Die Kunst, sie lebt

Unter denkbar widrigen Umständen hat das Opernhaus Zürich eine neue Produktion herausgebracht. «Simon Boccanegra» von Giuseppe Verdi ist zu einem Musiktheaterabend von seltener Intensität geworden.

 

Von Peter Hagmann

 

Christian Gerhaher in der Titelpartie von Verdis «Simon Boccanegra» in Zürich / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Tatsächlich: Sie lebt, die Kunst.

Mehr als fünfzig Zuschauer durften nicht hinein zu Giuseppe Verdis «Simon Boccanegra», der jüngsten Premiere am Opernhaus Zürich – und das war es dann auch: Bis Ende Jahr und, wie man jetzt weiss, auch darüber hinaus sind alle weiteren Vorstellungen untersagt. Allein, das Opernhaus hat sich längst seinen Ausweg geschaffen. Die Premiere von «Simon Boccanegra» wurde live auf Arte Concert übertragen, und dort, auf www.arte.tv, ist die Produktion bis zum 5. März 2021 kostenlos als Video verfügbar. Auf diese Weise rettet das Haus sich selber wie sein Publikum, dem angesichts der Lage nichts als das stille Darben bliebe.

Gewiss, die Begegnung mit Verdis Oper am Bildschirm, und darum geht es in diesen Zeilen, vermag den realen Opernabend in keiner Weise zu ersetzen. In diesem besonderen Fall ergab sich ausserdem eine zusätzliche Schnittstelle, denn wie schon bei Mussorgskys «Boris Godunow» zur Saisoneröffnung (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 30.09.20) agierten Chor und Orchester nicht an der Stätte des Geschehens, sondern in einem ausserhalb des Hauses, wenn auch nahe gelegenen Probenraum, aus dem der Klang über ein Glasfaserkabel auf die nun wirklich hochstehende Lautsprecheranlage im Opernhaus übertragen wurde. Für die Beobachtung am Bildschirm spielte das keine Rolle, zumal Unsicherheiten in der Koordination so gut wie ausblieben.

Und natürlich, Surrogat ist vieles beim Verfolgen einer Oper am Bildschirm. Ganz besonders gilt das für die optische Seite. Während der Besucher im Saal nach eigenem Ermessen bestimmt, worauf er sein Augenmerk richtet, wird der Blick des Konsumenten am Bildschirm gesteuert durch die Entscheidungen des für die Aufzeichnung zuständigen Regisseurs. Wenn Simon Boccanegra als Doge von Genua seinen zum Widersacher gewordenen Mitstreiter Paolo verdammt, lässt Michael Beyer nicht den Protagonisten sehen, sondern den Adressaten des Fluchs – und das stark herangezoomt, auf dass jede Zuckung im Antlitz des Bestraften sichtbar werde. So bildet sich eine Metaebene der Interpretation aus, die das ohnehin schon vielschichtige Erleben des Geschehens erweitert.

Der Blick auf die Gesichter, das Lesen des Mienenspiels, erhält in dieser Inszenierung nun allerdings besonderes Gewicht. Andreas Homoki, dem Regisseur des Abends, ist es einmal mehr gelungen, die Darsteller zu unerhört intensivem, aus tiefer innerer Beteiligung genährtem Spiel zu animieren – was die von «Simon Boccanegra» exponierten Dilemmata als fürwahr bedrückend empfinden lässt. Bei einem Sänger wie Christian Gerhaher, der mit der Verkörperung der Titelpartie ein drittes Debüt am Opernhaus Zürich absolviert, ist das nicht weiter erstaunlich, die Zeichnung der Figur des Genueser Dogen entspricht seinem eigenen Wesen in hohem Masse.

Obwohl einer unteren Schicht entstammend – die Kostüme, die Christian Schmidt entworfen hat, lassen daran keinen Zweifel –, geht Boccanegra in der Zürcher Produktion nicht in Prachtentfaltung und Machtrausch auf, wie sie aus Inszenierungen älteren Datums in Erinnerung stehen. Der in angeblich freier Wahl vom Volk bestimmte Doge ist ein Anderer, ein Aufgeklärter, ja ein Intellektueller. Seine Mission sieht er darin, dem durch Kämpfe zwischen mafiösen Clans und durch machistische Ehrbegriffe gestörten gesellschaftlichen Zusammenhalt mit einem Aufruf zu Gewaltverzicht, Respekt und Liebe zu begegnen. Er verfolgt sie beharrlich und geschickt, mutig und unbedingt – jedenfalls ohne Rücksicht auf sein Leben. Sein durch das Gift des Widersachers ausgelöstes, langsames Zerfallen zeigt er körpersprachlich an: durch eine zunehmend gebückte Haltung. Grossartig ist das.

Und in keinem Augenblick durch Kitsch getrübt. Glasklar singt Gerhaher, in scharf gezeichneter Lineatur, ohne die Zuckerwatte der Italianismen, dafür mit makelloser Diktion. Und einmal mehr wird hier deutlich, wie aus strukturellem Bewusstsein heraus Emotion entsteht. Wenn des Dogen Faust auf den Tisch fällt, und das hat Verdi durchaus vorgesehen, verfehlt es seine Wirkung nicht. Weitaus stärker berühren jedoch die Momente der Innigkeit, das Erkennen von Vater und Tochter, der Ausgleich zwischen Boccanegra und dem stolzen Fiesco – den Christof Fischesser ganz im Gegensatz zu dem hellen Timbre des Protagonisten mit runder, fülliger Tiefe versieht. Da muss man bisweilen schon zweimal durchatmen, aber zu Hause am Bildschirm fällt es nicht weiter auf.

Überhaupt erscheint «Simon Boccanegra» in Zürich als ein Kammerspiel, ja fast als eine Partie Schach. Den herrschenden Umständen entsprechend bleibt die Öffentlichkeit des Volks in der Inszenierung Homokis weitgehend ausgespart; der von Janka Kastelic vorbereitete Chor singt im Off, und wenn für zwei, drei Momente Menschenansammlungen sichtbar werden, so sind Figuranten mit Masken am Werk. Als umso spannender tritt das von Arrigo Boito, dem Librettisten der Zweitfassung von «Simon Boccanegra», geschickt gesteuerte Timing heraus – Christian Schmidts Drehbühne mit ihren überhohen Türen, die sich an bezeichnenden Stellen öffnen oder schliessen, die auch überraschende Durchblicke gewähren, ermöglicht es und unterstreicht es.

Unter der Leitung von Fabio Luisi, der hiermit seine letzte Produktion als Generalmusikdirektor der Oper Zürich dirigiert, zieht auch die Philharmonia Zürich kompromisslos mit. Pointiert, dynamisch sorgfältig differenziert, vielfarbig prägt das Orchester die szenischen Entwicklungen. Und geschmeidig konzertiert der Dirigent mit den Solisten; ohne die Fäden aus der Hand zu geben, lässt er ihnen den Raum, den sie brauchen und den sie sich wünschen. So findet Jennifer Rowley zu bewegenden Auftritten als Amelia Grimaldi alias Maria Boccanegra; ihre Funktionen als Zünglein an der Waage und zugleich liebende Frau verkörpert sie auch stimmlich tadellos. Der Gabriele Adorno befindet sich bei Otar Jorjikia, der Paolo Albiani bei Nicholas Brownlee in besten Händen.

Ja, sie lebt, die Kunst. Wenn sie es will.

«Gehorsam wie ein Kind»

«Arabella» von Richard Strauss in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ein Ball, ausgerichtet von den bankrotten Waldners. Oben in der Mitte die Ballkönigin Arabella (auf dem Bild Julia Kleiter, an der Premiere im Opernhaus Zürich sang Astrid Kessler), unten in der Mitte ihr spielsüchtiger Vater Graf Waldner (Michael Hauenstein), links aussen ihr Bräutigam Mandryka (Josef Wagner) / Bild Toni Suter, Opernhaus Zürich

Für eine bedeutende gesellschaftliche Schicht des ehemaligen k.u.k-Reichs lag nach 1918 nicht nur die Welt, sondern ihre Existenz ganz allgemein in Trümmern. Österreich war zu einem Rumpfstaat geworden, die Geldbeutel waren leer, die Ausrufung der Republik, das Aufstreben der Linken und die manifeste Emanzipation der Frauen hatten zu einer gesellschaftlichen Umwälzung sondergleichen geführt – und draussen vor der Tür scharrten die Unzufriedenen, die sich unterm Hakenkreuz eine bessere Zukunft erhofften.

In diesem Umfeld entstand «Arabella», die letzte Zusammenarbeit zwischen Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, der kurz nach Vollendung des Librettos 1929 starb. Für Strauss war die Vertonung des Textes Ehrensache, aber auch Pflicht, wie die nicht durchgehend attraktive Partitur hören lässt. Vielleicht standen dem Komponisten auch die Zeichen der Zeit im Weg. Bei der Uraufführung der «Lyrischen Komödie» im Sommer 1933 war Hitler ein halbes Jahr an der Macht und konnte Strauss trotz seiner Position als Präsident der Reichsmusikkammer nicht verhindern, dass am Opernhaus Dresden der Dirigent Fritz Busch wie der Intendant Alfred Reucker seiner Funktionen enthoben wurden. An Buschs Stelle stand bei der Uraufführung der von Hitler geschätzte Clemens Krauss am Dirigentenpult.

Etwas von diesem Umfeld sucht Robert Carsen in seine Inszenierung von «Arabella» am Opernhaus Zürich aufzunehmen – dies im Bemühen, dem in seiner dramaturgischen Anlage, vor allem aber in seiner Aussage schwierigen Stück einigermassen beizukommen. «Arabella» spielt in Zürich nicht, wie es Hofmannsthal gewünscht hat, um 1860, sondern um 1930, und zwar in der Halle jenes vornehmen Wiener Hotels, in das sich die Familie des ruinös spielsüchtigen Grafen Waldner zurückgezogen hat. In der erlesenen Ausstattung von Gideon Davey dominieren Kostüm und Dreiteiler, Robe und Frack sowie schwarze Nazi-Uniformen von eigener Eleganz, deren Träger am Ende, einen Lidschlag vor dem finalen Blackout, der verschreckten Gesellschaft mit gezogenen Pistolen zu verstehen geben, dass jetzt endgültig die neue Zeit angebrochen ist.

Der Versuch, das Stück aus den Jahren seiner Entstehung heraus zu verstehen, ist ehrenwert, gelingt aber nicht wirklich. Die Nazi-Symbole erscheinen als verharmlosende Opern-Staffage, obwohl das von Philippe Giraudeau choreographierte Ballett vor dem dritten Akt die Verbindung zwischen dem von der Fiaker-Milli repräsentierten Volkstum und dem Nationalsozialismus krass herausstellt. Im Vordergrund stehen trotz allem der irritierend ungebrochene Abgesang auf die Welt von gestern und das Feiern eines Frauenbilds, mit dem, wenn nicht kritisch, so doch wenigstens neutralisierend umzugehen wäre – so wie es Christof Loy 2014 in Amsterdam überzeugend getan hat. Für mein Dafürhalten gibt es auch eine Unschärfe im gedanklichen Ansatz der Inszenierung. Die Veränderung in der gesellschaftlichen Rolle der Frau, wie sie vom Roten Wien nach 1918 so energiegeladen und so erfolgreich vorangetrieben worden ist, sie ist genau von jenen konservativen Kreisen, denen sich die Nationalsozialisten verbunden fühlten, bekämpft und schliesslich unterbunden worden. Warum sollten ausgerechnet die Nationalsozialisten die frivole Gesellschaft rund um Arabella mit Waffengewalt zusammentreiben?

«Gehorsam wie ein Kind» wolle sie als Gattin sein, so singt Arabella. Ob sie es wirklich will, ob sie wollen soll – es bleibt auch bei Carsen offen. Astrid Kessler, die sehr kurzfristig für die erkrankte Julia Kleiter eingesprungen ist und damit die Premiere gerettet hat, bringt ihre Partie, die so gern als die seelische Reifung eines jungen Mädchens aus gutem Hause gesehen wird, mit untadeliger Technik, mit bestechender Disposition der Kräfte und allem Liebreiz in der Stimme zum Ausdruck. Nicht immer dringt sie durch. Das in die Höhe strebende Bühnenbild schafft den Darstellern akustische Probleme, und nicht zuletzt greift die Philharmonia Zürich (Leitung: Fabio Luisi) immer wieder zu dickem Pinsel.

Etwas zu schaffen macht das auch Daniel Behle, der als Matteo durchgängig am Rand des Nervenzusammenbruchs zu stehen hat. Grossartig Valentina Farcas als Zdenka, die von ihren Eltern aus finanziellen Gründen zum Buben gemachte Schwester Arabellas, die recht eigentlich als das Zünglein an der dramaturgischen Waage wirkt. Ein Rollenporträt von enormer psychologischer Spannbreite und grandioser stimmlicher Ausstrahlung schafft Josef Wagner als der neureiche Gutsbesitzer Mandryka, der zum Schluss von Arabella das Glas Wasser überreicht bekommt, mit dem die Braut dem Bräutigam ihre Unterwerfung anzeigt. Ihm stehen mit Gräfin Adelaide, der witzig karikierenden Judith Schmid, und mit dem bankrotten Grafen Waldner, dem imposanten Michael Hauenstein, zukünftige Schwiegereltern gegenüber, die am Gefälle zwischen den Schichten wenig Zweifel lassen. «Arabella» ist auch eine Komödie über den Sozialstatus, und der Sozialstatus ergibt sich hier eins zu eins aus dem Portemonnaie. Insofern hat das Stück keineswegs nur mit der Welt von gestern zu tun.

Populär – und doch so schwer

Verdis «Nabucco» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Veronica Simeoni (Fenena) , Michael Volle (Nabucco) und Anna Smirnova (Abigaille) im neuen Zürcher «Nabucco» / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Der Gefangenenchor ist ganz wunderbar gelungen. So leise im Ansatz, so gemässigt im Ausbruch, so liebevoll in der klanglichen Zuwendung ist dieses Zentralstück im Repertoire des radiophonen Wunschkonzerts selten zu hören – der erweiterte Chor des Opernhauses Zürich, von Janko Kastelic vorbereitet, zeigt hier, was er kann. Überhaupt öffnet sich ab dem dritten der vier Teile von Giuseppe Verdis «Nabucco» der Raum für Differenzierung im Dynamischen und für Farbigkeit im Vokalen wie im Instrumentalen. Zuvor aber herrschen musikalisch ein Druck und ein Lärm, wie sie beim Zürcher Generalmusikdirektor Fabio Luisi leider des öfteren vorkommen.

Natürlich, es geht in diesen ersten beiden Teilen von Verdis Jugendwerk um Machtansprüche und kriegerische Konfrontation. Dennoch, so laut, wie es Luisi fordert, muss es nicht werden, es geht ja doch noch um Kunst. Und die leidet in diesen Momenten des neuen Zürcher «Nabucco» erheblich. Michael Volle, im deutschen Repertoire erprobt und inzwischen auch im italienischen Fach approbiert, kann als Nabucco zwar auf eine gewaltige Donnerstimme setzen, aber sein Dröhnen wirkt einförmig und auf die Länge ermüdend. Auch sein Gegenspieler Georg Zeppenfeld muss als Zaccaria derart pressen, dass die Vorzüge seines edlen Timbres nur ansatzweise hervortreten. Die Russin Anna Smirnova, welche die anspruchsvolle Partie der Abigaille kurzfristig von Catherine Naglestadt übernommen hat, zeigt hinsichtlich des dynamischen Durchhaltevermögens keine Schwäche, an der Premiere litt ihr Auftritt dagegen an deutlich hörbaren Mängeln der Intonation. Eine Überraschung Benjamin Bernheim als Ismaele; das biegsame Timbre des französischen Tenors hat derart an Kontur und Glanz gewonnen, dass ihm der vom Dirigenten verfolgte Pegel keinerlei Problem bereitet. In den Schatten gerät dagegen Veronica Simeoni (Fenena); erst nach der Pause vermag sie zu zeigen, über welch grossartiges Potential sie verfügt.

So fehlt es in diesem «Nabucco» nicht an Augenblicken, in denen die Schwächen des Werks und die Problematik seiner Rezeption übermächtig heraustreten – das gilt auch für die Inszenierung des Zürcher Hausherrn Andreas Homoki. Eine riesige, zugleich aber erstaunlich bewegliche Wand, die nach grünem Quarz aussieht, beherrscht die Bühne von Wolfgang Gussmann. In vielgestaltiger Weise wird sie genutzt. Wenn das Heer der Babylonier mit Nabucco an der Spitze gegen Juda aufmarschiert, rückt sie als Ausdruck der Bedrohung so nahe an den Bühnenrand, dass man um die davor am Boden liegenden Chormitglieder zu fürchten beginnt. Zugleich trennt sie den Raum und schirmt sie Gespräche ab – die dann von der anderen Seite her belauscht werden können. Ihre grüne Farbe gibt den Ton vor für die Kostüme der Babylonier, die sich an adliger Mode orientieren, während das Volk Israel in erdfarbenes Tuch kleiner Leute gehüllt ist – eine minimale Andeutung auf die Rolle Verdis und seiner Oper in der Bewegung des Risorgimento. Lebendig geführt der Chor – Homoki kommt schliesslich aus der Schule Walter Felsensteins. Die einzelnen Figuren bleiben zum Teil aber maskenhaft. Immer wieder dreht sich Nabucco um die eigene Achse, worauf das Volk erschrocken zurückweicht – so etwas geht einmal, vielleicht zweimal, danach ist das szenische Zeichen verbraucht. Nach der Pause, wenn sich die dramatische Spannung aus den einzelnen Figuren nährt, gewinnt die Inszenierung an Griffigkeit. Die Probleme, die «Nabucco» bietet, sind damit aber nicht gelöst.

Festspiele Zürich 2016

 

Peter Hagmann

Alles Dada – oder fast alles

Abschluss der Ära Elmar Weingarten bei den Festspielen Zürich

 

Was waren das für Zeiten, als es in Zürich noch Junifestwochen gab. Als, im Rahmen grosser thematischer Schwerpunkte und veranstaltet von der Stadt selbst, Japan zu Gast war oder John Cage himself für erheiternde Unruhe sorgte. In den frühen neunziger Jahren war Schluss damit, angeblich aus finanziellen Gründen. Wenige Jahre später kam es zu einem Neustart – unter neuen Vorzeichen und dem neuen Namen «Zürcher Festspiele». Die Hoteliers der Stadt hatten sich über schlechten Geschäftsgang Ende Juni beklagt und waren bei Alexander Pereira vorstellig geworden, dem damaligen Intendanten des Opernhauses Zürich, von dem sie für die fragliche Zeit einen kulturellen Akzent und in der Folge eine kommerzielle Belebung erhofften.

So kam es vor zwanzig Jahren zu den Zürcher Festspielen, die eigentlich keine Festspiele waren. Denn die Stiftung, die sie ausrichten sollte, verfügte über geringe Mittel und dementsprechend wenig Handlungsspielraum. Im Stiftungsrat vertreten waren die grossen Zürcher Kulturinstitute, die von den Subventionsgebern aufgerufen waren, das Ende der Saison mit besonderem Glanz zu versehen. Wenn sich dieser Glanz einstellte, dann am ehesten in den Preisen, die das Opernhaus für seine Vorstellungen im Rahmen der Festspiele verlangte. Inhaltlich ergab sich kein Profil, da jedes der grossen Kulturinstitute sein ohnehin vorgesehenes Programm präsentierte – und es, weil ja Festspiele waren, mit einem speziellen Fähnchen versah.

Neue Ausrichtung

Das wurde erst anders, als Elmar Weingarten, mit seinem Ideenreichtum und seiner Konzilianz prädestiniert für diese Aufgabe, vor vier Jahren den widerwilligen Stier bei den Hörnern packte. Er übernahm die Leitung der Festspiele 2012 noch als Intendant des Tonhalle-Orchesters Zürich und führte die Geschäfte nach seinem Rücktritt beim Orchester 2014 weiter. Vier Ausgaben der Festspiele sind unter Weingartens gütiger Hartnäckigkeit zustande gekommen. Die Institution hat in dieser Zeit nicht nur ihren Namen gewechselt: von den eher lokal gedachten «Zürcher Festspielen» zu den «Festspielen Zürich» mit bewusst internationaler Ausstrahlung. Das Festival hat auch, und vor allem, ein Gesicht erhalten. Denn Weingarten hat den thematischen Schwerpunkt, der die Junifestwochen ausgezeichnet hatte, wieder eingeführt und ihn den neuen Bedingungen der Festspiele gemäss rehabilitiert.

Den Geburtsfehler der Institution hat auch Weingarten nicht beheben können. Tatsache ist, dass für die Festspiele Zürich mit dem Opernhaus und dem Tonhalle-Orchester sowie dem Schauspielhaus und dem Kunsthaus vier grosse Kulturinstitute der Stadt zusammenarbeiten sollten, die das aber nicht unbedingt wollen, ja der unterschiedlichen Planungsfristen wegen gar nicht können – was der Entwicklung einer gemeinsamen Dramaturgie fundamental im Wege steht. Dass die Festspiele dennoch ihr Profil so schärfen konnten, wie es geschehen ist, grenzt an ein Wunder. Es basiert auf der Einsicht, dass eine Veranstaltungsreihe von einem thematischen Kern, einer thematischen Leitlinie nichts als profitieren kann – und dass sie selbst dann profitieren kann, wenn nicht alles und jedes im Angebot dem Thema gehorcht.

So hat Elmar Weingarten den Festspielen Zürich neue Horizonte eröffnet; er hat seinen Partnern die nötigen Freiheiten gelassen, zugleich aber als Anreger gewirkt und selber beherzt als Veranstalter agiert. Das mag zu einem gewissen Überangebot wie zu Terminkollisionen geführt haben, es hat dem Zürcher Kulturleben vor dem Beginn der sommerlichen Schulferien aber auch eine spürbare Zufuhr von frischer Luft und bunter Vielfalt verschafft. Alle sind sie in ihrer Weise unvergessen, das «Treibhaus Wagner» 2013, «Prometheus» mit der grandiosen Aufführung von Luigi Nonos Hörtragödie im Jahr darauf, «Shakespeare» 2015 und diesen Sommer, hundert Jahre nach der Gründung des Cabaret Voltaire in Zürich, «Dada – zwischen Wahnsinn und Unsinn». Und heuer, nicht zu unterschätzen, lagen die Festspiele auch erstmals etwas früher als ehedem, um die Sommer-Ausstellung des Kunsthauses besser ins Gesamtprogramm einzubinden.

Dada und die Musik

Eine der Spezialitäten der vier zurückliegenden Jahre bestand darin, dass es nicht der Künstlerische Leiter allein war, der die Ideen entwickelte, dass Elmar Weingarten vielmehr seine Gattin Claudia von Grote zu Seite stand; entschieden wirkte sie an der Ausarbeitung der dramaturgischen Ansätze mit. So gab es dieses Jahr etwa eine Reihe von Soiréen, bei denen sich die Dada-Bewegung mit den etablierten Künsten traf, aber auch eine Folge von Begegnungen mit Dada in Zürcher Privatwohnungen – analog einer Idee, wie sie an den Wiener Festwochen seit langem üblich ist. Die Musik dagegen, sie geriet beim Thema dieses Jahres etwas in den Hintergrund – wenn auch nicht ganz. Das Infragestellen und das Aufbrechen herkömmlicher Rituale fand auch in der Musik statt, und vor allen Dingen setzte es sich bis weit ins 20. Jahrhundert, ja bis in die Jetztzeit hinein fort.

Von solchem berichtete die grosse Dada-Nacht in der Tonhalle Zürich, die auf den Punkt genau um 19.16 Uhr begann und einen langen Abend währte. Wie ein Wirbelwind fegte Ursula Sarnthein, Bratscherin im Tonhalle-Orchester, durch den dritten Satz der Sonate für Viola allein, op. 25 Nr. 1, von Paul Hindemith; sie nahm die Vorschrift des Komponisten, dieses Stück Musik in rasendem Zeitmass und wild zu spielen, Tonschönheit sei dabei Nebensache, atemberaubend beim Wort. Wie viel Dada in Mauricio Kagel steckt, erwies dessen Stück «Match» für zwei Celli (Thomas Grossenbacher und Karolina Öhmann) und Schlagzeug (Erika Öhmann) von 1964. Und in ihrer Weise dadaistisch schräg die «24 Duos» von Jörg Widmann, dem Inhaber des «creative chair» beim Tonhalle-Orchester Zürich. Ihre Höhepunkte fand die dadaistisch-musikalische Veranstaltung freilich im Auftritt der Stimmkünstlerin Salome Kammer, die dadaistische Sprechstücke aus ihrer persönlichen Schatzkammer präsentierte und neue Werke auf den Spuren Dadas dazustellte. Zur grossartigen Ausstrahlung der weit ausserhalb jeder Norm stehenden Sängerin kam die Kunst der Diseuse, die ihre Stimme in unglaublicher Weise zu wandeln versteht. Jedenfalls konnte man gewahr werden, wie sehr auch im deutschsprachigen Umfeld der Tonfall allein Bedeutungsträger sein kann.

Die Kunst der Interpretation

Neben Dada setzte sich das quasi normale Kunstleben fort – mit seinen helleren wie seinen dunkleren Seiten. Im Opernhaus trug der Bariton Christian Gerhaher zusammen mit seinem Klavierpartner Gerold Huber «Die schöne Müllerin» von Franz Schubert in einer Weise vor, dass einem das Blut ins Stocken geriet. Schon das scheinbar simple Strophenlied des Beginns liess kaum Heiterkeit aufkommen. Wenige Lieder später war klar, dass dem Müllerburschen, der hier von sich singt, grausam mitgespielt wird, dass die Müllerstochter alle vorführt, auch ihren Vater, und dass sie sich ganz rasch für den schmucken Jäger in Grün erwärmen wird, worauf dem Verschmähten nichts als der Sturz ins kalte Wasser des munter plätschernden Bächleins bleibt. Da in dem singenden Sprechen oder dem sprechenden Singen Gerhahers so gut wie jedes Wort verständlich war, wurde der Liederzyklus, den der Sänger mitsamt den von Schubert nicht vertonten Gedichten vortrug, zu einer ganz eigenen, äusserst dramatischen Erzählung, während die Dichtung des verkannten Wilhelm Müller in neuer Würde erschien. Ganz zu schweigen von der Vertonung Schuberts, die mit ihren Schlünden und ihren Abgründen an diesem Abend zutiefst erschütternd wirkte.

Solche Kunst der Interpretation ist für Lionel Bringuier, den Chefdirigenten des Tonhalle-Orchesters Zürich, ein Fremdwort. Weil es sich um den sinfonischen Erstling eines jungen, ambitionierten Komponisten handelt und weil im Untertitel von einem Titanen die Rede ist (allerdings in Anspielung an einen Roman von Jean Paul), stürmte Bringuier ohne Rücksicht auf Verluste durch die erste Sinfonie von Gustav Mahler – am Tag nach der «Schönen Müllerin» bot das reichlich Ernüchterung. Für eine Vortragsanweisung wie «gemächlich» hat er keinen Sinn; wenn er darf, dreht er die Laustärke sogleich und mächtig auf. Und um das etwas weinerlich Weiche der k.u.k-Mentalität schert er sich ebenso einen Deut wie um die ironische Doppelbödigkeit, die sich ganz besonders im langsamen Satz mit seinen verfremdenden Anklängen an «Frère Jacques» manifestiert. Dass musikalische Interpretation auch und gerade einen Akt der Sinngebung beinhaltet und dass dieser Akt seine intellektuelle Basis haben muss, das scheint Bringuier keineswegs zu kümmern – das ist das Verstörende an diesem unglaublich sympathischen und zugleich erschreckend naiven jungen Musiker. Wie soll das nur weitergehen?

Solche Fragen stellen sich bei Fabio Luisi nicht, der Generalmusikdirektor des Opernhauses Zürich weiss genau, was er will – das zu hören und zu erleben, bringt Erlebnisgewinn, auch wenn es unter dem Strich nicht überall aufgeht. Bei «I Puritani», der letzten Oper Vincenzo Bellinis, die das Opernhaus Zürich als Beitrag zu den Festspielen herausbrachte, gedachte Luisi ans Licht zu heben, welch neue Bedeutung Bellini dem Orchester zumass. Das ist ihm an mancher Stelle vorzüglich gelungen, das Orchester der Oper Zürich stellte prachtvoll heraus, dass Bellini zu Recht stolz war auf seine Mühewaltung im Bereich der Instrumentation. In anderen Momenten aber explodierte die Lautstärke, dröhnte der Chor, schrien die Sänger, tutete das Orchester, als wären alle gegen alle, vor allem alle gegen die Partitur. Und das in einem Bühnenbild, das den Schall sehr direkt in den kleinen, für ein Sprechtheater konzipierten Zuschauerraum des Zürcher Stadttheaters abstrahlte. Der schwere, kreisende Zylinder, den Henrik Ahr entworfen hat, gab dem Regisseur Andreas Homoki Gelegenheit, eine Bildfolge zu entwickeln, die den narrativen Strang des eigenartig an Ort und Stelle tretenden Librettos erkennen liess. Und die Umdeutung des lieto fine in eine finale Katastrophe passte in ihrer drastischen Konkretisierung ganz und gar in diese Zeiten. Mit dem stimmgewaltigen, höhensicheren Lawrence Brownlee (Arturo) und der nicht weniger ausstrahlungsmächtigen Pretty Yende (Elvira) war die Szene durch zwei vorzügliche Protagonisten beherrscht.

Das waren die Festspiele Zürich 2016. Elmar Weingarten verabschiedet sich definitiv. Unter gründlich erneuerter Leitung sollen die Festspiele jetzt zur Biennale werden. Was das heisst, wird sich weisen.

Opernhaus Zürich – «Wozzeck» mit Gerhaher

 

Alptraum in der Kaserne: Bergs «Wozzeck» im Opernhaus Zürich / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

 

Peter Hagmann

Struktur und Emotion

Alban Bergs Oper «Wozzeck» in Zürich

 

Zwei Ärzte sind da am Werk. Der eine ist ein richtiger, wenn auch seine diesbezüglichen Verrichtungen weit in der Vergangenheit liegen. Der andere ist ein gespielter – und ein Monster erster Güte. Mit äusserstem Zynismus lässt er seinen Diagnosen die mutmasslichen Perspektiven folgen, eiskalt führt er seine Experimente mit der Bohnendiät durch. Dabei agiert Lars Woldt mit einem warm grundierten, zugleich aber ausnehmend voluminösen, unerhört schwarzen Bass. Und die Verfärbungen einzelner Vokale, die in anderem Kontext wenig schicklich erschienen, versehen diesen auch schwarz gewandeten, durch einen hohen Zylinder zu einem Zauberer gemachten Doktor mit besonders bedrohlichen Zügen.

Das Opfer des so messerscharf gespielten Arztes ist nun aber der richtige Arzt, nämlich Christian Gerhaher, der nicht nur ein Medizinstudium abgeschlossen, sondern auch Singen gelernt hat. Wie man weiss. Und wie man hört an diesem Abend mit «Wozzeck», der Oper von Alban Berg, mit der das Opernhaus Zürich seine neue Saison eröffnet hat. Von Haus aus eher kammermusikalisch ausgerichtet, nämlich ein packender Interpret von Liedern, ist Gerhaher in der Titelpartie von Bergs Oper genau am richtigen Ort. Mit seinem lyrischen Bariton zeigt er die Fragilität, ja die Verwundbarkeit der Titelfigur von Bergs Oper nach Georg Büchner; wann ist der Moment, da Wozzeck seiner Geliebten Marie die Alimente überbringt, so zärtlich und so liebevoll zu hören? Zugleich gibt es bei Gerhaher aber durchaus die für diese heikle Partie erforderlichen Reserven. Auch gegenüber dem mächtig aufspielenden Orchester vermag er sich zu behaupten – wenn auch nicht ohne Not: Gerade weil es an die Grenzen geht, zum Beispiel dort, wo Wozzeck seinen Gott anruft, erhält das Fortissimo bei diesem Sänger durchaus existentielle Dimension.

Räderwerk der Unmenschlichkeit

Wozzeck wird ja in der Tat an die Grenzen getrieben, bis hin zum Kapitalverbrechen. Im Affekt wird er zum Mörder seiner Geliebten und macht er sein mit ihr gezeugtes Kind zum Waisen. Mit scharfem Blick für die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit und ausgeprägter Empathie zeigt Büchner indessen den Täter als Opfer, und entschieden folgt Berg seinem Textdichter. So verfolgt denn der Zürcher Opernintendant Andreas Homoki als Regisseur des Abends diese Spur mit allem Recht weiter. Er führt die Umgebung Wozzecks als eine Versammlung von Unmenschen vor – und dies mit dem Mittel der Verzerrung in die Groteske, wie er es im Frühjahr 2013 bei Dmitri Schostakowitschs Oper «Lady Macbeth von Mzensk» getan hat. In der Verkörperung von Wolfgang Ablinger-Sperrhacke wird der Hauptmann zum Inbegriff eines larmoyanten Moralapostels, während Brandon Jovanovich den Tambourmajor als eine auf den Phallus reduzierte Mannsperson gibt. Ebenfalls voller menschlicher Schwäche ist die triebgesteuerte Marie von Gun-Brit Barkmin.

Sie alle, erst recht aber der Andres von Mauro Peter und die Margret von Irène Friedli, erscheinen als Teile eines unbarmherzigen Räderwerks – und das nicht nur dank der ausgefeilten Personenzeichnung, nicht nur dank der zugespitzten Kostüme, sondern vor allem im Bühnenbild, das der Ausstatter Michael Levine konzipiert hat und das Franck Evin mit spezieller Lichtwirkung versieht. In grellem Senfgelb bemalt, fügen sich sechs aus rohem Holz gefertigte, immer kleiner werdende Bilderrahmen ineinander und hintereinander. Tiefe gibt es hier so gut wie keine, es herrscht die Bedrängnis enger Gassen, in denen es für den hin- und herhetzenden Wozzeck keine andere Möglichkeit gibt als den Zusammenstoss mit den gefürchteten Gegenspielern gibt. Das ist nicht nur von stupender Bildwirkung, gerade etwa in der Kaserne, wo der von Jürg Hämmerli vorbereitete Männerchor in stilisierter Choreographie seine Kissen zeigt. Es ist vor allem eine äusserst starke szenische Metapher für die Unentrinnbarkeit der Hackordnung und des Normendrucks, die hier angeprangert werden. Kein Zufall, trägt Wozzeck eine Art Gefängniskleidung.

Kraftvolle Kammermusik

Zugleich spiegeln diese Bilderrahmen, die jeden sozialkitschigen Naturalismus verunmöglichen, in hohem Mass die musikalische Anlage. Denn so sehr Bergs atonale Musik fliesst, so sehr sie in ihrer warmen Anteilnahme Identifikation ermöglicht, so sehr ist sie vom Komponisten in strenge Konstruktion gefasst. Es sind Formen der Instrumentalmusik, die da herrschen: die Suite mit ihren Tanzschritten, die Passacaglia mit ihren Variationen über einen immer gleichen Bass, der Sonatensatz mit Exposition, Durchführung und Reprise. Sie sorgen für ein musikalisches Eigenleben, um nicht zu sagen: für eine vom szenischen Geschehen abgelöste Abstraktion. Sie geben ausserdem den Rahmen ab für die überquellende musikalische Phantasie. Und sie deuten schliesslich an, dass dem Instrumentalen in dieser Oper besondere Bedeutung zukommt. Tatsächlich hat das Orchester hier seinen ganz eigenen Anteil an der Geschichte.

Dass das so deutlich und so überzeugend zu hören ist, dafür sorgen die Philharmonia Zürich im Graben und am Pult der Zürcher Generalmusikdirektor Fabio Luisi. Sehr präsent ist das Instrumentale, vielfarbig, auf den Fundamenten kräftiger Basswirkung ruhend. Und laut, wo es laut sein soll, aber nirgends zu laut, vielmehr sorgsam ausgeleuchtet und reichhaltig gestaffelt. Luisi geht die Musik Bergs eben weniger vom Klanglichen her an, was sie aufs erste Hören hin nahelegt, sondern von der Lineatur her – kontrapunktisch und kammermusikalisch, wie die Schönberg-Schule gedacht hat. So wie auf der Bühne Bergs Oper ihre expressionistischen Wurzeln sichtbar macht, wird «Wozzeck» im musikalischen Eindruck zu einem auch heute noch ganz und gar modernen Stück.

Jeder für sich: Marie (Grun-Brit Barkmin) und Wozzeck (Christian Gerhaher) in ihren Gassen / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich