Packend, überraschend: «Der Freischütz» in
einer neuen Aufnahme
Von Peter Hagmann
Damals, in ihren kämpferischen Anfängen Mitte des 20. Jahrhunderts, wurde die historisch informierte Aufführungspraxis oft und gern auf die sogenannte Texttreue reduziert. Man glaubte und hielt der Bewegung vor, es gehe einzig und allein um den Buchstaben und somit um die Ausschaltung des Interpreten, das Ziel bestehe im Verzicht auf die individuelle Regung des ausführenden Musikers und in der Fokussierung auf die schriftlich festgehaltene Werkform und deren historisch fundierte, quasi objektive, mithin «richtige» Umsetzung in Klang – wie wenn das möglich wäre.
Das Gegenteil war gemeint. Der Rückgriff auf die Quellen diente natürlich schon der Desavouierung des Mainstream, wovon etwa der vehemente Einspruch Nikolaus Harnoncourts gegen etablierte, verehrte Grössen wie Karl Richter oder Karl Böhm zeugt. Darüber hinaus diente die Beschäftigung mit den Quellen – will sagen: mit den Notentexten wie deren Umgebung – jedoch stets der Erneuerung des interpretatorischen Gedankens und der Stärkung der logischerweise subjektiven Aussage des Interpreten. Der Stärkung durch Annäherung ans Werk.
Einer, der dieses Selbstverständnis seit jeher vertreten hat, ist René Jacobs, der ehemalige Countertenor und heute vielbeschäftigte, höchst erfolgreiche Dirigent. Die Texte, die er in der Regel zu seinen Projekten verfasst, lassen es erkennen. Und die Interpretationen bestätigen es – handle es sich um Sinfonien von Haydn oder Schubert, um Chorwerke von Bach oder Beethoven, um Opern von Monteverdi oder Mozart. Auf der Basis einer kraftvollen interpretatorischen Subjektivität warten die meisten seiner Auftritte wie seiner zahllosen CD-Aufnahmen mit erheblichen Überraschungen auf, jeweils in Verbindung mit Erläuterungen, warum es zu diesen Überraschungen kommt.
So jetzt auch beim «Freischütz» Carl Maria von Webers, der soeben von Harmonia mundi, dem Major unserer Tage, als Studioproduktion auf CD publiziert worden ist (ein Wunder, dass es so etwas noch gibt). Nach der sehr dunkel gefärbten Ouvertüre, die in der Coda aber doch explodiert, hebt das Stück nicht mit einem Schuss und dem gewohnten «Viktoria»-Chor an, sondern mit einem Auftritt des Eremiten, der gewöhnlich erst am Schluss der Oper als Deus ex machina die Sache zum Guten wendet. Diese Konstellation ist freilich nicht im Sinne Webers. Das Libretto von Friedrich Kind, das der Komponist ganz ausserordentlich schätzte, sieht diesen ersten Auftritt des Eremiten durchaus vor, doch hat ihn Weber auf die dringende Empfehlung seiner Gattin hin gestrichen – zähneknirschend, wie René Jacobs herausgefunden hat.
Aufgrund dieser Faktenlage schlug sich der Interpret kurzerhand auf die Seite des Komponisten. Jacobs empfindet den Auftritt des Eremiten zu Beginn als dramaturgisch zwingend, weshalb er ihn ganz einfach wieder eingeführt hat. Beigezogen hat er dafür Musik, die an anderer Stelle der Oper erscheint, und er tat das so, dass man sich ganz bei Weber wähnt. Im weiteren Verlauf des «Freischütz» findet sich zudem jene Romanze, in welcher der fürstliche Erbförster Kuno den Umstehenden erklärt, wie es zu dem heiklen Brauch des Probeschusses gekommen ist. Auch diesen Text hat Weber nicht vertont, weshalb er in der Aufführung gesprochen werden muss. Jacobs hat aus dem Sprechtext eine Arie gemacht, indem er ein passendes Stück aus Franz Schuberts Oper «Des Teufels Lustschloss» umtextiert hat. Grossartige Idee – und reizend, zumal Kuno hier doch noch zu einer Arie kommt und die von Matthias Winckhler ebenso sorgfältig dargeboten wird, wie es Christian Immler als Eremit tut.
Vor allem aber hat René Jacobs gemeinsam mit Martin Sauer, dem Aufnahmeleiter aus dem Berliner Teldex-Studio, den Text Kinds subtil bearbeitet: ihn sprachlich an die Gegenwart angenähert und so konkretisiert, dass die Figuren klar zu fassen sind. «Der Freischütz» als Hörspiel, das war die Ambition – und tatsächlich lebt die Oper in dieser Aufnahme von einem ausgesprochen spannenden Verlauf. In erster Linie, aber keineswegs ausschliesslich, sorgt dafür das Freiburger Barockorchester mit seinen «alten» Instrumenten und der entsprechenden Spielweise. Kernig und spritzig in der Attacke, dabei aber nirgends hart klingen die Streicher; wenn in der Ouvertüre die Celli die Terzenseligkeit der Hörner mit einer scharfen Dissonanz aufbrechen, tun sie das mit Nachdruck, aber ohne das Erschrecken, das Nikolaus Harnoncourt an dieser Stelle gesucht hat. Die Bläser wiederum erscheinen weniger eingebettet, als dass sie, zumal in der Wolfsschlucht, mit ihren Farbgebungen deutliche Akzente setzen.
Getragen wird diese aussergewöhnliche, Massstäbe setzende Produktion von einem sehr charakteristisch besetzten Vokalensemble (dem die Zürcher Singakademie würdige Partnerschaft bietet). Maximilian Schmitt gibt den tragischen Max mit viel, auch schönem Vibrato, das er in den Momenten der Verzweiflung seiner ersten Arie zu dramatischer Expansion nutzt – aufgescheucht von Samiel (dem Sprecher Max Urlacher), der hier und nicht nur hier, der Anlage als Hörspiel entsprechend, mit bedrohlichen, von perkussiven Geräuschen begleiteten Zurufen eingreift. Ähnlich die stimmliche Anlage bei Polina Pasztircsák, die «Leise, leise fromme Weise» im zweiten Aufzug zu wunderbarer Wirkung bringt, während Ännchen bei Katerina Kasper klare Züge der Emanzipation zeigt. In vergleichbarer Weise forsch, mit stolzem Glanz, der Bauer Kilian von Yannick Debus, gerade in der Konfrontation mit Max im ersten Aufzug. Dem düsteren Kaspar schliesslich leiht Dimitry Ivashchenko eine ausnehmend schwere, doch auch agile Stimme. Dass der Dirigent im ersten Terzett, wo Kaspar vom kecken Wagen spricht, das Tempo für einen Moment reduziert, um den Sänger die verständliche Ausführung seiner schnellen Bewegung zu ermöglichen – ist es Deutung? Pragmatismus? Ein kleiner Scherz? René Jacobs ist alles zuzutrauen.
Carl Maria von Weber: Der Freischütz. Maximilian Schmitt (Max), Dimitry Ivashchenko (Kaspar), Yannick Debus (Kilian), Polina Pasztircsák (Agathe), Kateryna Kasper (Ännchen) u.a. Zürcher Singakademie, Freiburger Barockorchester, René Jacobs (Dirigent). Harmonia mundi 902700.01 (2 CD, Aufnahme 2021, Publikation 2022).