Mozart? Ja, nichts als Mozart

 

Von Peter Hagmann

 

«Le Concert de la Loge» – die Bezeichnung auf der hier und jetzt angezeigten CD bedarf der Aufklärung. Sie bezieht sich auf eine weit zurückliegende Zeit und spricht von einem bestimmten Mass an Exzellenz. Das ruft nach einem eröffnenden Exkurs.

Unter den Orchestern der Zeit Wolfgang Amadeus Mozarts nahm die Mannheimer Hofkapelle eine besondere Stellung ein; dank der prominenten Mitglieder, der Besetzungsstärke und der institutionellen Verankerung am Hof des musikliebenden Kurfürsten Carl Theodor wurde die Formation als eine der besten in ganz Europa bewundert – mehr noch als die von Joseph Haydn geleitete Kapelle des Fürsten Esterházy in Eisenstadt. Als Carl Theodor 1770 im Rahmen einer Nachfolgeregelung seinen Hof nach München verlegen musste, nahm er sein Orchester mit und fusionierte es mit dem in München ansässigen Ensemble. Ihren Glanz von ehedem sollte die erweiterte Hofkapelle jedoch nicht mehr erreichen.

Das wurde umso spürbarer, als in Paris bedeutende Konkurrenz entstand. Dort wurde 1780 von zwei einflussreichen Musikliebhabern ein neues Orchester gegründet. «Le Concert de la Loge Olympique» nannte es sich; tatsächlich stand hinter dem Orchester, das bald das Mass aller Dinge wurde, die Freimaurerloge «de la Parfaite Estime & Société Olympique». Aus diesem Kreis kam 1785 der Auftrag an Joseph Haydn, sechs Sinfonien für das neue Orchester zu schreiben. Es waren die «Pariser Sinfonien», die 1787 in den Tuilerien mit grossem Effekt aus der Taufe gehoben wurden.

Daran wollte Julien Chauvin erinnern. Von Grund auf in der historisch informierten Aufführungspraxis aufgewachsen, hatte der französische Geiger 2005 zusammen mit dem Dirigenten Jérémie Rhorer das Originalklangorchester Le Cercle de l’Harmonie gegründet und es zehn Jahre lang geleitet. 2015 wollte er nochmals neu beginnen und dabei explizit an die grosse französische Musiktradition des 18. Jahrhunderts anschliessen. Er gründete sein eigenes Ensemble und gab ihm den Namen des berühmten Orchesters von damals. Le Concert de la Loge Olympique machte rasch Aufsehen. Allerdings hatte Chauvin nicht mit dem französischen Olympischen Komitee gerechnet. Die Institution aus der Welt des Sports hatte keinen Sinn für das Wortspiel und sein Bedeutungsfeld; sie ging vor Gericht und erreichte, dass das Adjektiv in der Bezeichnung des neuen Orchesters gestrichen werden musste. Darum heisst die Formation jetzt einfach «Le Concert de la Loge».

Die Ambition, die das gestrichene Adjektiv andeutet, der selbstbewusste Blick auf den Gipfel der Gipfel, sie bleibt bestehen, auf der neuen CD des Concert de la Loge ist es zu hören. Sie bietet ein reines Mozart-Programm – eines, wie es das traditionelle Abonnementskonzert nur noch mit schlechtem Gewissen zu bringen wagt: «Figaro»-Ouvertüre, Violinkonzert Nr. 3, «Jupiter»-Sinfonie (übrigens: D-dur, G-dur, C-dur). Aber was für Entdeckungen sind hier zu machen. 45 Mitglieder zählt Le Concert de la Loge hier, 22 Streicher, 12 Bläser, eine Pauke; Julien Chauvin dirigiert als Solist im oder als Dirigent vor dem Orchester – ein bisschen ähnlich, wie es der Geiger und Winterthurer Chefdirigent Roberto González-Monjas tut. Und das Team an den Pulten mit seinen (leider nicht im einzelnen angeführten) Instrumenten aus dem Geist des späten 18. Jahrhunderts agiert mit einer Geschlossenheit, einer Agilität und einer Spielfreude, dass man beim Zuhören förmlich abhebt.

Bei der Sinfonia zu «Le nozze di Figaro» nimmt Julien Chauvin das von Mozart vorgegeben Presto mit Wagemut beim Wort. Aber trotz dem hochgetriebenen Tempo bleibt Raum für die deutlich wahrnehmbare Umsetzung der ganztaktigen Phrasierungen, die das Auf und Ab im Unisono der Streicher und der Fagotte mit drängender Energie versehen. Dem Anfang folgen vier Takte, die den Bläsern und ihren kernigen Farben gehören, während die fünf Celli und die beiden Bässe ein locker federndes Fundament legen. Dann: das erste Tutti. Scharf das oktavierte «d» der beiden Trompeten, doch kaum haben sie ihren Akzent gesetzt, ziehen sie sich vornehm in den Gesamtklang zurück. Unerhörte Energie prägt diese Auslegung der «Figaro»-Ouvertüre, sie spricht von den wirbelnden Verstrickungen des Stücks und seiner scharfen Abrechnung mit den Gepflogenheiten des kurz vor dem Kollaps stehenden Adels.

Ähnliches gilt für das Violinkonzert Nr. 3 in G-dur KV 216. In der Auslegung durch Julien Chauvin und seine Mitstreiter verliert das Stück jede Spur jener unverbindlichen Harmlosigkeit, die ihm durch Deutungen herkömmlicher Art bisweilen zuwächst. Dafür sorgen die nicht eingeebneten, sondern explizit herausgestellten dynamischen Kontraste, auch das sorgfältige Abphrasieren durch bewusste, gezielte Gewichtsverteilung und das sprachähnliche Relief, das dadurch erzielt wird. Selten und wenn, dann als Verzierung eingesetzt wird das Vibrato – doch fällt das nicht eigentlich auf; die Schönheit des Tons, zumal jene der von Chauvin gespielten Geige von Giuseppe Guadagnini aus dem Jahre 1780, ergibt sich hier mehr aus dem Ziehen der Töne, das enorme Sinnlichkeit erzeugt. Auffallend auch die vergleichsweise trockene Spielweise insgesamt. Sie schafft den Boden für das Legato, das, wenn es erst einmal eingesetzt wird, besonders ausgespielt wirkt. Schliesslich die von Chauvin in seinen Part eingefügten Auszierungen und die Tempomodifikationen, durch welche die musikalischen Gesten unterstrichen werden – alles state of the art. Unglaublich, welch junges Gesicht das durch den Konzertbetrieb ramponierte Stück hier zeigt.

Wie viel Attraktion von dieser Art Mozart-Bild ausgeht, erweist am Ende die Sinfonie in C-dur, KV 551 – die den lateinischen Namen jenes Gottes erhalten hat, der vom Olymp aus sein Wesen getrieben hat. Auch in diesem nun wirklich mit ausreichend Rezeptionsgeschichte versehenen Werk sorgen der leichte, aber zugleich mit Biss versehene Klang, die gezogenen und in der Mitte ihrer Dauer durch einen Bauch ausgezeichneten Phrasen und die prägnante Unterscheidung zwischen Gebundenem und Gestossenem für neuartige Hörerlebnisse. Herrlich im Kopfsatz die äusserst belebte Durchführung, im zweiten Satz die Individualität der Stimmen auch bei paralleler Führung, vor allem aber der sordinierte Klang der beiden Geigengruppen und die Freiheiten, die sich der Solo-Oboist herausnehmen darf. Im strukturell anspruchsvollen Finale, das mit zugespitztem Temperament, wenn auch jederzeit mit geradezu tänzerischer Leichtigkeit angegangen wird, schliesst die Werkfolge an ihren prickelnden Anfang an.

«Simply Mozart» ist die CD von mit Julien Chauvin und dem Concert de la Loge überschrieben. Ja, nichts als Mozart – aber wie.

Wolfgang Amadeus Mozart: Ouvertüre zu «Le nozze di Figaro» KV 492, Violinkonzert Nr. 3 in G-dur KV 216, Sinfonie in C-dur KV 551 «Jupiter». Le Concert de la Loge, Julien Chauvin (Violine, Leitung). Alpha 776 (CD, Aufnahme 2021, Produktion 2021).

Mozart-Arien mit Regula Mühlemann und dem Kammerorchester Basel

Von Peter Hagmann

 

Ihre Stimme ist einfach zauberhaft. Glockenrein klingt sie, mit einem reichen Spektrum an Obertönen versehen, was ihr ausgeprägten Glanz verleiht, und dazu kommt eine weiche Rundung im Timbre, die Fülle und Opulenz erzeugt – Regula Mühlemann verfügt über eine vokale Erscheinung von hoher, ja beglückender Individualität. In mancher Hinsicht lässt sie an Edith Mathis denken, ihre ebenfalls aus Luzern stammende, zwei Generationen jüngere Kollegin. Wie ihre berühmte Vorgängerin arbeitet Regula Mühlemann mit einem Höchstmass an technischer Präzision. Jederzeit untadelig Sitz und Führung der Stimme, eindrücklich das Legato, das weite Bögen trägt – und erst die Diktion: herrlich abgefärbt die Vokale, deutlich zeichnend, aber nie schneidend die Konsonanten, dementsprechend grossartig die Verständlichkeit.

Erleben lässt es sich mit einer neuen CD: einer zweiten Sammlung von Mozart-Arien, für die Regula Mühlemann wieder mit dem Kammerorchester Basel und seinem Gastdirigenten Umberto Benedetti Michelangeli zusammengearbeitet hat. Und auch hier finden sich nicht nur bekannte Nummern wie «Deh vieni, non tardar», die Arie der Susanna aus «Le nozze di Figaro», sondern auch Raritäten wie «Amoretti, che ascosi qui siete», jene erstaunliche Cavatina aus «La finta semplice», die Mozart im Alter von zwölf Jahren komponiert hat. Den Auftakt machen «Solitudini amiche» – «Zeffiretti lusinghieri», Rezitativ und Arie der Ilia aus «Idomeneo». Sehr langsam nimmt Regula Mühlemann die Arie, sie führt aber vor, dass sie die Bögen in Spannung zu halten vermag und dass ihr Atem dafür ausreicht. Erst recht gilt das für «In un istante»­ – «Parto, m’affretto», die Klage der Giunia aus «Lucio Silla». Hier zeigt die Sopranistin nämlich ihre Kunst der ganz und gar unangestrengten Koloratur, und sie lässt dabei Perlenketten von unerhörter Ausdehnung glänzen.

Die Bewunderung für das stimmliche Vermögen der jungen Sängerin wird allerdings etwas getrübt durch Defizite in der künstlerischen Ausformung. Mit dem Kammerorchester Basel steht Regula Mühlemann ein Ensemble zur Seite, das über lange Erfahrung im Bereich der alten Musik verfügt und im Instrumentalen bemerkenswerte Horizonte eröffnet. Im Vokalen werden sie zu wenig aufgenommen. Während das Orchester, das in alter Technik, auch in tieferer Stimmung spielt, hörbar macht, wie der reine, gerade Ton eine Dissonanz würzt, pflegt die Sängerin im Grunde jenes durchgehende Vibrato, das in der Vergangenheit geradezu Pflicht war und in der Gesangskunst von heute noch immer lebt, aber doch längst hinterfragt ist. Inzwischen setzen viele Sängerinnen und Sänger auf Differenzierungen im Gebrauch des Vibratos und nutzen erfolgreich die damit verbundenen Erweiterungen des Ausdrucksspektrums. Dasselbe gilt für das sprechende Singen, dem Regula Mühlemann, auch dies gemäss einer Norm von gestern, das ungebrochene Legato vorzieht. In «Ach, ich fühl’s, es ist verschwunden», der schmerzerfüllten Arie der Pamina aus dem zweiten Akt der «Zauberflöte», ruft sie nach Tamino und zieht dabei die dritte Silbe des Namens betont in die Länge, obwohl sie nur ein Achtel dauern und in Pausen führen soll. Es gibt also noch Potential in der schon jetzt hohen Kunst der Sängerin. Und es ist nicht daran zu zweifeln, dass Regula Mühlemann in dessen Erkundung weiter gewinnen könnte.

Mozart Arias II. Regula Mühlemann (Sopran), Kammerorchester Basel, Umberto Benedetti Michelangeli (Leitung). Sony Classical 19439752372 (CD, Aufnahme 2020, Publikation 2020).