Von Peter Hagmann
Goldene Zeiten waren das – als Eduard Müller, der legendäre Hauptlehrer für Orgel an der Basler Musikhochschule, die damals noch «Konservatorium» hiess, im Münster zu Basel einen seiner Orgelabende gab. Dicht gedrängt sassen die Menschen, auch auf den Emporen; viele Junge hatten Stehplätze und lehnten sich rundherum an die Säulen. Die zahlreichen Schüler Müllers, die in Basel wirkten, nahmen die Tradition auf. An den verschiedenen Kirchen mit ihren oft wertvollen Instrumenten gab es Reihen von Orgelkonzerten, die spezifische Profile aufwiesen. Dazu kamen grosse Zyklen mit den Orgelwerken Johann Sebastian Bachs und Max Regers. Nach und nach schwand jedoch das Publikum, der Faden der Tradition wurde dünner, zum Riss kam es aber nicht. 2003 gab es nochmals Bewegung, als das Basler Münster eine neue Orgel erhielt, ein Instrument aus dem Glarner Hause Mathis.
Inzwischen scheinen Orgelmusik und Orgelspiel in Basel in einer besonderen Weise neues Leben zu erhalten. Grund dafür ist der von dem Büro Herzog & de Meuron konzipierte und durchgeführte Umbau des Musiksaals im Stadtcasino Basel (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 02.09.20). Im Rahmen dieser spektakulären Aktion erhielt der Saal eine neue Orgel – wie es auch in der Tonhalle Zürich geschehen wird. Ursprünglich wies der 1876 eröffnete Musiksaal des Architekten Johann Jakob Stehlin kein solches Instrument auf, erst bei seiner Neueinrichtung im Jahre 1905 erhielt der Saal eine Orgel. Bis 1945 wurde sie gespielt, dann verfiel sie zusehends. Nach Jahrzehnten des Klagens über den bedauerlichen Zustand des Instruments und die damit verbundenen künstlerischen Einschränkungen erhielt der Musiksaal 1971 eine neue Orgel; bezahlt wurde das von der Firma Orgelbau Genf erstellte Instrument von dem Mäzen und Dirigenten Paul Sacher.
Ursprünglich war im Sanierungsprojekt nur eine Revision dieses Instruments vorgesehen. Auf die Initiative einer privaten Gruppierung hin beschloss die Basler Casino-Gesellschaft als Bauherrin jedoch, den Raum mit einer neuen Orgel zu versehen. Die Mittel dafür, immerhin 2,5 Millionen Franken, wurden von privater Seite zusammengetragen. Jetzt steht sie, jetzt klingt sie, die neue Orgel aus dem Hause Metzler in Dietikon bei Zürich. 56 Register auf drei Manualen und Pedal sind im ursprünglichen, restaurierten Gehäuse von 1905 untergebracht – eine Forderung des Denkmalschutzes. Für die besonders grossen Pfeifen der tiefen Bassregister wurde zusätzlicher, nicht sichtbarer Raum hinter dem Gehäuse geschaffen.
Bedient wird das Instrument mit elektrischer Traktur an einem mobilen Spieltisch auf dem Orchesterpodium; versehen mit den neusten digitalen Segnungen, lässt er zum Beispiel die Registrierungen für einen ganzen Abend, nein: für mehrere ganze Abende voreinstellen, abspeichern und per Knopfdruck abrufen. Zusätzlich zum mobilen gibt es einen seitlich fest angebauten, mit mechanischer Traktur arbeitenden Spieltisch, der zudem auf einem vierten Manual das von Metzler propagierte Prinzip der «winddynamischen Orgel» verwirklichen lässt. Hierbei können alle Parameter, die das Entstehen des Orgeltons beeinflussen, in letzter Flexibilität beeinflusst werden. Darauf ist die Firma Metzler ebenso stolz wie auf die Tatsache, dass für den Bau des Instruments, insbesondere für die verwendeten Materialien, höchste ökologische und ethische Anforderungen galten.
Die Disposition vereinigt die klassische, an barocken Idealen orientierte Orgel des 20. Jahrhunderts, wie sie das auf 16 Fuss basierende Hauptwerk zeigt, mit Elementen der französischen Spätromantik im Geiste Aristide Cavaillé-Colls, repräsentiert durch das ebenfalls von 16 Fuss ausgehende Récit, und mit Farben der englischen Orgelkultur, dies auf einem Schwellwerk mit 8-Fuss-Grundlage. Das Pedal wiederum geht von zwei 32-Fuss-Registern aus und dient auf diesem gewaltigen Fundament allen drei Stilrichtungen. Klug durchdacht und schön ausgeformt ist das – und so war die Spannung beträchtlich, als das neue Instrument zum Ende eines zweiwöchigen Orgelfestivals seinen Auftritt an der Seite des Kammerorchesters Basel hatte. Und das im Rahmen eines Konzerts, das von der Länge her der üblichen Dimension entsprach, auch eine Pause enthielt, aber mit Maske und unter Einhaltung von Abstandsregeln zu besuchen war.
Das Programm galt der französischen Klanglichkeit. Es hob mit dem Zyklus «Ma mère l’Oye» von Maurice Ravel an und führte zu «Cyprès et lauriers», einem vollkommen unbekannten Stück für Orgel und grosses Orchester, mit dem Camille Saint-Saëns das Ende des Ersten Weltkriegs besang – es wurde in einer von Eberhard Klotz eingerichteten Fassung für Orgel und Kammerorchester geboten. Als Martin Sander als Solist die neue Orgel aufrauschen liess, war die klangliche Signatur des Hauses Metzler – einer Firma, die sich um die Wiederbelebung der Barockorgel besonders verdient gemacht hat – auf Anhieb zu erkennen. Nur hatte, was da in den Raum trat, mit den Klangidealen von Saint-Saëns, der während zweier Jahrzehnte an der Cavaillé-Coll Orgel der Pariser Madeleine wirkte, nicht sehr viel zu tun. Zu direkt, ja etwas trocken klang es, im majestätischen Tutti auch sehr kompakt, ausserdem geprägt durch kräftig zeichnende Mixturen. Die exzellente Akustik im Musiksaal des Basler Stadtcasinos trug es mit, brachte es zur Geltung – aber am Ende blieb doch ein Fragezeichen.
Nicht für lange freilich, denn nach Albert Roussels Concert pour petit orchestre und der «Pastorale d’été» von Arthur Honegger nahm Olivier Latry am Spieltisch Platz. Titulaire der grossen Orgel in Notre-Dame de Paris – das Instrument hat die Feuersbrunst des letzten Jahres fast unbeschadet überstanden, kann derzeit aber nicht benützt werden –, kennt sich Latry in den Gefilden der französischen Klanglichkeit wie kein Zweiter aus. Im frech-fröhlichen Orgelkonzert von Francis Poulenc liess er erkennen, was die Basler Metzler-Orgel auch kann. Es ist nicht wenig. Das Summen gehört dazu, das Näseln, das Schweben, aber auch das stolz, füllige, grundtönig eingekleidete Fortissimo. In einer ganz selbstverständlich wirkenden Virtuosität (und dank der digitalen Steuerungsmöglichkeiten) brachte er das Instrument zum Atmen, baute er geschmeidige Steigerungen auf und liess sie wieder in sich zusammenfallen, erzeugte er schimmernde Farbwirkungen. Ein Vergnügen erster Güte war das – aber es kam noch besser, in der Zugabe nämlich, in der Toccata aus Léon Boëllmanns «Suite gothique», einem Renner aus der Literatur der französischen Spätromantik, den Latry mit einem Drive sondergleichen durchzog. Die neue Orgel im Basler Musiksaal ist eine grossartige Maschine. Am Ende kommt es aber doch auf den Menschen an, der sie bedient.
Ein fantastischer Auftritt des so sehr mit der Kirche verbundenen Instruments im weltlichen Ambiente des Konzertsaals. Allein, das Kammerorchester Basel spielte dabei durchaus prominent mit, besonders fulminant in Poulencs g-Moll-Konzert. Die drei reinen Orchesterstücke liessen ein wenig die Fülle des gross besetzten Streicherapparats vermissen, lebten dafür, ein Verdienst des Dirigenten Pierre Bleuse, von klarer Zeichnung und subtiler Koloristik. Auffällig dabei war, dass der lange Nachhall, der bei dem wenige Wochen zurückliegenden Konzert des Sinfonieorchesters Basel und seines Chefdirigenten Ivor Bolton so stark in Erscheinung getreten war, in keiner Weise auffiel. Er war ganz einfach: genau richtig.