Diva, ohne Diva zu sein

Die Sopranistin Patrizia Ciofi
in La Chaux-de-Fonds

 

Von Peter Hagmann

 

Keine Sängerin wie sie. Keine wie Patrizia Ciofi. Die italienische Sopranistin verfügt nicht nur über ein ausgeprägt individuelles, sondern auch über ein sehr spezielles Timbre – das zu beschreiben nicht eben leichtfällt. Ihre Stimme ist prächtig geerdet und wundervoll gefügt, dazu ausserordentlich beweglich, wovon nicht zuletzt das Repertoire der Sängerin zeugt. Zugleich gibt es bei ihr aber eine besondere Ebene der Farbgebung. Über ihren Lineaturen liegt ein zarter, transparenter Schleier, eine Art Hauch, der eine reiche Palette an Färbungen hervorbringt und die Konturen vielgestaltig miteinander verschmelzen lässt. In vielen ihren zahlreichen Aufnahmen ist es zu hören; besonders stark wirkte es 2018 im Genfer Grand Théâtre, wo Patrizia Ciofi die Donna Anna in Mozarts «Don Giovanni» gab und dieser oftmals etwas erstarrt wirkenden Figur bewegendes menschliches Profil verlieh.

Jetzt also ein Rezital – eines mit ihren Lieblingsarien, und erst noch eines mit Orchesterbegleitung. Ein populärer Abend? Gewiss, aber zum Glück. Im Konzertsaal sind Auftritte solcher Art ausgesprochen selten, was zu bedauern ist. Denn im Gegensatz zur Opernaufführung mit ihrem Drum und Dran lässt sich an einem solchen Abend die Gesangskunst sozusagen in nuce erfassen. Und Kunst gab es in diesem Fall reichlich. Das Publikum geriet förmlich aus dem Häuschen; es sparte nicht mit bewundernden, anspornenden Zwischenrufen, auch nicht mit Bravi und Stehapplaus. In grosse Robe gekleidet, in zwei verschiedene Modelle vor und nach der Pause, erschien Patrizia Ciofi als gewiefte Diva, die den Saal zu verzaubern weiss. Unnahbar erschien sie allerdings keineswegs, sie suchte den Kontakt zu ihrem Publikum, griff nach dem bereitliegenden Mikrophon und erläuterte in fliessendem Französisch die Ideen hinter der Werkwahl und den Kontext zu den jeweiligen Arien. Zwei Mal drei Stücke aus dem Bereich der französischen wie jenem der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts gab sie. In beiden Teilen ging es um die Liebe, im ersten um die aufblühende Liebe und die damit verbundenen Hoffnungen, im zweiten um die zu Ende gehende, in Abschied und Trennung mündende.

Den Anfang machte «Depuis le jour», der Monolog der titelgebenden Protagonistin aus dem dritten Akt der Oper «Louise» von Gustave Charpentier. Ganz zart kam die Selbstreflxion der durch das Liebesglück berückten jungen Frau daher – denn mit ihren stimmlichen Möglichkeiten vermag Patricia Ciofi gerade das Pianissimo sehr ausdrucksvoll zu formen. Das kam auch «Caro nome» zugute, der Arie der Gilda aus dem ersten Akt von Giuseppe Verdis «Rigoletto»; nicht zuletzt wurde hier übrigens deutlich, wie nahe sich italienische und französische Gesangskultur stehen. Schliesslich «Roméo et Juliette» von Charles Gounod und hieraus «Je veux vivre», der Walzer der Juliette aus dem ersten Akt, in dem sich am Ende, wie von den herabfallenden Blättern der Rose die Rede ist, schon ein Wechsel der Temperatur ankündigt. Patrizia Ciofi war hier aber noch einmal sprühende Fröhlichkeit und zeigte blendende Agilität.

Darauf jedoch der Rückbau der Liebesgefühle. In «Adieu, notre petite table», ihrer Arie aus dem zweiten Akt von Jules Massenets «Manon», beklagt die Protagonistin den erzwungenen Abschied von Des Grieux. Grossartig, wie Patrizia Ciofi in den Beiträgen von Charpentier, Gounod und Massenet den enthusiastischen Ton der französischen Musik, etwa den Sprung in die Terzlage im Moment der emotionalen Kulmination, zu bewältigen verstand. Und hinreissend ihr Legato, ihre Arbeit mit der Dynamik, ihr sinnliches Vibrato. Auf «Piangete Voi» aus «Anna Bolena» von Gaetano Donizetti folgte schliesslich das vokale und expressive Feuerwerk von «Sempre libera» aus Verdis «Traviata». Die Absage Violettas an die bürgerlich geprägte Lebens-Liebe und das emphatische Bekenntnis zum Moment geriet absolut bezwingend.

Durchsetzt waren die vokalen Vorträge durch instrumentale Nummern, durch Ouvertüren und Zwischenspiele, die vom Ensemble Symphonique de Neuchâtel mit seinem Dirigenten Victorien Vanoosten mit temperamentvoller Spielfreude und allem Sinn für Humor präsentiert wurden. Neuchâtel? Ja, das hatte seinen speziellen Sinn, denn der Abend mit Patrizia Ciofi fand abseits der musikalischen Zentren statt – in der Provinz, die so gar nichts Provinzielles an sich hat. Ort des Geschehens war La Chaux-de-Fonds, wo bekanntlich ein akustisch exzellenter Musiksaal steht und wo mit der Société de Musique eine in würdiger Tradition verankerte, freilich höchst lebendige Institution für eine reich gedeckte musikalische Tafel sorgt. Grosse Interpreten glänzen dort mit spannenden Programmen, zum Beispiel der Pianist Alexander Melnikov, der die Symphonie fantastique von Hector Berlioz in der Bearbeitung von Franz Liszt vortrug. Zu Gast waren etwa auch Les Vents français mit dem Flötisten Emmanuel Pahud an der Spitze, der britische Chor Solomon’s Knot, der zusammen mit dem von Meret Lüthi geleiteten Berner Barockorchester Les Passions de l’Ame Musik Georg Philipp Telemanns der Vergessenheit entriss, oder der Pianist Iddo Bar-Shaï, der auf dem Steinway «Les Ombres errantes» von François Couperin vortrug und sich dabei von der Kunst eines Schattenspielers begleiten liess. Die zwei Spielzeiten im Zeichen der Pandemie haben auch in La Chaux-de-Fonds Spuren hinterlassen; inzwischen scheint die Konzertreihe wieder Tritt gefasst zu haben. Die Stimmung in Foyer und Saal war jedenfalls so aufgekratzt wie eh und je.

Die Cellosonaten von Brahms in neuem Ton

Ein Abend mit Jean-Guihen Queyras und Alexandre Tharaud in La Chaux-de-Fonds

Von Peter Hagmann

 

«Quelle salle, mais quelle salle», rief der Cellist Jean-Guihen Queyras seinen Zuhörern zu, bevor er ihnen eine erste Zugabe ankündigte. Dem kann man sich vorbehaltlos anschliessen: Die Salle de musique von La Chaux-de-Fonds gehört zu den besten Konzertorten dieses Landes und weit darüber hinaus – zumal jetzt auch das im Haus gelegene Restaurant wieder offen ist und niemand mit knurrendem Magen auffallen muss. Schon das Entrée, Moderne im Geist der 1950er Jahre, erregt Aufmerksamkeit und erzeugt Wohlgefallen. Wer in den ersten Stock gelangt, wird ins Foyer eingeladen – das nun allerdings nicht Teil des Musiksaals bildet, sondern zu dem gleich daneben gelegenen Theater von 1837 gehört, das ebenso renoviert und im Originalzustand erhalten ist wie die Salle de musique. Dieser Konzertsaal – mit seinen 1200 Plätzen etwas kleiner als der Musiksaal im Basler Stadtcasino und der Grosse Saal in der Tonhalle Zürich, für eine Stadt wie La Chaux-de-Fonds mit ihren knapp 40’000 Einwohnern aber sehr gross – ist ganz in einem dunklen, nirgends vernagelten, nur geleimten Holz gehalten und bietet eine Akustik, die in ihrer Weite und gleichzeitig ihrer Präsenz tatsächlich ihresgleichen sucht.

Kein Wunder, trafen sich in La Chaux-de-Fonds die Besten der Besten. Sie taten es in den Konzerten der Société de musique, die 1893 gegründet wurde, in diesem Jahr also auf 125 Jahre des Bestehens zurückblicken kann und das mit einer kleinen, edlen Festschrift getan hat. Camille Saint-Saëns, Eugène Ysaïe, Pablo Casals, Fritz Kreisler, Ferruccio Busoni, Artur Rubinstein, Wilhelm Backhaus, Dinu Lipatti, Elisabeth Schwarzkopf waren unter jenen, die schon vor der Eröffnung der Salle de musique 1955 nach La Chaux-de-Fonds gekommen sind. Ihnen schlossen sich Mstislav Rostropowitsch, Arturo Benedetti Michelangeli, Yvonne Loriod und Olivier Messiaen, später Radu Lupu, Emmanuel Pahud, die Gebrüder  Capuçon oder Grigory Sokolov an. Nicht zu vergessen, dass die Salle de musique Ort legendärer Schallplattenaufnahmen war. Claudio Abbado hat an diesem Ort mit Viktoria Mullova zusammengearbeitet, der Pianist Andreas Haefliger hat viele seiner Beethoven-Aufnahmen hier gemacht. Und wenn sich die sogenannten Majors inzwischen aus dem Markt verabschiedet haben, sind es heute die kleineren Labels, die trotz angeblicher Krise des CD-Marktes munter Einspielungen erstellen und dafür nach wie vor gern die Salle de musique in der jurassische Uhrenmetropole aufsuchen.

Jetzt war die Reihe an dem jungen französischen Cellisten Jean-Guihen Queyras und seinem Landsmann Alexandre Tharaud am Klavier. Sie spielten die beiden Sonaten für Klavier und Violoncello von Johannes Brahms – und fingen einigermassen schwach an mit Johann Sebastian Bachs Gambensonate in D-dur BWV 1028. Queyras artikulierte lebendig und vielgestaltig, aber Tharaud blieb ein Schatten seiner selbst. In der edlen Absicht, den Cellisten nicht zu bedrängen, verzog er sich in ein gehauchtes Pianissimo, was dazu führte, dass der Bass nicht zum Fundament werden konnte und das Konzertieren der Oberstimme unterbelichtet blieb – dass in dieser Sonate ein Trio mit Solostimme, Bass und rechter Hand entsteht, war nicht zu hören. Überdies offenbarte der Pianist einen Hang zum Nähmaschinen-Barock, der doch wohl endgültig überwunden ist. Wesentlich besser geriet die zweite Ergänzung mit den vier Stücken für Klarinette und Klavier (in der Version für Violoncello und Klavier) op. 5 von Alban Berg. Der lyrische Grundzug des ersten Stücks, der depressive Charakter des zweiten, die Webern-Nähe des vorbeihuschenden dritten und die explosive Expressivität des vierten mit seinem gewaltigen Schluss-Cluster – all das klang grossartig und in vollendeter Balance, dies bei ganz geöffnetem Flügel.

Auch bei Brahms blieb das Klavier merklich unterbelichtet, wenigstens bei der zweiten der beiden Sonaten, die Jean-Guihen Queyras und Alexandre Tharaud als erste präsentierten. Es widersprach dem von Brahms formulierten Titel, in dem die Sonaten als Werke für Klavier und Violoncello benannt werden; um Cellostücke mit Klavierbegleitung – das suggerierte leider auch der Programmzettel der Société de musique – handelt es sich hier gerade nicht, die beiden Partner sollen jederzeit auf Augenhöhe agieren. Indes wird das klangliche Ungleichgewicht auf die abendliche Performance zurückzuführen sein, denn bei der inzwischen von Erato/Warner publizierten CD-Aufnahme tritt das Problem nicht auf; und selbst wenn da der Tonmeister nachgeholfen hat, kann man davon ausgehen, dass die beiden Musiker das Resultat abgesegnet haben, mit dem Klangbild also einverstanden waren.

Wichtiger als das Problem der Balance – das sich später bei der Wiedergabe der ersten Sonate deutlich relativiert hat – erscheint indessen der Umstand, dass sich in den Auftritten der beiden Musiker aus Frankreich jenes neue Brahms-Bild offenbart, das sich zunehmend verbreitet. Wer in Aufnahmen aus früheren Zeiten hineinhört, mit Grössen wie Jacqueline du Pré, Mstislav Rostropowitsch oder Mischa Maisky, wird sogleich feststellen, dass der fleischige, von heftigem (und durchgehendem) Vibrato getragene Brahms-Ton bei Jean-Guihen Queyras abgelöst ist durch eine Bogenführung ohne Druck, durch Vielfalt der Artikulation und effektvolle Differenzierung des Vibratos, während Tharaud das kontrapunktische Moment in seinem Part mit aller Sorgfalt, auch aller Lust herausstellt. Es herrscht hier jener eher helle, transparente Ton, den Brahms selbst geschätzt hat, wie ein lobender Satz des Komponisten an die Adresse des Dirigenten Felix Weingartner überliefert. Zu hören war es in La Chaux-de-Fonds, hart an der Schweizer Landesgrenze. Die Reise dorthin lohnt sich allemal.

Johannes Brahms: Sonaten für Klavier und Violoncello Nr. 1 in e-moll op. 38 und Nr. 2 in F-dur op. 99, Ungarische Tänze. Jean-Guihen Queyras (Violoncello) und Alexandre Tharaud (Klavier). Erato 019029573934 (1 CD, aufgenommen 2017).