Die «Etudes d’exécution transcendante» in phantasievoll virtuoser Lesart
Von Peter Hagmann
Wer den Achttausender besteigen will, muss nicht nur über Kondition, sondern auch über geeignete Ausrüstung verfügen. Daniil Trifonov kann beides vorweisen, das wird schon bei den ersten Schritten deutlich: bei der ersten der zwölf «Etudes d’exécution transcendante» von Franz Liszt. Klangvoll das Forte, glänzend die Beweglichkeit, souverän die planvoll gebaute Phrasierung. Im molto Vivace der zweiten Etüde tritt das drängende Temperament des 1991 geborenen Russen (https://www.peterhagmann.com/?p=921) hervor, während «Paysage», das dritte Stück, entdecken lässt, mit welcher Ruhe und welchem Spektrum an Farben er Momente der lyrischen Versenkung gestaltet. All das versammelt sich in einer ersten Kulmination bei «Mazeppa», der Etüde Nr. 4.
Äusserst griffig erzählt Trifonov die Geschichte des ukrainischen Volkshelden, der in verfänglicher Situation erwischt, von seinem Rivalen auf den Rücken eines Pferdes gebunden und in die Wildnis verjagt wurde, der sich schliesslich aber doch als Sieger feiern lassen konnte. Hochvirtuos steigt Trifonov ein, blendend steigert er die Kadenz im Vorspiel, die er in einer langen Generalpause enden lässt, bevor dann das hier mächtig und schwer gegebene Hauptthema erscheint – herrlich dabei die Kraft, die er in den Oktavparallelen entfaltet. Die Liebesszene mit dem Thema erst in der Baritonlage, später im Diskant, gelingt äusserst passioniert – bis dann das Unheil. In scharfer Kontur erscheint das davongaloppierende Pferd, denn Trifonov operiert in dieser Passage mit bewusst gesetzten Unterschieden in der Tondauer; Viertel ist da nicht Viertel, vielmehr sagt die einzelne Note in ihrer Länge sehr viel aus. Hinreissend, wenn auch ohne Donner, dann der Schluss der Geschichte nach dem harmonisch überraschungsreichen Rezitativ mit seinen ineinander klingenden Einzeltönen. Ein Kabinettsstück. Eine Opernszene.
Züngelnd die «Feux follets» der Nummer 5, stürmisch die «Wilde Jagd» der Nummer 8. Beinah impressionistisch, dann aber auch wieder ausgeprägt kantabel geraten dem Preisträger des Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerbs von 2011 die «Harmonies du soir» der Nummer 11, auf die dann attacca die orchestral wirbelnden Schneeflocken des letzten Stücks folgen. Die legendären Deutungen dieses horribel anspruchsvollen Etüdenzyklus durch Pianisten wie Cziffra oder Horowitz sind durch diese sensationelle Aufnahme nicht ausser Kraft gesetzt. Aber doch in einzigartiger Weise bereichert.
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Franz Liszt: Etudes d’exécution transcendentale, Deux études de concert, Trois études de concert, Grandes Etudes de Paganini. Daniil Trifonov (Klavier). Deutsche Grammophon 4795529 (2 CD).