Seiner Entstehungszeit verhaftet und doch so gegenwärtig

«Intolleranza 1960» von Luigi Nono an den Salzburger Festspielen

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Maarten Vanden Abeele / Salzburger Festspiele

Die Pandemie ist alles andere als überstanden – die komplexe, aber mit landesüblicher Gelassenheit durchgeführte Eingangskontrolle, die Ermahnungen, für welche die Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler höchstselbst zum Mikrophon gegriffen hat, die allgegenwärtigen FFP2-Masken in den bis auf den letzten Platz besetzten Sälen liessen keinen Zweifel daran. In der Sache selbst sind sich die Salzburger Festspiele aber treu geblieben – und dies in einem Mass, das Vorbildcharakter trägt. Dafür spricht das Memorandum, das zum Jubiläum seines hundertjährigen Bestehens im letzten Sommer von seinen leitenden Gremien für das Festival proklamiert worden ist. Mehr noch zeugt vom selbstbewussten Überlebenswillen das Programm, das es an Reichhaltigkeit und Eindringlichkeit nicht fehlen liess. Es wurde für 2020 entworfen, konnte damals der Umstände wegen jedoch nur in Teilen realisiert werden und wurde darum, ebenfalls partiell, in diesen Sommer übernommen.

«Von allem das Höchste!» – das war die Devise, die sich die Festspielgründer Max Reinhart und Hugo von Hofmannsthal vorgegeben hatten. Sie gilt noch heute, nicht nur auf dem Papier des Memorandums, sondern und erst recht in der Salzburger Dramaturgie Markus Hinterhäusers, der als Intendant in seinem fünften Sommer steht. Offenheit und Beziehungsreichtum prägen sein Programm im Gesamten wie im Einzelnen. Christian Thielemann war da, mit Strauss und Bruckner, Riccardo Muti durfte sich zu seinem achtzigsten Geburtstag und seinem fünfzigsten Salzburger Sommer feiern lassen, Cecilia Bartoli und Anna Netrebo reichten sich die Klinke. Anwesend waren und sind aber auch Johann Sebastian Bach und Morton Feldman, beide auf den ihnen gewidmeten Inseln des Innehaltens mitten im brummenden Betrieb. Von Feldman gab es mit der Sopranistin Sarah Aristidou, dem ORF-Radiosymphonieorchester Wien und dem Dirigenten Roland Kluttig mit «Neither» die 1977 uraufgeführte Nicht-Oper auf einen Text von Samuel Beckett. Und wer für die fabelhafte Aufführung die Kollegienkirche betrat, sah sich mitten im Bühnenbild zu «Don Giovanni» in der Lesart des italienischen Theaterkünstlers Romeo Castellucci. Schade nur, dass die für 2020 geplanten «Moments musicaux» nicht in diesen Sommer übernommen werden konnten. In dieser neuen, reizvoll flexiblen Konzertreihe sollten jeweils nur der Name eines Interpreten sowie Datum, Zeit und Ort bekannt sein; was von wem vorgetragen werde, sollte erst zu Konzertbeginn bekannt werden.

Nicht fehlen durfte in dem um ein Jahr verlängerten Jubiläumsprogramm Luigi Nono, der 1990 verstorbene Komponist aus Venedig, mit dem die Salzburger Laufbahn Markus Hinterhäusers vor bald drei Jahrzehnten begonnen hat. Auf «Prometeo» (1993 und 2011) sowie «Al gran sole carico d’amore» (2009) folgte als drittes der drei Musiktheaterprojekte Nonos diesen Sommer «Intolleranza 1960», die 1961 im Teatro La Fenice Venedig zu tumultuöser Uraufführung gekommene «azione scenica» auf ein vom Komponisten selbst zusammengestelltes Libretto. Das Stück atmet durch und durch den Geist seiner Entstehungszeit, textlich wie musikalisch. Als es entstand, fünfzehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war die Vergangenheitsbewältigung in Italien noch kaum in Gang gekommen, waren vielmehr, zumal für die hochsensibilisierten linken Kreise, Spuren der faschistischen Mentalität noch mit Händen zu greifen. «Intolleranza 1960» erzählt keine Geschichte, wiewohl die Rede ist von einem ausgewanderten Bergmann, der in seine Heimat zurückzukehren sucht, auf dem Weg zu einem unschuldigen Opfer von Polizeigewalt wird und schliesslich an einer Flut scheitert. Dieser minimale Erzählstrang wird zum Anlass genommen zu einem Aufschrei gegen die Brutalität, mit der Menschen gegen Menschen vorgehen – dargestellt mit den musikalischen Mitteln der Darmstädter Avantgarde, die sich Nono in sehr persönlicher Weise zu eigen gemacht hat.

In der heftigen Anklage und dem dringenden Aufruf zu einer auf gegenseitigem Respekt beruhenden Gemeinschaftlichkeit bildet «Intolleranza 1960» den radikalen Gegenentwurf zu Mozarts «Don Giovanni» (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 11.08.21), wo das entfesselte Ich herrscht – dieser Kontrast darf sich fürwahr Programmgestaltung nennen. Nonos Stück ist zwar hohe Kunst, und es ist Kunst aus einer Phase der Musikgeschichte, über die man heute gern mit Nachsicht hinweggeht, aber es trifft den Zuhörer, die Zuschauerin von heute mit aller Macht – eindeutiger könnte das Ausrufezeichen einer Institution wie der Salzburger Festspiele nicht ausfallen. Sehr wohl geht das auch auf die grandiose Realisierung in der räumlichen Weite der Felsenreitschule zurück. Am Pult der nicht nur im Orchestergraben, sondern auch auf zwei Emporen über der Spielfläche positionierten Wiener Philharmoniker sowie der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor behält der Dirigent Ingo Metzmacher die klanglichen Massierungen optimal unter Kontrolle. Als der im Mittelpunkt stehende Emigrant bringt Sean Panikkar einen blendenden hohen Tenor ins Spiel, während Anna Maria Chiuri als die erste, zurückgelassene Geliebte ihrem Zorn klangmächtig Ausdruck verleiht. Besondere Eindrücke hinterlässt Sarah Maria Sun, die als die zweite, neugewonnene Partnerin nicht nur grandios singt, sondern auch als eine äusserst sportliche Tänzerin in Erscheinung tritt.

Das alles in einer Inszenierung, die der belgische Theaterkünstler Jan Lauwers als Regisseur und Bühnenbildner (die Kostüme gehen auf Lot Lemm zurück) entworfen hat. Wie beim «Don Giovanni» von Romeo Castellucci herrschen auch hier weit ausschwingende choreographische Verläufe. Tänzerinnen und Tänzer von Needcompany, Bodhi Project und der Salzburg Experimental Academy of Dance sorgen für elegante optische Wirkungen und mehr noch für Ausbrüche körperlicher Energie, welche die musikalischen Verläufe optimal spiegeln. Ob die Szene, in welcher der zufällig in eine Demonstration geratene und dort verhaftete Emigrant gefoltert wird, so explizit gezeigt werden muss, darf offenbleiben – gerade in einer Zeit wie der heutigen, da auf dem Netz noch ganz andere Szenen konsumiert werden können. Ich glaube, dieses Kitzels bedarf es nicht, die Musik sagt genug dazu. Weitaus stärker wirkt der Moment, da der von Lauwers ins Stück eingelassene Dichter (Victor Afung Lauwers) seine Donnerstimme erhebt und ernste Fragen stellt, die vom Volk auf der Bühne mit höhnischem Gelächter beantwortet werden. Das ist, das vermag Theater.