Vom Leben, vom Tod

Monteverdis «L’Orfeo» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Orfeo (Krystian Adam) und La Speranza (Simone McIntosh) an der Pforte zur Unterwelt / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Die Toccata zu Beginn des Stücks, sie erklang als ein regelrechter Weckruf – und als solcher wirkte und wirkt sie bis heute. Fast fünfzig Jahre sind vergangen, seit das von Claus Helmut Drese geführte Opernhaus Zürich mit der Produktion von «L’Orfeo» unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt und Jean-Pierre Ponnelle den entscheidenden Anstoss zur Wiederentdeckung Claudio Monteverdis, ja eines ganzen Teils der Musikgeschichte gegeben hat. Die alte Musik hat sich zu einem eigenen Sektor im musikalischen Leben entwickelt, mit eigenen, spezialisierten Interpreten, eigenen Festivals, eigenen Labels und vor allem mit einer eigenen, ebenso in die Tiefe wie in die Breite gewachsenen Stilistik. Obwohl Harnoncourt, rasch zur Galionsfigur der Bewegung geworden, von allem Anfang an betont hatte, es gehe nicht um musikalische Archäologie, sondern um die Wiedergewinnung einer vergessenen Kunst für das Hier und Jetzt, musste doch einige Zeit vergehen, bis die historisch informierte Aufführungspraxis diesen Aspekt zuzulassen und zu verinnerlichen in der Lage war. Heute hat das Spektrum der Interpretation alter Musik ungeahnte Vielfalt erlangt.

Zu erleben ist das in der neuen Produktion von Monteverdis «L’Orfeo», die das Opernhaus Zürich in seinen Spielplan aufgenommen hat. Geradezu verhalten, zurückgenommen wirkt die eröffnende Toccata; sie wird erst von den Zinken und den Posaunen allein, dann von den Streichern mit dem Basso continuo, schliesslich vom gesamten Orchester dargeboten. Der Weckruf war gestern, heute gilt es der Interpretation. In der feinfühligen, gescheiten Sichtweise des Regisseurs Evgeny Titov setzt sie auf eine Dramaturgie des Rückblicks, und das nimmt des hauseigene Barockorchester La Scintilla mit Ottavio Dantone als Dirigenten am Cembalo in beeindruckender Weise auf. Das Leise herrscht vor, man muss die Ohren spitzen, kann dann aber eintauchen in eine musikalische Welt voller Farben – dies nicht zuletzt dank dem reich besetzten, geschmeidig agierenden Basso continuo. Ist die Toccata vorbei und hat auch die allegorische Einleitung durch La Musica, die in der Darstellung der wunderbaren Sopranistin Josè Maria Lo Monaco Trost und Kraft verspricht, ihr Ende gefunden, sieht man Orfeo auf einem Steinbrocken sitzen und mit einer Pistole spielen, neben sich den blütenweissen Sarg mit der toten Euridice drin.

Es ist das Gegenteil dessen, was Monteverdis Partitur vorgibt. Die ausgelassene Hochzeit zwischen Orfeo und Euridice, der fatale Schlangenbiss, Orfeos Gang in die Unterwelt, der endgültige Verlust Euridices, das hat alles schon stattgefunden. Was den neuen Zürcher «Orfeo» bestimmt, ist der Blick zurück in die unmittelbare Vergangenheit mit den Momenten des allerhöchsten Glücks und der allertiefsten Verzweiflung. Ist das Eintauchen in die seelische Verfasstheit eines Menschen, in der es nichts als Wunden gibt. Das Bühnenbild von Chloe Lamford und Naomi Daboczi spricht davon. Es zeigt zwei riesige verkohlte Baumstämme oder, wenn man will, zwei enorme dunkelgraue Lavabrocken. Der Eingang zur Unterwelt wird angedeutet durch eine frei im Raum stehende, zweiflüglige Tür in barocker Formensprache; ihr Medaillon über dem Türrahmen zeigt das Gesicht des Schiffers Caronte, das mit einem Mal zu singen beginnt. Dem prachtvollen Bariton von Mirco Palazzi, dem man wenig später in der Partie des Totengottes Plutone wieder begegnet, hält Orfeo all seine Kunst entgegen – Krystian Adam gestaltet seine Partie aus ungeheurer Empathie und einer Emotionalität heraus, die ganz direkt berührt. Jedenfalls erliegt ihr nicht nur der Fährmann am Flusse Styx, sondern auch Proserpina; was Simone McIntosh mit ihrem lieblichen Timbre an Wärme in das ganz in kalter Sachlichkeit gehaltene Intérieur der Chefetage im Totenreich einbringt, ist von ergreifender Wirkung.

Eine Schrecksekunde nur dauert die Grenzüberschreitung, der von Plutone ausdrücklich verbotene Blick, den Orfeo seiner Euridice schenkt und sie dadurch endgültig verliert. Miriam Kurowatz, von der Kostümbildnerin Annemarie Woods ganz in Weiss gekleidet, gibt die Euridice als Lichtgestalt, Orfeo dagegen versinkt in schwere Depression. Ottavio Dantone nimmt den Ansatz des Regisseurs subtil auf; zart und weich klingt dieser «Orfeo», darin liegt auch ein Moment jenes Trostes, den La Musica zu Beginn angesprochen hat. Orfeo hilft es nicht. Wenn zum Schluss sein Vater Apollon auftritt, kommt durch das sternenglitzernde Kostüm des Gottes und die glänzenden Lineaturen seines Darstellers Mark Milhofer ein helles Licht in das düstere Geschehen. Und noch einmal zeigt die von Marco Amherd vorbereitete Zürcher Sing-Akademie, in welch entscheidender Weise sie die Produktion belebt – diesmal aus hoch gelegenen Logen im halb erleuchteten Zuschauerraum. Dann: Blackout, ein Schuss im Dunkeln, eine letzte Kadenz – von lieto fine keine Spur. Ein Abend geistreich interpretierenden Musiktheaters.

Robert Carsen – Handwerk und Kunst

 

orfeo
Charon (Nicolas Courjal) steuert auf Orpheus (Fernando Guimarães) zu: «L’Orfeo» von Claudio Monteverdi in der Oper Lausanne / Bild M. Vanappelghem, Opéra de Lausanne

 

Peter Hagmann

Den Mythos ins Präsens gesetzt

Monteverdis «Orfeo» mit Ottavio Dantone und Robert Carsen in Lausanne

 

Eigenartig fern ist die Geschichte von jenem jungen Mann, der seine heiss geliebte, eben geehelichte, wenig später jedoch durch einen Schlangenbiss wieder verlorene Gattin aus der Unterwelt ins Leben zurückzuholen sich vorgenommen hat. Und dies durch die Kraft der Musik, auf die er sich als Sänger und Virtuose auf der Lyra wie kein Zweiter versteht. Claudio Monteverdi hat den Mythos von Orpheus und Eurydike vor gut vierhundert Jahren in eine Oper gefasst – als eines der ersten Stücke dieser Gattung. In der Opéra de Lausanne ist von Distanz nicht das Geringste zu spüren, das Geschehen wirkt musikalisch wie szenisch so präsent, als entstamme es der Gegenwart.

Das ist es, was Robert Carsen in einer ganz besonderen Weise kann. Vor dreissig Jahren hat der kanadische Regisseur in Lausanne seine erste grosse Operninszenierung vorgelegt – nicht weniger als «Ariadne auf Naxos» von Richard Strauss. Jetzt ist er, berühmt geworden, allerorts begehrt, aber frei von jeglicher Starallüre, an den Ort seines Aufbruchs zurückgekehrt. Und hat vorgezeigt, in welchem Mass ihm handwerkliches Können und künstlerisches Empfinden zugewachsen sind. Ersteres erweist sich zu Beginn: dort, wo «L’Orfeo» noch nicht wirklich Oper ist. Weit offen hält Radu Boruzescu die Bühne, der Boden ist mit Blütenblättern in Rot-, Gelb- und Grüntönen bedeckt, und in der gleichen Farbskala sind die sommerlichen Kostüme gehalten, die Petra Reinhardt für die fröhlich tanzende Gruppe junger Leute entworfen hat. Unter ihnen mit Orpheus und Eurydike das junge Paar, dessen Liebe noch scheu wirkt. Das ist jener Ästhetizismus, der jedem Verächter des Regietheaters Labsal schafft.

Wie das tragische Schicksal seinen Lauf nimmt, verdüstert sich das Bild – grossartig, wie effektvoll Carsen hier als sein eigener Beleuchtungsmeister Gegen- und Seitenlicht einsetzt. Als eine ausstrahlungsmächtige, stimmlich souveräne Botin verkündet Josè Maria Lo Monaco den Tod Eurydikes. Womit in die schönen Bilder Carsens jene scharf gezeichneten Charaktere treten, die diesem Regisseur immer wieder gelingen, selbst im Umfeld eines eben nur scheinbar fernen Mythos. In seiner Verzweiflung, in seinem Aufbegehren gegenüber den Mächten der Unterwelt wird Orpheus zu einem Menschen von bebender Vitalität, und zugleich zeigt sich Fernando Guimarães den heiklen stilistischen Anforderungen seiner Partie hervorragend gewachsen – was die begrenzte Dynamik seiner Stimme vergessen lässt.

Mit Nicolas Courjal, der einen glänzenden Bass von präziser Lineatur ins Spiel bringt, stellt sich dem fordernden Orpheus die Unerbittlichkeit des Todes entgegen, doch führt die Kraft der Musik dazu, dass sowohl beim Schiffer Charon als auch bei Pluto, dem Herrscher der Unterwelt, das Eis des Amtes rasch schmilzt. Selbst Plutos Frau Proserpina, von Delphine Galou mit klangvoller Tiefe gesungen, entdeckt wieder die Reize des Erotischen; sie überlässt ihrem Gatten erst maliziös einen Lederhandschuh, bevor sie ihn dann ihren schweren schwarzen Umhang abstreifen lässt. Das alles auf einem Boden, der tief unten liegt und darum von Wasser bedeckt ist – das gehört zur Prägnanz der szenischen Bilder, mit denen Carsen zu arbeiten pflegt.

Dort aber kommt es dann zu jenem Moment, da Eurydike ihrem Gemahl in das vermeintlich wiedergewonnene Leben folgt. Die Insistenz, mit der Federica Di Trapani die Augen auf den Rücken des vorangehenden Mannes heftet, schafft ein Theaterbild, das sich der Erinnerung einprägt – genau gleich, wie es die Intensität tut, mit der sie ihre Hingabe in Klang fasst. Überhaupt steht der Abend im Zeichen einer innigen Verbindung zwischen dem Szenischen und dem Musikalischen. Robert Carsen reagiert sensibel auf die überraschenden Harmoniewechsel in Monteverdis Musik, und Ottavio Dantone am Pult bereitet ihm den Boden dafür.

Der italienische Cembalist, der zusammen mit seinen Mitstreitern an Harfe, Laute, Gitarre, Theorbe, Orgel und Regal für einen äusserst farbenprächtigen, vielgestaltigen Generalbass sorgt, hält das Geschehen bisweilen nur mit der Linken zusammen, formt es aber jederzeit entschieden. Dass das Orchestre de Chambre de Lausanne auf konventionellen Instrumenten spielt, natürlich ergänzt durch Zinken und alte Posaunen, ist nicht wirklich von Belang; entscheidend ist vielmehr der Geist – und es ist der einer historisch informierten Aufführungspraxis neuer Generation. Da ist nichts mehr zu beweisen oder gar durchzusetzen wie 1975, als Nikolaus Harnoncourt «L’Orfeo» am Opernhaus Zürich der Jetztzeit wieder erschlossen hat. Deshalb neigt auch nichts zum Demonstrativen. Das Sprechende gerät vielmehr ganz selbstverständlich, flüssig und geschmeidig. Und die fremdartigen Harmonien wie die immer wieder überraschend eintretenden Dissonanzen fügen sich zu einem Ganzen, das von tief berührender Wirkung ist.

Vorstellungen bis 12. Oktober.