Die Macht der Bilder

«Don Giovanni» in Strassburg

 

Von Peter Hagmann

 

Vor aller Augen: Don Giovanni und Zerlina in Strassburg / Bild Klara Beck, Opéra national du Rhin, Strasbourg

Anregend ausgedacht, exzellent ausgeführt, aber viel zu viel des Guten – so erscheint die Inszenierung von «Don Giovanni», die Marie-Eve Signeyrole für Oper Strassburg entwickelt hat. Eine ebenso anregende wie verwirrende Vielfalt an Bild und Aktion stürzt auf den Zuschauer ein, der Zuhörer kommt sich da oft wie überflüssig vor – fast hat es den Anschein, als gehe die Musik Wolfgang Amadeus Mozarts spurlos an der eifrigen Regisseurin vorbei. Wenn zur Champagnerarie des Don Giovanni im Saal geräuschvoll Eis gereicht wird, verdichtet sich der Verdacht zur Gewissheit. War da kein Dirigent beteiligt, der in den Proben Gegensteuer hätte geben können?

Ein Dirigent ist tatsächlich dabei an diesem Strassburger Abend, doch Christian Curnyn ist ganz und gar mit sich selber beschäftigt. Unverwandt blickt er in die Partitur, an seiner Umgebung scheint er kein Interesse zu haben, und so gibt er auch keine Einsätze – wie sollte er auch, verwendet er seine beiden Arme doch fast durchwegs synchron. Auch der vielschichtigen Rezeptionsgeschichte des so häufig gespielten Stücks vermag er, wie er im Programmheft gesteht, nichts abzugewinnen; er ziehe es vor, seinen eigenen, direkten Kontakt zur Partitur zu pflegen – eine rührend naive Aussage, die von einem Musikhochschüler stammen könnte. So klingt es denn auch: unpersönlich, unbestimmt. Da und dort steigt eine Erinnerung an Karl Böhm auf, vor allem aufgrund der oft überzeugend gewählten, wenn auch unbarmherzig gerade durchgezogenen Tempi. Mit der Bühne kommt es darum unweigerlich zu Spannungen – etwa dann, wenn Sängern keine Zeit bleibt, Atem zu holen, oder wenn unwillkürliche Temposchwankungen eintreten und der Maestro concertatore gefragt wäre. Für das Orchestre philharmonique de Strasbourg freilich ist Christian Curnyn genau der Richtige. Seine lange Leine gibt den Musikerinnen und Musikern Gelegenheit, in dem taghellen, transparenten Klangbild des Abends ihr Bestes zu zeigen.

Wie das Orchester nicht durch den Dirigenten gestört wird, bleibt auch das Szenische durch die Musik nur marginal berührt. In der hochkomplexen, unerhört beweglichen Ausstattung von Fabien Teigné und mit den aussagekräftigen Kostümen von Yashi führt Marie-Eve Signeyrole eine Bühneninstallation durch, die sich an den Auftritten der serbischen Performerin Marina Abramović orientiert. Der Ansatz wirkt plausibel, fragt sich die hochbegabte, scharf interpretierende Regisseurin doch, wer Don Giovanni überhaupt sei? Ein Niemand sei er, sagt sie, ja ein Nichts – das Gegenteil so viriler Verkörperungen, wie sie Dietrich Fischer-Dieskau oder Ruggero Raimondi auf die Bühne gebracht haben. Nikolay Borchev ist in Strassburg denn auch ein ganz und gar lyrischer, weichzeichnender Don Giovanni – einer, der selten das Heft in die Hand nimmt, der aber alles dafür tut, dass ihm mitgespielt wird. Dass er schliesslich genug hat vom Spiel und sein Leben nicht durch den Komtur (Patrick Bolleire) zu Ende gehen lässt, sondern sich die Henkersmahlzeit durch seinen Diener Leporello (den sehr witzigen Michael Nagl) vergiften lässt, hat seine eigene Logik. Don Giovanni als Anti-Mann, das strahlt voll auf die anderen Figuren des Geschehens aus. Don Ottavio (Alexander Sprague) wie Masetto (Igor Mostovoi) sind als Waschlappen gezeichnet – was freilich eine Plattitüde darstellt. Anders die Frauen. Mit ihrer klar fokussierten, obertonreichen Stimme gibt Jeanine de Bique eine kämpferische, nur selten in die Knie gehende Donna Anna, während Sophie Marilley als eine hartnäckig zielstrebige Donna Elvira in Erscheinung tritt. Besondere Aufmerksamkeit erzielt die junge Sopranistin Anaïs Yvoz, welche die Partie der Zerlina blendend aus dem Schattendasein holt.

Das alles in einem szenischen Arrangement, das reich besetzt ist durch bildliche Zitate; neben Marina Abramović treten Oleg Kulik, Ruben Östlund und Stanley Kubrick. Und das ausserdem die Gesichter der Darstellerinnen und Darsteller immer wieder in grossformatigen Videosequenzen von nahem sehen lässt. Nicht nur sind die Augen da beständig hin- und hergerissen zwischen dem Spiel auf der Bühne und dem Projizierten auf der Leinwand, von der Bildästhetik her ergibt sich da auch eine bedenkliche Annäherung an die aus berühmten Opernhäusern in Kinos übertragenen Aufführungen, mithin eine Abwertung des Live-Charakters eines Opernabends. Überraschend und amüsant ist jedoch, wie konkret Marie-Eve Signeyrole ihre Vorstellung von Don Giovanni als einer Projektion umsetzt. Sie verwischt die Grenzen zwischen den Ausführenden und dem Publikum, indem sich Figuren aus der Oper vor Beginn der Vorstellung unter die herbeiströmenden Besucher mischen und indem umgekehrt durch Los bestimmte Zuschauerinnen und Zuschauer auf der Bühne Platz nehmen und zu ihrer Überraschung heftig ins Geschehen involviert werden. Das führt zu manch komischem Moment, aber auch zu einem schrecklichen, denn die arme Zerlina wird von dem hier aus seiner Lethargie erwachenden Don Giovanni vor aller Augen malträtiert: die Festgesellschaft wird da zu einer Gruppe von Gaffern. Das wäre dann die Höllenfahrt des Publikums.

Das war hier animierend oder animierend, dort problematisch – es ändert nichts daran, dass die Produktion in ihrer Weise von dem Aufbruch zeugt, den Strassburger Rheinoper derzeit erlebt. Allein, es ist ein Aufbruch auf Zeit, denn seine Auslöserin, die Intendantin Eva Kleinitz, die ihr Amt im Herbst 2017 angetreten hat, ist am 30. Mai 2019 im jungen Alter von 47 Jahren einer heimtückischen Krankheit erlegen. Bei den Bregenzer Festspielen, in der Brüsseler Monnaie-Oper und zuletzt an der damals noch von Jossi Wieler geleiteten Staatsoper Stuttgart hat die Musik- und Literaturwissenschaftlerin aus der Umgebung von Hannover Erfahrungen gesammelt und ihr Netzwerk aufgebaut. Unter ihrer Leitung hat das Strassburger Haus gleich ein neues Gesicht angenommen. Vergessene Werke wie «Barkouf», die freche Operette von Jacques Offenbach, erschienen im Spielplan und sorgten für frischen Wind. Ein multidisziplinäres Festival namens «Arsmondo» richtete den Blick auf die Kultur einzelner Länder wie Japan (2018) oder Argentinien (2019). Und neue Namen erschienen auf den Besetzungszetteln. Die nächste, die dritte Spielzeit wird die letzte sein, die Eva Kleinitz erdacht hat. Das Leben kann unglaublich brutal sein.

Der Hund als Herr

«Barkouf», ein Meisterwerk von Jacques Offenbach, an der Opéra du Rhin in Strassburg ausgegraben

 

Von Peter Hagmann

 

Offenbach, der Witzbold. Offenbach, der Meister der allzu leichten Muse. Offenbach, der Vielschreiber. Die abwertenden Vorurteile sind rasch gefällt und weit verbreitet. Nur: Was ist von Jacques Offenbach (1819-1880) schon bekannt? Gewiss, Operetten wie «La belle Hélène» oder «Orphée aux enfers» oder die unvollendete Oper «Les contes d’Hoffmann», sie werden ab und zu gespielt, sie vermitteln von einem Schaffen, das über hundert Bühnenwerke umfasst, jedoch höchst einseitige Vorstellungen. Inzwischen beginnt sich allerdings die Einsicht zu verbreiten, dass das Bild, das von dem französischen Komponisten deutscher Herkunft gemeinhin gepflegt wird, vielleicht doch zu revidieren sei. Zurückzuführen ist dieser Wandel zuallererst auf die hartnäckige Arbeit, die der französische Musikwissenschaftler und Dirigent Jean-Christophe Keck als Betreuer einer grossen Werkausgabe leistet. Und auf den Mut von Theaterleitern, die bisher bestenfalls dem Namen nach bekannte Werke Offenbachs in ihre Spielpläne aufzunehmen wagen.

 

Verschwörer vor dem Palast, unter ihnen nicht ganz unbelkannte Gesichter: «Barkouf» von Jacques Offenbach in Strassburg / Bild Klara Beck, Opéra National du Rhin Strasbourg

 

So geschehen dieser Tage an der Opéra National du Rhin, dem Verbund der Opernhäuser von Strassburg, Colmar, und Mulhouse. Eva Kleinitz, die 2017 von der Staatsoper Stuttgart ins Elsass gezogen ist und dort als Intendantin gleich für frischen Wind gesorgt hat, ist zu verdanken, dass «Barkouf», die opéra-bouffe, die Jacques Offenbach an Heiligabend 1860 in der Pariser Opéra-Comique herausgebracht hat, nun zu ihrer zweiten Produktion gekommen ist. Die Vorbereitungen damals hatten sich äusserst turbulent gestaltet, die Uraufführung selbst an jenem Haus, das Offenbach bis dato ausgeschlossen hatte, geriet zu einem mässigen Publikumserfolg, während es danach zu einer ausserordentlich gehässigen Pressedebatte kam. In ihrem Zentrum stand die Frage, ob es sich bei «Barkouf» nicht um eine unerhörte Zumutung handle.

Ganz unverständlich ist die Frage nicht. «Barkouf» ist ein Stück von scharfzüngigem, subversivem Witz. Das Textbuch von Eugène Scribe, dem Pariser Gross-Librettisten jener Tage, verhandelt die Geschichte von einem unbotmässigen Kleinstaat, in dem die Vize-Könige, die von einem fernen, selten zu Besuch erscheinenden Gross-Mogul eingesetzt werden, vom Volk in schöner Regelmässigkeit zum Fenster hinaus geworfen werden. Dieser Widerspenstigkeit überdrüssig, beschliesst der Gross-Mogul, als nächsten Repräsentanten keinen Beamten seines Hofs, sondern schlicht einen Hund einzusetzen. Dessen Gebell muss von der ursprünglichen Besitzerin des Tiers übersetzt und zu Regierungsbeschlüssen umgeformt werden – die natürlich durchwegs gegen die Absichten der Herrschenden, sondern vielmehr im Sinne des aufbegehrenden Volks ausfallen. Dazu gibt es Intrigen und Liebeshändel, alles gewürzt mit gepfefferten Anspielungen (die in der Strassburger Produktion auf die heutige Zeit hin angepasst wurden). Getragen wird dieses Geschehen von der nun einmal sehr persönlichen, treffsicher charakterisierenden und immer wieder mit herrlich schrägen Einfällen überraschenden Musik Offenbachs.

An vorderster Front der Gegner stand in den Wochen nach der Pariser Uraufführung der von Offenbach zutiefst verehrte Hector Berlioz, an dessen Seite wirkte eine Reihe einflussreicher Kritiker. Geschmäht wurde das Werk seines Sujets wegen wie auch wegen der von Scribe verwendeten Ausdrucksweise; beides wurde als der Opéra-Comique unangemessen gescholten. Kritik löste aber auch die Musik aus, die als unelegant und harmonisch abstrus empfunden wurde. Nach einigen Wiederholungen in der Salle Favart verschwand «Barkouf» in jenen Archiven, die 1887 dem Grossbrand in der Opéra-Comique zum Opfer gefallen sind. Wie durch ein Wunder erhalten geblieben ist hingegen das Autograph, das sich im Besitz der Familie Offenbach befindet und dort von Jean-Christophe Keck ausfindig gemacht wurde. Ein im Notentext fehlender Teil wurde von Keck zudem in den USA entdeckt – ein unglaublicher Zufall. Da das Autograph die Spuren der bewegten Probenarbeit trägt und diverse Varianten enthält, musste eine Spielfassung erstellt werden – und auf dieser Basis ist das Stück jetzt in Strassburg vorgestellt worden.

Das geschah in einer Produktion erster Güte. Am Pult des hellwach und klangschön agierenden Orchestre symphonique de Mulhouse, als dessen Chefdirigent er seit diesem Herbst wirkt, setzt der Dirigent Jacques Lacombe auf straffe, zügige Tempi, welche die Regisseurin Mariame Clément szenisch brillant aufnimmt. Wie ein Uhrwerk läuft der Beginn ab. Er stellt die Mechanismen des Herrschens, wie es der Gross-Mogul (Nicolas Cavallier) ausübt, und des Beherrscht-Werdens, das der von Alessandro Zuppardo geleitete Chor verkörpert, in unbarmherziger Skurrilität aus. Kommt das Geschehen nach der Exposition im ersten Akt dann in Gang, fällt der Blick in ein enormes Staatsarchiv mit Türmen mehr oder weniger bearbeiteter Staatsakten, die von einem Faktotum Marthalerscher Prägung gehütet werden. In diesem von Julia Hansen gestalteten Ambiente – Schrecken und Komik halten sich da die Waage – bleibt der Regisseurin ausreichend Raum, die Figuren aus ihren typologischen Anlagen zu befreien und sie plastisch auszuformen. Maïma, die Blumenverkäuferin, deren Hund in seiner Hütte mit gewaltigem Bellen und gefährlichem Zubeissen königliche Funktionen ausübt – Maïma wandelt sich, je mehr sie als Übersetzern ihres Herrn an Einfluss gewinnt, von einem mechanisch bewegten Püppchen zu einer emanzipierten Frau: grossartig, auch stimmlich hinreissend, wie Pauline Texier das Wirklichkeit werden lässt. Ihre Freundin Balkis, die sich bei der beeindruckenden Mezzosopranistin Fleur Barron in besten Händen befindet, wird dagegen von der Revolutionärin zur Liebenden.

Dominiert werden die Kräfteverhältnisse freilich von dem durchtriebenen, machtgierigen Mundschenk Bababek, der alle Hebel in Bewegung setzt, aber ein fürs andere Mal den Kürzeren zieht. Was Rodolphe Brand in dieser Partie an sprachlichem Slapstick, stimmlicher Agilität und Bühnenpräsenz vorlegt, ist grosse Klasse. Hochvirtuos sorgt er dafür, dass sich das Rad des Schicksals immer schneller dreht – und wenn dann schliesslich aus der ins Monumentale gewachsenen Hundehütte ein mit Krone und Hermelin versehenes Zwergpinscherchen herausschiesst, ist der Höhepunkt erreicht. Zum Schluss bleibt nur mehr das von der Zensur erzwungene «lieto fine», das in Strassburg als die Krönung eines Kaisers vom Schlage Napoleons III. gezeigt wird. Bitterbös ist das, aber in restloser Übereinstimmung mit Text und Musik.

In ihrer feinsinnigen Deutlichkeit bietet die Produktion zusammen mit dem fundierten Programmbuch allen Anlass, über Offenbach neu nachzudenken. In jüngerer Zeit wurde der Komponist ja gerne als Anpasser dargestellt; mit den Instanzen, zum Beispiel mit dem Kaiser und seiner Administration, habe er sich jederzeit gut zu stellen gewusst, auch wenn er die Hand, die ihn nährte, mit dreister Lust schlug. Indes bringt «Barkouf ou Un chien au pouvoir» bei allem Witz an den Tag, wie kritisch Offenbach den gesellschaftlichen, ja den politischen Verhältnissen seiner Zeit gegenüberstand. Das bestätigt die vier Jahre später entstandene Oper «Les Fées du Rhin». In Wien in einer Übersetzung auf Deutsch aus der Taufe gehoben, erlebte die Originalfassung des Stücks diesen Herbst erst seine Uraufführung: in einer Produktion der Opéra de Tours, die inzwischen ans ‘Musiktheater in Biel und Solothurn übergeben worden ist. Das radikal pazifistische Manifest, das in den «Fées du Rhin» verkündet wird, zeugt in seiner Weise davon, dass Offenbach weit mehr ist als ein Witzbold, ein Meister der allzu leichten Muse und ein Vielschreiber.