Das Volk: unsichtbar anwesend – «Boris Godunow» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Der Gekrönte (Michael Volle als Boris Godunow), der Strippenzieher (John Daszak als Schuiski) / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Not macht erfinderisch, ganz besonders im Opernhaus Zürich. Vom Normalzustand sind wir noch denkbar weit entfernt, die Pandemie bestimmt das Leben mit ungebrochener Kraft, aber die Saison sollte unbedingt anfangen. Und spektakulär sollte sie anfangen, als lautes und deutliches Lebenszeichen, nämlich mit einer fürwahr gross besetzten Choroper. So sagte es sich das Team um den Intendanten Andreas Homoki – und deshalb blieb es bei der von langer Hand geplanten Produktion von Modest Mussorgskis «Boris Godunow». Dies in der Urfassung von 1869 und in der originalen Instrumentation des Komponisten, aber mitsamt dem «Polen-Akt» und dem Schlussbild mit dem Gottesnarr, den beiden 1872 nachgereichten Teilen. Davon abgesehen war allerdings manches etwas ungewöhnlich.

Nicht nur die Lücken in den Reihen waren es – sie sind dem Umstand geschuldet, dass derzeit von den gut 1100 Plätzen des Hauses nur deren 900 verkauft werden. Und nicht nur die Masken, die zu tragen obligatorisch und überaus sinnvoll ist. Weitaus merkwürdiger mutete an, dass im Graben kein einziges Lämpchen auszumachen war, wo sich doch das Orchester schon voll im Einsatz befand. Ebenso gähnend die Menschenleere auf der Bühne, doch dort herrschte immerhin eine Versammlung grossformatiger Aktenregale, die von dienstbaren Geistern zu ebenso leichtfüssigem wie schwergewichtigem Tanz geführt wurden. Es gilt eben nicht nur die Maskenpflicht, sondern auch die Abstandsregel, welche die Aufstellung des Orchesters im Graben so unmöglich machte wie das körpernahe Singen des Chors auf der Bühne. Da war guter Rat teuer, zumal eine Kammerversion von «Boris Godunow» – etwa in der Art, wie es das Theater Basel demnächst mit «Saint François d’Assise» von Olivier Messiaen versucht – undenkbar ist.

Für die Lösung des Problems sorgte moderne Technik. Der von Ernst Raffelsberger vorbereitete Chor und das von Kirill Karabits geleitete Orchester agieren in ihrem Probenraum am Kreuzplatz, einen Kilometer von der Oper entfernt. Über Glasfaserkabel, zahllose Mikrophone, eine höchsten Ansprüchen genügende Beschallungsanlage und mit feinfühliger Steuerung durch ein Team von Technikern gelangen Ton und Bild vom Probenraum ins Opernhaus und zurück. Das mag man – mit dem Gedanken an Freiluftveranstaltungen, wie sie in Bregenz oder St. Gallen angeboten werden – als zweitklassig empfinden. Tatsächlich ersetzt kein Lautsprecher, sei er noch so hochstehend, die Eins-zu-Eins-Wirkung eines im Raum selbst entstehenden, direkt aufs Ohr treffenden Tons instrumentaler oder vokaler Abstammung. Allein, auch im Wissen darum gelingt es Laufe des Abends immer wieder, die technische Zurichtung zu vergessen und sich ganz und gar auf das musikalisch-szenische Geschehen einzulassen. Vor allem aber: besser ein Abend mit technischer Krücke als keiner.

Ja mehr noch: Die physische Abwesenheit des Chors, des Volks, verdeutlichte die zentrale Botschaft von «Boris Godunow» in aller Schärfe und unterstrich zudem, dass in diesem Stück – anders, als es das ausdrucksstarke Bühnenbild von Rufus Didwiszus mit seinen enormen Bergen von Archivalien suggerieren mag – nicht von einer fernen Vergangenheit die Rede ist, sondern schlechthin von der Jetztzeit. Wie es damals Boris Godunow mit dem legitimen Zarewitsch tat, verfahren heute Putin, Lukaschenko, Erdogan und Konsorten mit Andersdenkenden. Und wenn in der Oper Mussorgskis, das Libretto stammt vom Komponisten selbst, der Satz fällt, an der Wahrheit sei der Pöbel nicht interessiert, sind wir nochmal ganz nah an der Gegenwart. Auf der anderen Seite kommen die Einsamkeit, die Abgehobenheit, die Entfremdung von der Realität, wie sie den Machthaber Boris Godunow zeichnen, im Setting der Zürcher Produktion zu ganz besonderer Greifbarkeit. Dass der Zar am Schluss der Krönungsszene zwar in jenem prachtvollen Ornat, das ihm der Kostümbildner Klaus Bruns entworfen hat, aber ganz allein die Bühne betritt, führt zu einem szenischen Moment, der sich dem Besucher tief eingraben dürfte.

Dieser Zar, er ist denn auch ein durch und durch ungeheuerlicher Kerl – das führt Michael Volle in der Titelpartie eindringlich vor. Er stellt die labile psychische Verfassung Godunows, die Egomanie des Machtmenschen, sein grenzenloses Bedürfnis, geliebt zu werden, sein Leiden an einer verruchten Tat auf dem Weg zur Machtergreifung, schliesslich den Verlust des inneren Halts und das Zerbrechen schonungslos heraus – mit letztem Einsatz in der körperlichen Präsenz auf der Bühne und ohne Zurückhaltung in der Nutzung seiner stimmlichen Ressourcen. Blieb Matti Salminen, dem Godunow zurückliegender Tage, stets noch ein Rest an Vornehmheit, so dominiert bei Volle kunstvoll gestaltete Rohheit. Unterstützt wird er dabei vom Dirigenten Kirill Karabits, der mit der engagiert zupackenden Philharmonia Zürich die Ecken und Kanten in Mussorgskys herber Partitur zu schneidender Wirkung bringt.

Fällt ein scharfer Lichtstrahl auf den Protagonisten, so gibt die hochtheatralisch zugespitzte Inszenierung von Barrie Kosky zu erkennen, dass kein Diktator allein ist. Auch Boris Godunow sieht sich in einem Spinnennetz von Kräften gefangen, die seinen Ambitionen entgegenwirken. Da ist der Klosterbruder Pimen, ein selbstloser Chronist, der zu Beginn der Oper die fragile Basis von Godunows Machtergreifung offenlegt und zum Schluss durch die Macht des angeblich Faktischen den Gewaltmenschen in Wahnsinn und Tod treibt – Brindley Sherratt setzt das vorzüglich um. Und da ist der undurchsichtige Fürst Schuiski, dem an nichts mehr gelegen ist als am Stolpern des Zaren, auf dass er sich selbst an dessen Stelle setzen könne – grossartig, wie John Daszak die Durchtriebenheit dieses Intriganten über die Rampe bringt. Es gibt aber auch die Mitläufer, etwa den ungebildeten, jedoch gefährlich mit Macht versehenen Bürokraten Schtschelkalow, den Konstantin Shushakov blendend verkörpert.

Einen markanten Kontrast bildet der in Polen angesiedelte Mittelteil, in dem sich die Bühne öffnet. Hier tritt zutage, wie sich die Gegenkräfte formieren. Edgaras Montvidas als der Prätendent Grigori und Oksana Volkova als die gelangweilte Adlige Marina bilden das Zentrum der Kräfte – aber gesteuert werden sie von dem Jesuiten Rangoni, einem virtuosen Wortkünstler, den Johannes Martin Kränzle mit seiner ihm eigenen Lust zu einem effeminierten Schmarotzer macht. Barrie Kosky arbeitet nun einmal sehr wirkungsvoll an den einzelnen Figuren – genau so effizient, wie er sich ausladende sprechende Räume schaffen lässt. Am Schluss wird die Bühne von einer Riesenglocke beherrscht, dem Zeichen jener Macht, auf der die politischen Intrigen fussen. Hier schlägt denn die Stunde des Gottesnarren (Spencer Lang), der den ganzen Abend als stummer Zeuge verfolgt hat und nun sein trauriges Fazit zieht. Die präzis geschneiderten Anzüge für die Herren an den Schalthebeln unterstreichen, dass dieses Fazit nach wie vor Gültigkeit hat.

Neustart im Basler Musiktheater

 

Marfa ( Jordanka Milkova) und Andrei Chowansi (Rolf Romei) in der Basler «Chowanschtschina» / Bild Theater Basel, Simon Hallström

 

Peter Hagmann

Sing mir das Lied von Gewalt und Tod

Mussorgskys «Chowanschtschina» zur Saisoneröffnung in Basel

 

Was für ein Paukenschlag. Mit nichts Geringerem als Modest Mussorgskys «Chowanschtschina» als erster Opernpremiere hat Andreas Beck seine Intendanz in Basel eröffnet. Der Nachfolger Georges Delnons unterstrich damit, dass das Theater Basel auch in anhaltend schwieriger Finanzlage seinen Ruf als das bedeutendste Dreispartenhaus der Schweiz zu bewahren, ja zu mehren sucht. «Chowanschtschina» stellt in jeder Hinsicht besondere Anforderungen, und das hüben wie drüben: bei den Ausführenden wie im Publikum. Die schwierige Quellenlage des unvollendet zurückgelassenen Werks und seine schwer zu durchdringende Dramaturgie, die grosse Besetzung, die zudem nach Sängern russischer Tradition ruft, die Anforderungen an Chor und Orchester, nicht zuletzt die beträchtliche Spieldauer – wenn ein Haus das alles in Anstand bewältigt, darf man von Glück reden. Basel hat dieses Glück.

Machtpoker

Was heisst hier «Glück»? Die Szenerie, die der in Minsk geborene Bühnenbildner Zinovy Margolin und die aus dem damaligen Leningrad stammende Kostümbildnerin Olga Shaishmelashvili für die Basler Bühne erdacht haben, spricht von der schwer erträglichen Grausamkeit der Unterdrücker wie dem hoffnungslosen Ausgeliefertsein der Unterdrückten. Und das in aller Deutlichkeit. Wenn sich der Vorhang hebt, wird ein Bahnhof sichtbar, wie er irgendwo, am ehesten aber in den Weiten des sowjetischen Reichs stehen könnte. Auf einem der beiden Geleise zwischen den Perrons ein Güterwagen, in den von Uniformierten eine Leiche nach der anderen hineingeworfen wird – nicht ohne dass dabei noch die eine oder andere Wertsache eingesteckt wird. Die Strelitzen sind es, die gehätschelten Garden des Zaren, die da am Werk sind. Verängstigt beobachtet die in ihrer Verlorenheit stumpf gewordene Bevölkerung das herrisch willkürliche Gehabe der Oberen und erfährt dabei, wie rasch aus einem Oberen ein Unterer werden kann. In solcher Situation Rückgrat zu beweisen und sich selbst treu zu bleiben, kann ganz schön gefährlich werden.

Scharf fährt das unter die Haut. Denn mit untrüglichem Theatersinn arbeitet der 1983 in Moskau auf die Welt gekommene, hierzulande noch so gut wie unbekannte Regisseur Vasily Barkhatov die Momente knisternder Spannung heraus, die sich zwischen einzelnen Figuren ergeben. Im Zentrum steht dabei die stolze, in ihrer fanatischen Konsequenz schon fast wieder bewunderungswürdige Marfa, die Jordanka Milkova mit hinreissender Bühnenpräsenz und einem grossartig warmen Alt zur Protagonistin des Abends werden lässt. Dass diese Frau nicht anders kann, als ihrer Umgebung die Stirn zu bieten, wird an jedem ihrer Schritte ersichtlich. Und dass sie ihre Rivalin Emma, das junge Mädchen aus der deutschen Vorstadt (Betsy Horne), kaltblütig mit einem Kissen erstickt, lässt sich als unterstreichende Zutat des Regisseurs hinnehmen.

Den Kontrast zu dieser Frauenfigur bilden Männer, die eben Männer sind. Mit donnerndem Bass zeichnet Vladimir Matorin einen zwischen Herrschsucht und Depression schwankenden Chowanski; dass der Anführer der Strelitzen nicht umgebracht wird, wie es das von Mussorgsky eigenhändig geschriebene Textbuch vorgibt, sondern selber Hand an sich legt, wirkt in dieser Auslegung der Rolle durchaus stimmig. Um die Zentralfigur, die der Oper den Titel gegeben hat, kreisen die Widersacher. Besonders eindringlich im zweiten Akt, wo Chowanski auf den in der Gunst der Zarin stehenden, nach Westen orientierten, zugleich jedoch naiv abergläubischen Intellektuellen Golizyn und den undurchsichtigen Geistlichen Dossifei stösst; sowohl Dmitry Golovnin als auch Dmitry Ulyanov zeigen hier, was russischer Kraftgesang vermag. Während Schaklowity, der Dritte im Bunde der Widersacher Chowanskis, gerade deshalb so gefährlich wirkt, weil Pavel Yankovsky bedrohlich leise singt (und das hoffentlich auch tut, wenn die an der Premiere verkündete Indisposition verklungen ist).

Choroper

Ebenso sehr wie spannendes Drama ist «Chowanschtschina» aber eine Choroper – was in der Basler Produktion als Chance wie als Gefahr erscheint. So genau Vasily Barkhatov die Schlüsselszenen dieses in einem poststalinistischen (oder heutigen?) Russland angesiedelten Geschehens zeichnet, so virtuos hält er den Chor in Bewegung. Gerade nicht choreographisch, sondern ganz natürlich wogen hier die Massen. Dass einem dabei dennoch die Zeit etwas lang wird, hängt damit zusammen, dass der von Henryk Polus vorbereitete Chor trotz markanter Aufstockung nicht die Klangkraft erreicht, die hier vonnöten wäre. Die Frauenstimmen sind durch ihr Vibrato beeinträchtigt und vermögen den an sich glanzvollen Männerstimmen nicht wirklich die Stange zu halten. Untadelig dagegen das Sinfonieorchester Basel, das unter der Leitung des ukrainischen Dirigenten Kirill Karabits die Instrumentierung von Dmitri Schostakowitsch zu kerniger Differenzierung bringt und im nachkomponierten Finale von Igor Strawinsky Grösse wie Zerbrechlichkeit zeigt.

Manches war schon möglich am Basler Haus, wenn man etwa an die Produktion von Bernd Alois Zimmermanns «Soldaten» aus dem Jahre 1998 denkt. Mit dieser «Chowanschtschina» ist nun aber doch ein bedeutender Schritt getan. Dass der neue Basler Intendant Andreas Beck fürs Ende seiner ersten Spielzeit «Donnnerstag aus Licht» von Karlheinz Stockhausen ankündigt, erstaunt da nicht weiter.