio (Bernt Ola Volungholen) und Tybalt (Robert Maszl) wie jene zwischen Tybalt und Roméo entwickeln jedenfalls gewaltige Sprengkraft.

Ihre Energie gewinnt die Produktion nicht zuletzt durch die sorgfältig ausgestalteten Figuren, die das Ensemble rund um die beiden Protagonisten bilden. Jason Cox versieht den Chef des Hauses Capulet mit herrischen Zügen, als Frère Laurent zeigt Vuyani Mlinde einen Geistlichen, der das Lavieren beherrscht, aber doch eindeutig handelt, während Flurin Caduff der undankbaren Rolle des Grafen Pâris mit allem Sinn für Komik begegnet und Abigail Levis aus dem jungen Stéphano einen tollen Feuerkopf macht. Bisweilen schiesst der Regisseur übers Ziel hinaus, etwa in der eröffnenden Ballszene, die mit ihrer zu vollen Bühne und den zu überdrehten Bewegungsmustern provinziell wirkt, oder im Finale, wo des Ringens und Stöhnens zu viel ist. Das ist Oper von gestern; in ihrem Grundzug bleibt die Deutung aber absolut heutig.