Aus der Versenkung geholt

«Guercœur» von Albéric Magnard
an der Opéra national du Rhin in Strassburg

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Klara Beck, Opéra national du Rhin Strasbourg

Die Idee muss man haben. Die richtigen Künstler sind zu gewinnen. Die Produktion muss gegen Bedenken verteidigt werden. Das alles ist Alain Perroud gelungen – und so hat der derzeitige Intendant der Strassburger Nationaloper (und designierte Nachfolger Aviel Cahns am Genfer Grand Théâtre) seinem Haus einen überwältigenden Erfolg beschert. Und dem Komponisten Albéric Magnard (1865 bis 1914) wie seiner vollkommen vergessenen Oper «Guercœur» (1901) – sie ist seit der Pariser Uraufführung von 1931 in Frankreich nie mehr gespielt worden – möglicherweise den Eintritt ins Repertoire eröffnet.

Magnard? «Guercœur»? Da muss zunächst die Faktenlage geklärt werden, was anhand des umfangreichen, informativen Programmbuchs der Opéra national du Rhin ohne Schwierigkeit getan werden kann. Auf dem Hügel von Montmartre als Sohn eines Pariser Journalisten geboren, wächst Albéric Magnard nach den massiven Umwälzungen von 1870/71 in den turbulenten Jahren der Troisième République auf. Eine grossbürgerliche Jugend. Er studiert Jurisprudenz, absolviert seinen Militärdienst – und fährt 1886 nach Bayreuth, wo er «Tristan» und «Parsifal» hört und sich danach zu einem Leben als Komponist entscheidet. Nach der Ausbildung am Pariser Konservatorium und als Privatschüler bei Vincent d’Indy baut er in stetem Fluss sein Œuvre mit Opern, Sinfonien, Kammermusik, Liedern. Und wird auch aufgeführt. Daneben schreibt er Musikkritiken im «Figaro», der vom Vater als Chefredaktor geleiteten Tageszeitung. Von der Pariser musikalischen Gesellschaft mit ihren Salons und ihren Eitelkeiten hält er sich fern, was sich nach dem frühen Tod des Vaters 1894 rächt – jedenfalls wird dann seine Musik in Paris kaum mehr gespielt.

Mehr und mehr zieht sich Magnard von der tonangebenden Schicht in Paris zurück. Er beendet seine Tätigkeit als Musikkritiker, stellt sich dafür aktiv hinter den Schriftsteller Emile Zola nach dessen Artikel «J’accuse…!», der die von Antisemitismus geprägte Affäre rund um den Offizier Alfred Dreyfus auslöst. Und er schliesst er sich der Schola Cantorum an, unterrichtet kurze Zeit dort und veröffentlicht, um den Musikverlagen aus dem Weg zu gehen, seine Werke im Eigenverlag, dies im Rahmen einer von der Schola betriebenen Genossenschaft. 1904, unterdessen ist die Oper «Guercœur» entstanden, bezieht Magnard mit seiner Familie ein Haus in Baron, einem kleinen Dorf nördlich der Capitale.

Dort ereilt ihn sein tragisches Schicksal. Wie am 4. September 1914, die Familie hatte der Komponist bei Verwandten in Sicherheit gebracht, deutsche Soldaten auf dem Einmarsch in Frankreich vor dem verbarrikadierten Haus erscheinen, erschiesst Magnard deren zwei, worauf die Deutschen das Anwesen in Brand setzen und der Komponist mitsamt einem Grossteil der unveröffentlichten Werke verbrennt. Nach Kriegsende wird er als Held gefeiert, wird die Rue Richard Wagner im Seizième auf Anregung von Anwohnern in Rue Albéric Magnard umbenannt. Seinem Werk bringt das wenig.

Raub der Flammen wurde damals auch die handschriftliche Partitur von «Guercœur». In Abschrift erhalten blieb der zweite von drei Akten, von den Eckteilen gab es nur mehr den Klavierauszug – den der Dirigent Guy Ropartz, ein enger Freund Magnards, aus der Erinnerung orchestrierte und damit eine Aufführung überhaupt erst ermöglichte. Am 24. April 1931 wurde «Guercœur» an der Opéra de Paris aus der Taufe gehoben. Nach elf Vorstellungen verschwand das Werk in der Versenkung. Aus der hat sie die Strassburger Rheinoper nun ans Licht geholt und mit einer mustergültigen, ebenso anregenden wie bewegenden Produktion gezeigt, was für ein Meisterwerk in den Kanon aufzunehmen wäre.

Unter der Leitung von Ingo Metzmacher klingt das Orchestre philharmonique de Strasbourg so akkurat, ja brillant wie schon lange nicht mehr; und keinen Wunsch lässt der von Hendrik Haas trefflich vorbereitete Opernchor offen. Metzmacher spielt Magnards sehr individuelle Reaktion auf die Musiksprache Wagners voll aus, der Dirigent lässt auch den symphonischen Zug der Partitur, die zahlreiche Orchesterzwischenspiele enthält, ungeschmälert zur Geltung kommen. Zugleich arbeitet er aber ebenso sogfältig an der französischen Klanglichkeit, die vielleicht am ehesten in der Behandlung der Bläser zu Ausdruck kommt. Man muss sich etwas einhören; ist das gelungen, kann man hier schönste Musik der französischen Spätromantik entdecken – Musik jenseits des «wagnérisme» eines César Franck, aber auch fern der Tendenzen zum Aufbruch bei Debussy und Ravel. Durchwegs höchststehend auch die Besetzung der Vokalsolisten mit Stéphane Degout an der Spitze, der mit seinem hell strahlenden Bariton und seiner starken szenischen Ausstrahlung die Titelpartie mit einem eindrucksvollen Profil versieht.

Das ist darum von Bedeutung, weil sich in der Figur von Guercœur, der eigenartige Name setzt sich zusammen aus «Krieg» und «Herz», in gewisser Weise der Komponist selbst spiegelt – mit seinem Naturell und seinen Idealen. Das von Magnard selbst erdachte und verfasste Libretto erzählt von einem Mann, der die Liebe seines Lebens gefunden und als Politiker sein Volk von Tyrannei und Knechtschaft befreit hat, der aber auf der Höhe seiner Existenz einen plötzlichen Tod erleidet. «Guercœur» beginnt also mit einem toten Helden, schon das ist ungewöhnlich. Und der erste Akt spielt im Himmel, aber nicht bei Gott und den Engeln, das wäre dem erklärten Laizisten Magnard zuwider gewesen, vielmehr in einem Paradies, in dem Zeit und Raum aufgehoben sind und aus der Mythologie genährte Figuren wie La Vérité (imposant Catherine Hunold), La Bonté (Eugénie Joneau), La Beauté (Gabrielle Philiponet) und La Souffrance (Adriana Bignagni Lesca mit klangvollem Alt) den Ton angeben. Dort, im Kreis der Schatten, ist es Guercœur herzlich langweilig, er möchte zurück ins Leben und seine Mission wiederaufnehmen. Was ihm von La Vérité gewährt wird.

Der Regisseur Christof Loy zeigt diesen Beginn vor einer schwarzen Wand. Quer zieht sie der Bühnenbildner Johannes Leiacker durch den ansonsten leeren Raum. Und in choreographischer Personenführung bewegen sich die von Ursula Renzenbrink gewandeten Darstellerinnen und Darsteller durch das sich langsam entwickelte Geschehen. Umso herber die Rückkehr Guercœurs im seinerseits dreiteilig gehaltenen zweiten Akt, für den die Wand weiss wird und durch einen Spalt ein Stück heiler Natur sehen lässt. Zwei Jahre nach seinem Tod findet der Held seine so innig geliebte Gattin Giselle (Antoinette Dennefeld) in den Armen seines Schülers und Nachfolgers Heurtal (Julien Henric), und der vertritt das Gegenteil der bei seinem Meister erlernten Ideale der Aufklärung. Heurtal ist vielmehr ein Populist, der fies manipuliert, brutal nach der Macht greift und sich vom Volk erst zum Konsul und dann zum Tyrannen ernennen lässt. Was Christof Loy hier an Spannung zwischen den Figuren erschafft , wie er den Akt aufheizt, bis die Masse ihren Retter von ehedem zu Tode schlägt, ist von einer Wirkung sondergleichen. Geläutert kehrt Guercœur ins Paradies zurück, wo ihm La Vérité die Utopie eines wahrhaft menschlichen Daseins vor Augen führt – eines Daseins ohne Konflikte, in einem Gleichgewicht der Kräfte, im Zeichen von Freiheit und Wertschätzung für Nächsten.

Spätestens hier, nach einem intensiven Opernabend, ist nicht zu übersehen, was «Guercœur», das Werk Albéric Magnards von 1901, mit dem hic et nunc zu tun hat.

Identität und Camouflage

Verdis «Falstaff» an den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Regieassistent fliegt, Orson Welles schimpft, Falstaff beobachtet / Bild Ruth Walz, Salzburger Festspiele

Das Einzige, was Christoph Marthaler zu seiner Inszenierung von Giuseppe Verdis «Falstaff» an den Salzburger Festspielen vorgehalten werden könnte, ist das Zuviel. Ein Zuviel des Szenischen. Gewiss, die breite Bühne des Grossen Festspielhauses fordert ihren Tribut; soll nicht leerer Raum dominieren, gibt es nichts anderes als Betriebsamkeit. Und natürlich bietet «Falstaff» trotz kammermusikalischer Anlage so viel Personal auf, dass sich das va-et-vient beinah von selbst ergibt. Nur: Aktiv zuzuhören und wach wahrzunehmen, es fiel schwer an diesem Abend. Das ist bedauerlich.

Denn Verdis Partitur hat es in sich; sie bietet mehr als den Spass, den der Schlusschor besingt, auch mehr als die heilige Einfalt, die sich in mancher Inszenierung breitmacht, zum Beispiel in jener von 2013 an den Salzburger Festspielen mit dem quirligen Regisseur Damiano Michieletto und Zubin Mehta am Pult. «Falstaff» ist ein Stück sprühender Imagination und höchststehenden Handwerks, musikalisch reich an Anspielungen und struktureller Komplexität – ein aufschlussreicher Text des Verdi-Spezialisten Anselm Gerhard im Programmbuch vermittelt einen Eindruck davon. Wer trotz der Absorption durch die Bühne ein Ohr offen hatte, konnte das Potential wahrnehmen, denn Ingo Metzmacher, bekannt für seinen luziden Verdi-Ton, setzte auf Leichtigkeit, legte die Stränge frei und behielt, zumal in den grossen Ensembles wie in der achtstimmigen Schlussfuge, die sich zum Teil eklatant widerstrebenden Verläufe souverän im Griff. Die Wiener Philharmoniker, die bekanntlich auch sehr anders können, standen einhellig an der Seite des Dirigenten und schöpften aus ihrer immer wieder erstaunlichen Wandelbarkeit.

Je weiter der Abend voranschritt, desto deutlicher wurde, dass Christoph Marthaler mit seiner unverkennbaren, zirzensischen Handschrift auf exakt denselben Pfaden wandelte wie der Dirigent. Er liess sehen, auf wie vielen ganz unterschiedlichen Ebenen sich «Falstaff» ereignet. Das gelang ihm, indem er eine weitere Ebene einzog – eine schillernde Ebene des Interpreten, die Distanz schuf und den Blick schärfte. Das Zauberwort hierfür heisst: Orson Welles. Der Schauspieler und Regisseur, von seinem Äusseren und seinem Lebensverhalten her dem Titelhelden von Verdis Oper nicht unähnlich, hat sich verschiedentlich mit der Figur des Falstaff beschäftigt, auch und gerade mit Fragen nach seiner Identität. Tja, wer genau ist Falstaff? Ist er tatsächlich einfach ein beleibter Ritter a.D., der aus Lust oder aus Not den Schürzenjäger gibt? Ist er ein Trump, wie die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz in ihrem erfrischenden Essay im Programmbuch nahelegt? Ein gemütlicher, ein bisschen lächerlicher Kerl, aber doch ein Macho, der am Ende mit kurzen Hosen dasteht? Und damit ein Verwandter zumindest von Graf Almaviva aus Mozarts «Figaro»  (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 09.08.23)?

Aber wer ist Falstaff auf der Bühne (und in den Kostümen) von Anna Viebrock? Gerald Finley vielleicht? Nicht doch. Von einem umgebundenen Dickbauch will der hochgewachsene, elegante Kanadier nichts wissen; mit barscher Geste weist er die Assistentin, die ihm das Ding schmackhaft zu machen sucht, in die Kostümabteilung zurück. Er singt auch äusserst gepflegt, ja vornehm, mit sonorem Klang und tadelloser Ausgestaltung. Zugleich tummelt sich jemand auf der Bühne, der mit seinem gewaltigen Bauch sehr an Falstaff erinnert. Er ist es jedoch nicht wirklich, er ist vielmehr Orson Welles (Marc Bodnar), der, das halbvolle Whiskyglas in der Hand und immer wieder gestenreich verzweifelnd, in einem Film über Falstaff Regie zu führen sucht. Marthaler hat ihn als sein alter ego ins Geschehen eingeführt. Und zu sehen ist eine Art «Making of».

Spielort ist ein FiImset mit notdürftigen Kulissen, links ein Vorführraum für die Begutachtung erster Ausschnitte, in der Mitte das nur wenig möblierte Gasthaus «Zum Hosenband», rechts eine Andeutung des Gartens der Familie Ford mit einem leeren, aber wohl doch gepolsterten Bassin, in das immer mal wieder jemand hineinfällt, nur nicht der Protagonist, denn in den Wäschekorb flüchtet nicht er, in ihn setzt sich immer und immer wieder ein wendiger Regieassistent (Joaquin Abella). «Falstaff» ohne korrekt gefüllten und richtig ausgeleerten Wäschekorb – das geht natürlich ebenso wenig wie «Lohengrin» ohne Schwan. Weshalb auch in der zweiten Vorstellung das Publikum in ein wütendes Buh zuhanden des nicht mehr anwesenden Regisseurs ausbrach.

Zu Unrecht. Der neue Salzburger «Falstaff» ist (bei allem optischen Überangebot) Massarbeit vom Feinsten. Schon allein darum, weil sich das clowneske Naturell Christoph Marthalers in so lustvoller Präzision auslebt, wie es bei diesem eminenten Theaterkünstler der Fall sein kann. Den Höhepunkt diesbezüglich bildet jener Moment im zweiten Akt, da Mister Ford, als Signor Fontana verkleidet, den in Geldnöten steckenden Falstaff dafür gewinnt, für ihn, den camouflierten Ehemann, die eigene Gattin zu einem Stelldichein zu animieren – was Falstaff, schwer von Begriff und nichtsahnend, noch so gerne übernimmt. Als Ford bietet Simon Keenlyside, stimmlich in blendender Verfassung, schauspielerisch ganz auf seiner Höhe, ein wahres Kabinettsstück.

Darstellerisch etwas weniger ausgeprägt das Damenquartett, dafür singen Elena Stikhina (Mrs. Alice Ford), Cecilia Molinari (Mrs. Meg Page), Giulia Semenzato mit ihrem hellen, leichten Timbre als Nannetta sowie Tanja Ariane Baumgartner mit ihrer herrlichen Tiefe in der Partie der Vermittlerin Mrs. Quickly allesamt vorzüglich. Das fällt darum ins Gewicht, weil die Inszenierung auch in diesem Fall musikalisch fundiert ist – Marthaler hört gut zu, bevor er seinem Theatersinn Lauf lässt. Je mehr der Librettist Arrigo Boito das Tempo anzieht und je dichter die Partitur wird, desto mehr lichtet sich die Bühne, bis der junge Fenton (Bogdan Volkov, sehr anrührend) sein Ständchen vortragen kann. Erreicht die Verwirrung im Park von Windsor (auch an diesem Moment lässt Mozarts «Figaro» grüssen) ihren Höhepunkt, rollt ein Menschenknäuel heran, in das sich auch Falstaff verwickelt – eine szenische Metapher von eigener Drastik.

Schliesslich die achtstimmige Fuge, von der Verdi ausgegangen sein soll, als das von allen Seiten grossartig gemeisterte Finale des Abends. «Tutto nel mondo è burla, l’uom è nato burlone.» «Alles in der Welt ist Scherz, der Mensch wird als Spassmacher geboren.» Was zu beweisen war.

Seiner Entstehungszeit verhaftet und doch so gegenwärtig

«Intolleranza 1960» von Luigi Nono an den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Maarten Vanden Abeele / Salzburger Festspiele

Die Pandemie ist alles andere als überstanden – die komplexe, aber mit landesüblicher Gelassenheit durchgeführte Eingangskontrolle, die Ermahnungen, für welche die Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler höchstselbst zum Mikrophon gegriffen hat, die allgegenwärtigen FFP2-Masken in den bis auf den letzten Platz besetzten Sälen liessen keinen Zweifel daran. In der Sache selbst sind sich die Salzburger Festspiele aber treu geblieben – und dies in einem Mass, das Vorbildcharakter trägt. Dafür spricht das Memorandum, das zum Jubiläum seines hundertjährigen Bestehens im letzten Sommer von seinen leitenden Gremien für das Festival proklamiert worden ist. Mehr noch zeugt vom selbstbewussten Überlebenswillen das Programm, das es an Reichhaltigkeit und Eindringlichkeit nicht fehlen liess. Es wurde für 2020 entworfen, konnte damals der Umstände wegen jedoch nur in Teilen realisiert werden und wurde darum, ebenfalls partiell, in diesen Sommer übernommen.

«Von allem das Höchste!» – das war die Devise, die sich die Festspielgründer Max Reinhart und Hugo von Hofmannsthal vorgegeben hatten. Sie gilt noch heute, nicht nur auf dem Papier des Memorandums, sondern und erst recht in der Salzburger Dramaturgie Markus Hinterhäusers, der als Intendant in seinem fünften Sommer steht. Offenheit und Beziehungsreichtum prägen sein Programm im Gesamten wie im Einzelnen. Christian Thielemann war da, mit Strauss und Bruckner, Riccardo Muti durfte sich zu seinem achtzigsten Geburtstag und seinem fünfzigsten Salzburger Sommer feiern lassen, Cecilia Bartoli und Anna Netrebo reichten sich die Klinke. Anwesend waren und sind aber auch Johann Sebastian Bach und Morton Feldman, beide auf den ihnen gewidmeten Inseln des Innehaltens mitten im brummenden Betrieb. Von Feldman gab es mit der Sopranistin Sarah Aristidou, dem ORF-Radiosymphonieorchester Wien und dem Dirigenten Roland Kluttig mit «Neither» die 1977 uraufgeführte Nicht-Oper auf einen Text von Samuel Beckett. Und wer für die fabelhafte Aufführung die Kollegienkirche betrat, sah sich mitten im Bühnenbild zu «Don Giovanni» in der Lesart des italienischen Theaterkünstlers Romeo Castellucci. Schade nur, dass die für 2020 geplanten «Moments musicaux» nicht in diesen Sommer übernommen werden konnten. In dieser neuen, reizvoll flexiblen Konzertreihe sollten jeweils nur der Name eines Interpreten sowie Datum, Zeit und Ort bekannt sein; was von wem vorgetragen werde, sollte erst zu Konzertbeginn bekannt werden.

Nicht fehlen durfte in dem um ein Jahr verlängerten Jubiläumsprogramm Luigi Nono, der 1990 verstorbene Komponist aus Venedig, mit dem die Salzburger Laufbahn Markus Hinterhäusers vor bald drei Jahrzehnten begonnen hat. Auf «Prometeo» (1993 und 2011) sowie «Al gran sole carico d’amore» (2009) folgte als drittes der drei Musiktheaterprojekte Nonos diesen Sommer «Intolleranza 1960», die 1961 im Teatro La Fenice Venedig zu tumultuöser Uraufführung gekommene «azione scenica» auf ein vom Komponisten selbst zusammengestelltes Libretto. Das Stück atmet durch und durch den Geist seiner Entstehungszeit, textlich wie musikalisch. Als es entstand, fünfzehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war die Vergangenheitsbewältigung in Italien noch kaum in Gang gekommen, waren vielmehr, zumal für die hochsensibilisierten linken Kreise, Spuren der faschistischen Mentalität noch mit Händen zu greifen. «Intolleranza 1960» erzählt keine Geschichte, wiewohl die Rede ist von einem ausgewanderten Bergmann, der in seine Heimat zurückzukehren sucht, auf dem Weg zu einem unschuldigen Opfer von Polizeigewalt wird und schliesslich an einer Flut scheitert. Dieser minimale Erzählstrang wird zum Anlass genommen zu einem Aufschrei gegen die Brutalität, mit der Menschen gegen Menschen vorgehen – dargestellt mit den musikalischen Mitteln der Darmstädter Avantgarde, die sich Nono in sehr persönlicher Weise zu eigen gemacht hat.

In der heftigen Anklage und dem dringenden Aufruf zu einer auf gegenseitigem Respekt beruhenden Gemeinschaftlichkeit bildet «Intolleranza 1960» den radikalen Gegenentwurf zu Mozarts «Don Giovanni» (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 11.08.21), wo das entfesselte Ich herrscht – dieser Kontrast darf sich fürwahr Programmgestaltung nennen. Nonos Stück ist zwar hohe Kunst, und es ist Kunst aus einer Phase der Musikgeschichte, über die man heute gern mit Nachsicht hinweggeht, aber es trifft den Zuhörer, die Zuschauerin von heute mit aller Macht – eindeutiger könnte das Ausrufezeichen einer Institution wie der Salzburger Festspiele nicht ausfallen. Sehr wohl geht das auch auf die grandiose Realisierung in der räumlichen Weite der Felsenreitschule zurück. Am Pult der nicht nur im Orchestergraben, sondern auch auf zwei Emporen über der Spielfläche positionierten Wiener Philharmoniker sowie der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor behält der Dirigent Ingo Metzmacher die klanglichen Massierungen optimal unter Kontrolle. Als der im Mittelpunkt stehende Emigrant bringt Sean Panikkar einen blendenden hohen Tenor ins Spiel, während Anna Maria Chiuri als die erste, zurückgelassene Geliebte ihrem Zorn klangmächtig Ausdruck verleiht. Besondere Eindrücke hinterlässt Sarah Maria Sun, die als die zweite, neugewonnene Partnerin nicht nur grandios singt, sondern auch als eine äusserst sportliche Tänzerin in Erscheinung tritt.

Das alles in einer Inszenierung, die der belgische Theaterkünstler Jan Lauwers als Regisseur und Bühnenbildner (die Kostüme gehen auf Lot Lemm zurück) entworfen hat. Wie beim «Don Giovanni» von Romeo Castellucci herrschen auch hier weit ausschwingende choreographische Verläufe. Tänzerinnen und Tänzer von Needcompany, Bodhi Project und der Salzburg Experimental Academy of Dance sorgen für elegante optische Wirkungen und mehr noch für Ausbrüche körperlicher Energie, welche die musikalischen Verläufe optimal spiegeln. Ob die Szene, in welcher der zufällig in eine Demonstration geratene und dort verhaftete Emigrant gefoltert wird, so explizit gezeigt werden muss, darf offenbleiben – gerade in einer Zeit wie der heutigen, da auf dem Netz noch ganz andere Szenen konsumiert werden können. Ich glaube, dieses Kitzels bedarf es nicht, die Musik sagt genug dazu. Weitaus stärker wirkt der Moment, da der von Lauwers ins Stück eingelassene Dichter (Victor Afung Lauwers) seine Donnerstimme erhebt und ernste Fragen stellt, die vom Volk auf der Bühne mit höhnischem Gelächter beantwortet werden. Das ist, das vermag Theater.

Männermacht und Frauenleid

Salzburger Festspiele (I): Opern von Mozart, Cherubini und Enescu

 

Von Peter Hagmann

 

Die künstlerisch hochstehende Interpretation, sie versteht sich in Salzburg von selbst. Für die Begegnung mit selten gespielten, zu Unrecht verkannten Werken gilt das schon weniger. Beides zusammen aber, und dies in enger dramaturgischer Verzahnung und mit zwingendem Blick auf die Welt unserer Tage – das sind die Salzburger Festspiele im dritten Jahr der Intendanz von Markus Hinterhäuser. «Der Mythos» wölbt sich als Leitgedanke über das im Zentrum der Festspiele stehende Opernprogramm. Elektra und Medea, Ödipus und Orpheus treten auf, das durch Neptun verkörperte Meer bringt Flut und Zerstörung oder löscht lodernde Flammen. Das klingt nach solider Bildungsbürgerlichkeit, ist aber das reine Gegenteil davon. Natürlich bilden die mythologischen Erzählungen, wie Hinterhäuser sagt, «das Archiv unserer Welterkenntnis». Ebensosehr verhandeln sie aber Grundfragen menschlicher Existenz: unser Verhältnis zu den Mächten der Natur, unser Umgang miteinander. Da wird, was auf den ersten Blick als klassisches Erbe erscheinen mag, mit einem Mal zur reinen Gegenwart.

«Idomeneo»

Paula Murrihy als Idamante / Bild Ruth Walz, Salzburger Festspiele

Schon gleich in Wolfgang Amadeus Mozarts «Idomeneo», der Eröffnungsproduktion dieses Jahres, trat das zutage. Denn am Regiepult stand, wie vor zwei Jahren bei Mozarts «Clemenza di Tito», Peter Sellars. Der amerikanische Bühnenkünstler sieht «Idomeneo» als ein Stück über den Klimawandel und den an ihm ausbrechenden Generationenkonflikt wie über die Flüchtlingskrise. Die von George Tsypin für die Salzburger Felsenreitschule konzipierte Bühne ist verstellt von grösseren und kleineren Gegenständen aus Plastik; sie erinnern an das drängende Abfallproblem, aber auch an die Tierwelt der Ozeane, der vom Menschen so nachhaltig Schaden zugefügt wird. Und drastisch wird die trojanische Prinzessin Ilia, die von der Chinesin Ying Fang feinfühlig gesungen wird, durch den Kostümbildner Robby Duiveman als eine Flüchtlingsfrau gezeigt, die in einer hochnotpeinlichen Verhörsituation ihr Leid klagt. Idamante freilich, der junge griechische Königssohn, der die Trojanerin liebt, schenkt den Kriegsgefangenen die Freiheit und läutet damit einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch ein – die Irin Paula Murrihy zeigt in dieser für einen Kastraten geschriebenen Partie eindrückliches vokales Potential.

Fürs erste scheitert Idamante jedoch, denn Idomeneo – Russell Thomas leidet auch in dieser Partie unter einer engen Höhe – mag nichts von der Verständigung wissen. Fest hält er die Zügel in der Hand, wovon nicht zuletzt seine elegante Galauniform zeugt. Er hadert mit Neptun (Jonathan Nemalu), dem er zum Preis für die Errettung aus der tobenden Flut den ersten Menschen, dem er am Ufer begegnen werde, als Opfer versprochen hat – und dieses versprochene Opfer ist sein Sohn Idamante. Keinen Sinn hat er auch für die Liebe Idamantes zu Ilia, er hält vielmehr fest an der Verlobung seines Sohnes mit der griechischen Adligen Elettra, die sich aber getäuscht sehen wird – und da sind wir beim Glanzpunkt des Abends. Denn was Nicole Chevalier, die Violetta in der singulären Luzerner Produktion von Giuseppe Verdis «Traviata», an Bühnenpräsenz, dramatischer Ausstrahlung und stimmlicher Agilität einbringt, ist von hinreissender Wirkung. Dass Elettra an ihrer Wut nicht zugrunde geht, sondern sich folgsam ins Ensemble zurückzieht, stellt nur eine der Merkwürdigkeiten der Inszenierung dar. Mehr als das der Aufklärung verbundene Weltbild Mozarts scheint sie mir die gutmenschliche Grundhaltung des Regisseurs zur Geltung zu bringen.

Was dem Abend jedoch einzigartiges Profil verleiht, ist seine instrumentale Seite. Wie schon vor zwei Jahren ist als Dirigent Teodor Currentzis verpflichtet. Er steht allerdings nicht vor der MusicAeterna, der von ihm 2004 in Nowosibirsk gegründeten Formation, sondern vor dem Freiburger Barockorchester, dem ein sensationeller Auftritt gelingt. Herrlich der Klang der ohne Vibrato gespielten, in tiefer Stimmung gehaltenen Darmsaiten, zumal bei den vielen Liegetönen im Hintergrund, wunderbar die Tempi, gerade in der subtil überpunktiert genommenen Ouvertüre und in den Märschen, berührend die sensibel ausgeformten Übergänge. Die Akzente fallen so, wie sie bei Currentzis fallen: scharf und pointiert; aber in keinem Augenblick verliert sich etwas von der eigenartigen Wärme, die das Orchester erzielt. Auffallend auch der virtuose Generalbass mit dem Lautenisten Andrew Maginley und, vor allem, mit Marija Shabashova am Hammerklavier, die sich in der von Currentzis eingeschobenen Konzertarie «Ch’io mi scordi di te?» (KV 505) besonders profiliert. Sehr eigenartig dagegen der Gestentanz des aus Samao stammenden Choreographen Lemi Ponifasio, der zur abschliessenden Ballettmusik gezeigt wird.

«Médée»

Elena Stikhina (Médée) mit ihren beiden Kindern, links Pavel Černoch (Jason) / Bild Thomas Aurin, Salzburger Festspiele

«Idomeneo» nimmt, was die Beliebtheit beim Publikum betrifft, einen hinteren Rang ein. Erst recht gilt das für «Médée», die düstere Oper von Luigi Cherubini – die im Salzburger Grossen Festspielhaus nun allerdings zu einer unerhört spannenden Auslegung gekommen ist. Das Werk des in Frankreich naturalisierten Italieners – es erklingt in der französischsprachigen Originalfassung von 1797, allerdings ohne die dort vorgesehenen Sprechtexte – wird gemieden, weil seine musikalische Faktur als sperrig gilt und weil die Titelrolle besetzt ist durch den Geist von Maria Callas, die in dieser Partie ihren Höhepunkt an Identifikation und Ausstrahlung gefunden hat. Auch die Salzburger Festspiele hatten diesbezüglich ein Problem. Denn Sonya Yoncheva, die vielversprechende Wahl für die Rolle der Médée, hatte ihr Engagement zurücklegen müssen, weil sie in wenigen Wochen ein Kind zur Welt bringen wird. An ihre Stelle trat die junge Russin Elena Stikhina, die ihre Aufgabe auf hohem Niveau gemeistert hat. Ihr vokales Expansionsvermögen und ihr expressives Temperament versahen die komplexe Persönlichkeit, als die Medea in der Oper Cherubinis erscheint, mit fasslichen Zügen. Und zugleich passte ihre stimmliche Wärme genau zu dem Deutungsansatz, den der Regisseur Simon Stone im Sinn hatte.

Als die Ouvertüre anhob, setzten auch die vom Regisseur erstellten Filmsequenzen in Schwarz-Weiss ein – was sich einmal mehr als problematisch erwies. Auf die Musik Cherubinis muss man sich einlassen können, zumal in der Auslegung durch die Wiener Philharmoniker und den Dirigenten Thomas Hengelbrock, die den klassizistischen Duktus in keiner Weise beschönigten, ja ihn durch die sorgfältige Ausleuchtung der strukturellen und klangfarblichen Details noch unterstrichen. Die bewegten Filmsequenzen, welche die Gesichter sehr stark heranholten, forderten da jenes Zuviel an Aufmerksamkeit ein, das im bildlastigen Regietheater üblich ist. Allein, je weiter der Abend voranschritt, desto logischer erschienen die filmischen Einschübe. Jedenfalls wirkte, was sich Simon Stone zusammen mit dem Bühnenbildner Bob Cousins und der Kostümbildnerin Mel Page für diese anspruchsvolle Produktion erdacht haben, so eindringlich, dass die Parameter der Aufführung rasch zu neuer Ordnung fanden.

Stones Auslegung holt das das Geschehen aus der Vorzeit des Mythos heraus und versetzt es radikal in die Gegenwart – so wie es der Regisseur in jener erweiterten Neufassung der «Medea» des Euripides getan hat, die vor einem halben Jahr im Wiener Burgtheater zu sehen war: ein unglaublich bedrückender, weil in schneidender Schärfe gehaltener Abend, der von der überragenden Hauptdarstellerin Caroline Peters geprägt war. In diesem szenischen Projekt richtet Stone das Beziehungsgeflecht so ein, dass Medea jeder Zug ins Pathologische abgeht. Sie erscheint vielmehr als eine ganz normale junge Frau und Mutter, die ihrem Gatten Jason in vertrauensvoller Liebe zugetan ist. Die aber auch als brillante Forscherin Aufmerksamkeit erregt – mehr Aufmerksamkeit als der auf demselben Gebiet tätige Jason. Die Gattin um einige Zentimeter höher als der Gatte, damit hat Jason ein Problem. Er wendet sich der Tochter des Firmenchefs zu und wechselt damit in eine Liaison, die nicht nur eine neue Partnerschaft ohne Kinder, sondern auch steile Aufstiegschancen in Aussicht stellt. Womit die Dinge ihren schrecklichen Lauf nehmen – bis hin zu jenem Schlusspunkt, da Medea das gemeinsame Einfamilienhaus mitsamt der zwei Kinder in Flammen setzt.

Genau so zeigt Simon Stone die Médée Cherubinis: als eine Liebende, die nichtsahnend aus hohem Lebensstandard ins Nichts abstürzt. Am Ende bleiben der Ausländerin, die ihren Aufenthaltsstatus verloren hat und gehen musste, nichts als die verzweifelten Sprachnachrichten auf die Combox des Ex-Gatten, die Amira Casar aus dem Off vorträgt. Jason wiederum, Pavel Černoch lässt das überzeugender sehen, als er es singt, wird als das Ekel vom Dienst vorgestellt. Er ist nicht nur scharf auf Dircé (Rosa Feola), so heisst die Tochter des Königs von Korinth bei Cherubini, zwischendurch vergnügt er sich auch mit Damen anderer Art. Während Créon in seinen perfekt sitzenden Anzügen ganz der unerbittliche Machthaber ist – dank seinem sonoren Bass und seiner furchterregenden Körpersprache gelingt Vitalij Kowaljow hier ein grandioses Rollenporträt. In scharfem Realismus und zum Teil schauerlichen Bildern wird die Geschichte von Medea und Jason als eine durchaus heutige erzählt. Die Audienz, in der Medea dem finsteren Kreon das Aufenthaltsrecht für einen Tag abringt, wird als eine vom Fernsehen live übertragene Szene am Flughafen gezeigt, die Wiederbegegnung der Mutter mit ihren Kindern an einer tristen Bushaltestelle, das Ende mit dem Mietwagen an einer Zapfsäule, der Medea vor den Augen Jasons und einer entsetzten Menge das zur Selbstverbrennung benötigte Benzin entnimmt. Das sind Bilder, die sich einbrennen, der Mythos tritt einem bedrohlich nahe. Der Musik Cherubinis freilich bleibt am Ende vielleicht doch zu wenig Raum.

«Œdipe»

John Tomlinson (Tirésias) und Christopher Maltman (Œdipe) / Bild Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele

Das ist bei «Œdipe», der über lange Jahrzehnte hinweg entstandenen Oper des rumänischen Violinvirtuosen und Komponisten George Enescu, entschieden nicht der Fall. Dafür sorgt zusammen mit den Wiener Philharmonikern, mit der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor und einem erstklassig besetzten Ensemble der Dirigent Ingo Metzmacher, der sich mit der ihm eigenen Energie in die Partitur hineingekniet hat und sie nicht nur in voller Länge, sondern auch in aller Farbenpracht erstehen lässt. Nein, «auferstehen» muss man sagen, denn «Œdipe», 1936 in der Pariser Oper aus der Taufe gehoben, wird ausserordentlich selten gespielt. Und wird noch viel seltener in einer so überwältigenden szenischen Fassung gezeigt, wie sie der immerhin 85 Jahre alte Theaterzauberer Achim Freyer auf die Bühne der Salzburger Felsenreitschule gebracht hat.

Auch in Enescus Oper tritt Kreon in Erscheinung; es ist zwar nicht Kreon von Korinth, sondern Kreon von Theben (Brian Mulligan), aber auch der ist ein undurchsichtiger Intrigant. Im Zentrum steht freilich Ödipus, dessen Leben von der Geburt bis zum Tod erzählt wird – vom Aufwachsen als Findelkind, vom Mord am nicht erkannten Vater und der Ehe mit der ebensowenig erkannten Mutter, vom Sieg über die Sphinx und von der Zeit als König in Theben bis hin zum Niedergang als Folge der Aufdeckung all der in Unwissenheit begangenen Untaten – ja bis hin zu der, so wollten es Enescu und sein Librettist Edmond Fleg, Verklärung im Tod. Auch hier findet der Mythos lebendige Präsenz, nur geschieht es auf ganz andere Art. Achim Freyer, der wie stets Inszenierung und Ausstattung aus einem Guss gestaltet hat, versetzt die Vita des Ödipus in seine Phantasiewelt, die von übergrossen Gestalten in ausladenden Kostümen bevölkert ist und durch Requisiten in starken Farben bereichert wird. Im weit ausgreifenden Eröffnungsakt, der allein den Freudengesängen rund um die Geburt des Ödipus gilt, liegt Baby Œdipe mit Riesenschädel noch auf dem Rücken und versucht strampelnd, auf die Beine zu kommen – Katha Platz macht das grossartig. Bald schon tritt aber, verkörpert durch den noch immer mit Donnerstimme versehenen Altmeister John Tomlinson, der blinde Seher Tirésias auf und verkündet das drohende Unheil, dem die Sehenden blind entgegeneilen. Inszenierung nicht als Interpretation, wie sie Simon Stone unternimmt, sondern als assoziatives Ins-Bild-Setzen, dies freilich auf allerhöchstem Niveau.

Schon ist Œdipe erwachsen, und schon schlägt die Stunde von Christopher Maltman, dem dieser Auftritt zur Sternstunde gerät. Unglaublich kernig sein Bariton, dabei sorgsam abgestuft in Timbre und Dynamik, dank gepflegter Diktion auch so gut wie jederzeit verständlich. Freyer lässt ihn als Ur-Mann erscheinen, als muskelprotzender Boxer, dem man an keiner Kreuzung in den Weg geraten möchte. Mit den blossen Fäusten erledigt er seinen Vater Laïos (Michael Colvin) und dessen Begleiter; nach jedem Schlag auf eines der Boxkissen, die aus dem Bühnenhimmel heruntergeschwebt sind, erhält er einen dicken Boxerhandschuh – so rot wie der grosse rote Schuh, der als szenisches Erinnerungsmotiv aus mancher Inszenierung Achim Freyers bekannt ist. Hier mag es der Schuh seiner Gattin und Mutter Jocaste (Anaïk Morel) sein, der ihm als Retter und König seiner Vaterstadt zukommt. Als solcher ist Œdipe die Macht selbst – Freyer denkt und arbeitet zwar als bildender Künstler, ist aber genau so viel Theatermann, der in Zusammenarbeit mit seinen Darstellern starke Bühnenfiguren schafft. Eine solche Figur ist die Sphinx (Eve-Maud Hubeaux), ein Monsterkasten von Frau, dem nach der Überwältigung durch Œdipe dann aber eine kleine Person mit Riesenbrüsten entsteigt.

Sehr schön gegliedert die Massenszenen, brillant eingesetzt die Arkaden der Felsenreitschule – und das alles nicht nur in nächtlichem Schwarz, sondern auch in ganz natürlich wirkender Zeitlupe. So, wie die weiten Bögen, in denen Ingo Metzmacher atmet, sich gleichsam von selbst entfalten. Ganz ruhig gleitet der Dirigent durch die riesige Partitur, und die Wiener Philharmoniker antworten ihm mit einem klanglichen Reichtum sondergleichen. Übrigens auch mit einem Fortissimo in denkbar schönster Kraftentfaltung – was sie, wie an diesem Ort schon mehrfach zu erleben war, nicht allen Dirigenten schenken. Ein Meilenstein, dieser Abend; wenn Festspiele einen Sinn finden, dann in einer Produktion wie dieser. In ihrer enormen Ausstrahlung, auch ihrer glücklichen Verbindung zwischen dem Musikalischen und dem Szenischen erinnert sie an «Saint-François d’Assise» von Olivier Messiaen im Sommer 1992, dem ersten Jahr unter der Leitung von Gerard Mortier und Hans Landesmann. Damals standen zwei junge Leute mit etwas speziellen Ideen vor der Tür zur Direktionsetage. Einer von ihnen wirkt heute als Intendant der Salzburger Festspiele.