Carl Maria von Weber – und sein Interpret René Jacobs

Packend, überraschend: «Der Freischütz» in
einer neuen Aufnahme

 

Von Peter Hagmann

 

Damals, in ihren kämpferischen Anfängen Mitte des 20. Jahrhunderts, wurde die historisch informierte Aufführungspraxis oft und gern auf die sogenannte Texttreue reduziert. Man glaubte und hielt der Bewegung vor, es gehe einzig und allein um den Buchstaben und somit um die Ausschaltung des Interpreten, das Ziel bestehe im Verzicht auf die individuelle Regung des ausführenden Musikers und in der Fokussierung auf die schriftlich festgehaltene Werkform und deren historisch fundierte, quasi objektive, mithin «richtige» Umsetzung in Klang – wie wenn das möglich wäre.

Das Gegenteil war gemeint. Der Rückgriff auf die Quellen diente natürlich schon der Desavouierung des Mainstream, wovon etwa der vehemente Einspruch Nikolaus Harnoncourts gegen etablierte, verehrte Grössen wie Karl Richter oder Karl Böhm zeugt. Darüber hinaus diente die Beschäftigung mit den Quellen – will sagen: mit den Notentexten wie deren Umgebung – jedoch stets der Erneuerung des interpretatorischen Gedankens und der Stärkung der logischerweise subjektiven Aussage des Interpreten. Der Stärkung durch Annäherung ans Werk.

Einer, der dieses Selbstverständnis seit jeher vertreten hat, ist René Jacobs, der ehemalige Countertenor und heute vielbeschäftigte, höchst erfolgreiche Dirigent. Die Texte, die er in der Regel zu seinen Projekten verfasst, lassen es erkennen. Und die Interpretationen bestätigen es – handle es sich um Sinfonien von Haydn oder Schubert, um Chorwerke von Bach oder Beethoven, um Opern von Monteverdi oder Mozart. Auf der Basis einer kraftvollen interpretatorischen Subjektivität warten die meisten seiner Auftritte wie seiner zahllosen CD-Aufnahmen mit erheblichen Überraschungen auf, jeweils in Verbindung mit Erläuterungen, warum es zu diesen Überraschungen kommt.

So jetzt auch beim «Freischütz» Carl Maria von Webers, der soeben von Harmonia mundi, dem Major unserer Tage, als Studioproduktion auf CD publiziert worden ist (ein Wunder, dass es so etwas noch gibt). Nach der sehr dunkel gefärbten Ouvertüre, die in der Coda aber doch explodiert, hebt das Stück nicht mit einem Schuss und dem gewohnten «Viktoria»-Chor an, sondern mit einem Auftritt des Eremiten, der gewöhnlich erst am Schluss der Oper als Deus ex machina die Sache zum Guten wendet. Diese Konstellation ist freilich nicht im Sinne Webers. Das Libretto von Friedrich Kind, das der Komponist ganz ausserordentlich schätzte, sieht diesen ersten Auftritt des Eremiten durchaus vor, doch hat ihn Weber auf die dringende Empfehlung seiner Gattin hin gestrichen – zähneknirschend, wie René Jacobs herausgefunden hat.

Aufgrund dieser Faktenlage schlug sich der Interpret kurzerhand auf die Seite des Komponisten. Jacobs empfindet den Auftritt des Eremiten zu Beginn als dramaturgisch zwingend, weshalb er ihn ganz einfach wieder eingeführt hat. Beigezogen hat er dafür Musik, die an anderer Stelle der Oper erscheint, und er tat das so, dass man sich ganz bei Weber wähnt. Im weiteren Verlauf des «Freischütz» findet sich zudem jene Romanze, in welcher der fürstliche Erbförster Kuno den Umstehenden erklärt, wie es zu dem heiklen Brauch des Probeschusses gekommen ist. Auch diesen Text hat Weber nicht vertont, weshalb er in der Aufführung gesprochen werden muss. Jacobs hat aus dem Sprechtext eine Arie gemacht, indem er ein passendes Stück aus Franz Schuberts Oper «Des Teufels Lustschloss» umtextiert hat. Grossartige Idee – und reizend, zumal Kuno hier doch noch zu einer Arie kommt und die von Matthias Winckhler ebenso sorgfältig dargeboten wird, wie es Christian Immler als Eremit tut.

Vor allem aber hat René Jacobs gemeinsam mit Martin Sauer, dem Aufnahmeleiter aus dem Berliner Teldex-Studio, den Text Kinds subtil bearbeitet: ihn sprachlich an die Gegenwart angenähert und so konkretisiert, dass die Figuren klar zu fassen sind. «Der Freischütz» als Hörspiel, das war die Ambition – und tatsächlich lebt die Oper in dieser Aufnahme von einem ausgesprochen spannenden Verlauf. In erster Linie, aber keineswegs ausschliesslich, sorgt dafür das Freiburger Barockorchester mit seinen «alten» Instrumenten und der entsprechenden Spielweise. Kernig und spritzig in der Attacke, dabei aber nirgends hart klingen die Streicher; wenn in der Ouvertüre die Celli die Terzenseligkeit der Hörner mit einer scharfen Dissonanz aufbrechen, tun sie das mit Nachdruck, aber ohne das Erschrecken, das Nikolaus Harnoncourt an dieser Stelle gesucht hat. Die Bläser wiederum erscheinen weniger eingebettet, als dass sie, zumal in der Wolfsschlucht, mit ihren Farbgebungen deutliche Akzente setzen.

Getragen wird diese aussergewöhnliche, Massstäbe setzende Produktion von einem sehr charakteristisch besetzten Vokalensemble (dem die Zürcher Singakademie würdige Partnerschaft bietet). Maximilian Schmitt gibt den tragischen Max mit viel, auch schönem Vibrato, das er in den Momenten der Verzweiflung seiner ersten Arie zu dramatischer Expansion nutzt – aufgescheucht von Samiel (dem Sprecher Max Urlacher), der hier und nicht nur hier, der Anlage als Hörspiel entsprechend, mit bedrohlichen, von perkussiven Geräuschen begleiteten Zurufen eingreift. Ähnlich die stimmliche Anlage bei Polina Pasztircsák, die «Leise, leise fromme Weise» im zweiten Aufzug zu wunderbarer Wirkung bringt, während Ännchen bei  Katerina Kasper klare Züge der Emanzipation zeigt. In vergleichbarer Weise forsch, mit stolzem Glanz, der Bauer Kilian von Yannick Debus, gerade in der Konfrontation mit Max im ersten Aufzug. Dem düsteren Kaspar schliesslich leiht Dimitry Ivashchenko eine ausnehmend schwere, doch auch agile Stimme. Dass der Dirigent im ersten Terzett, wo Kaspar vom kecken Wagen spricht, das Tempo für einen Moment reduziert, um den Sänger die verständliche Ausführung seiner schnellen Bewegung zu ermöglichen – ist es Deutung? Pragmatismus? Ein kleiner Scherz? René Jacobs ist alles zuzutrauen.

Carl Maria von Weber: Der Freischütz. Maximilian Schmitt (Max), Dimitry Ivashchenko (Kaspar), Yannick Debus (Kilian), Polina Pasztircsák (Agathe), Kateryna Kasper (Ännchen) u.a. Zürcher Singakademie, Freiburger Barockorchester, René Jacobs (Dirigent). Harmonia mundi 902700.01 (2 CD, Aufnahme 2021, Publikation 2022).

Der Konzertsaal blüht auch im Winter

 

Peter Hagmann

Lauter Gipfeltreffen

Zeitreisen bei und mit dem Tonhalle-Orchester Zürich

 

Dicht das Angebot, anregend die Abfolge in ihrer Vielgestaltigkeit, waches Interesse und gute Laune in den durchgehend dicht besetzten Rängen – sieht so das demnächst eintretende Absterben des Konzerts mit klassischer Musik aus? Wenn es so aussieht, ist gegen dieses aus unterschiedlichsten Gründen prophezeite Absterben nicht das Geringste einzuwenden, es ist nämlich munter, vergnüglich und sehr lebendig. Zumal für diese angeblich in den Orkus steigende Kunstgattung laufend neue Häuser entstehen: in Hamburg, in Paris, in Bochum, in Krakau etwa. Während andere wie in Zürich, Basel oder Bern tiefgreifend renoviert werden.

In der Tonhalle Zürich zum Beispiel herrschte während der vergangenen gut vier Wochen regstes Kommen und Gehen. Ein erster Überblick. Zunächst gab es ein Gipfeltreffen im Bereich der alten Musik, erschienen doch mehr oder weniger kurz hintereinander so prominente Dirigenten wie John Eliot Gardiner, René Jacobs und Thomas Hengelbrock mit ihren Ensembles. Worauf Bernard Haitink ans Pult des Tonhalle-Orchesters trat. Während eine Woche später Paavo Järvi erschien und eine derart blendend aussehende Visitenkarte auf den Tisch legte, dass er flugs zum Papabile im Rennen um die Nachfolge des glücklosen Lionel Bringuier an der Spitze des Tonhalle-Orchesters ernannt wurde.

Ganz unverständlich ist das nicht. Sogar für das Orchester nicht. Zwar hatte es laut nach Bringuier gerufen, hatte es mit Feuereifer die ersten Konzerte unter seiner Leitung vor gut zwei Jahren mitgetragen; wer damals vor dem Strohfeuer warnte und auf künstlerische Defizite hinwies, wurde ewiggestriger Haltung geziehen. Rascher als erwartet war die Luft jedoch draussen, verschlechterte sich die Beziehung zwischen dem Orchester und seinem Chefdirigenten. Nach zwei Spielzeiten wurde diesen Sommer bekannt, dass der Vertrag mit Lionel Bringuier nicht über 2018 hinaus verlängert werde. Kaum hatte man begonnen, war man schon wieder auf der Suche. Diesmal unter veränderten Voraussetzungen; die Fehler, die bei der Bestellung Bringuiers begangen wurden, sollen nicht wiederholt werden.

Paavo Järvi – ruhige Souveränität und klares Wollen

So steht jetzt jeder Gastdirigent unter erhöhter Beobachtung. Für Paavo Järvi gilt das besonders, weil er von Alter, Profil und Notorietät her gewiss passen würde. Er präsentierte sich mit einem Abend, der Züge des Massstäblichen trug. Schon allein im Programm. Im ersten Teil das Cellokonzert von Sergej Prokofjew und darauf, allerdings nur am dritten der drei Abende, «Signs, Games and Messages» von György Kurtág, nach der Pause die dritte Sinfonie Robert Schumanns, die «Rheinische» in Es-dur. Wenige Menschen im Grossen Saal der Zürcher Tonhalle dürften Prokofjews Cellokonzert von 1938 je live gehört haben; für das Tonhalle-Orchester war es offenbar eine Erstaufführung. Das Werk wird äusserst selten gespielt – auch weil es für eine ästhetische Auffassung steht, die obsolet geworden ist. Im westlichen Ausland berühmt geworden, war Prokofjew 1936 nach Russland zurückgekehrt und hatte sich dort hochoffiziell der Doktrin der sozialistischen Realismus unterworfen. Sein Cellokonzert klingt danach, es ist ein schwer verdaulicher Brocken voller Ecken und Kanten, dem ich persönlich nie mehr zu begegnen brauche. Steven Isserlis hat sich dieser Partitur verschrieben, er hat das Werk vor drei Jahren zusammen mit Paavo Järvi und dem hr-Sinfonieorchester Frankfurt auf CD aufgenommen und jetzt auch in Zürich vorgestellt.

Schumanns Dritte wirkte danach wie ein Akt der Befreiung. Hell und frisch das Klangbild, dabei kräftig zupackend, aber nirgends laut, grob oder unstrukturiert. Im Gegenteil, Järvi schichtete den Satz äusserst sorgfältig und stellte hochgradig Transparenz her, er liess Nebenstimmen ins Spiel kommen und Gegenakzente setzen – das alles auf der Basis geerdeter und klar erkennbarer persönlicher Auffassungen. Schumann klang hier grundlegend anders als bei David Zinman, extravertiert, lebenszugewandt, ja optimistisch – der strahlende Ton, mit dem die Hörner immer wieder ihre Signale setzten, mag davon zeugen. Nirgends stellte sich freilich je Bombast oder Härte ein, das verhinderte die Genauigkeit im Austarieren der Instrumentalfarben, etwa in der Abmischung von Bläsern und Streichern im dritten Satz und mehr noch im vierten, wo die Ersten Geigen ohne jedes Vibrato silberhellen Seidenglanz erzeugten. Wie dort am Ende der Choral mit voller, gerundeter Kraft eintrat, wurde auch klar, warum Järvi die grosse Besetzung mit sechzehn Ersten Geigen gewählt hatte.

Bei all dem stand der Dirigent in einer Ruhe vor dem Orchester, die Souveränität anzeigte; gleichzeitig setzte er mit wenigen Energieschüben zumal der linken Hand seine Schwerpunkte. Järvi braucht das Licht nicht auf sich zu lenken, es strahlt von selbst. Analytischer Geist und Klangsinn, Erfahrung und Spontaneität – da liegt sein Geheimnis. Seine Sporen hat er längst abverdient, hauptsächlich im Konzertsaal. 1962 im estnischen Tallin als erster von zwei dirigierenden Söhnen des Dirigenten Neeme Järvi geboren, war er Chefdirigent beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt oder beim Orchestre de Paris; in dieser Funktion wirkt er derzeit beim NHK-Orchester in Tokio – und vor allem bei der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, die in den zwölf Jahren mit ihm zu internationaler Reputation gekommen ist.  Er weiss, was er will, und bringt es unaufgeregt an den Mann, an die Frau. Das Tonhalle-Orchester reagierte darauf mit gespannter Aufmerksamkeit; es gab zu erkennen, dass es, wenn ein Dirigent etwas von ihm will, durchaus zu geben in der Lage ist – und dass dieses Geben nicht gering ausfällt. Das ist, was bei Lionel Bringuier viel zu wenig geschieht, hier aber ganz unverkrampft eingetreten ist.

Bernard Haitinks feuerfeste Gelassenheit

Wenn es darf, ist das Orchester in altgewohnter Höhe da. So war es auch beim Gastspiel Bernard Haitinks, der, mittlerweile 87 Jahre alt, Bruckners Neunte dirigierte. Ein ganz klein wenig erinnerte dieser Auftritt an die späten achtziger Jahre, als das Tonhalle-Orchester über wenig taugliche Chefdirigenten verfügte und oft unter seinem Niveau spielte. Damals kam Bernard Haitink nach Zürich, setzte Mahlers Erste an und liess das Orchester unvergesslich anders klingen. So ist es bei diesem Dirigenten. Mit Haitink am Pult nimmt jedes Orchester einen ganz eigenen Ton an – eben jenen, den nur Haitink zu erzielen vermag. Und das Tonhalle-Orchester Zürich gehört zu jenen Klangkörpern, die auf Haitinks Ausstrahlung besonders gut reagieren; nicht von ungefähr wird das Zürcher Orchester hie und da mit dem Concertgebouworkest Amsterdam, bei dem Haitink von 1961 bis 1988 als Chefdirigent wirkte, in Verbindung gebracht.

Anders als mit Paavo Järvi wird der Klang des Tonhalle-Orchesters mit Haitink leuchtend warm, ja von innen heraus glühend, offen in seinen Formanten und enorm geschmeidig. Das ist die Basis für Haitinks Blick auf Bruckner – einen Blick, der von einer tief empfundenen Menschlichkeit lebt. Die musikalischen Gestalten Bruckners bis hin zu dem riesigen, scharf dissonanten Akkord im Adagio, der in drei Anläufen seinen Höhepunkt erreicht, haben nichts Dröhnendes an sich; keine Spur von Machtausstrahlung geht von ihnen aus – auch wenn sie sich zu jenem kraftvollen Forte erheben, das sich der Organist Bruckner erträumt haben mag, von seinen Instrumenten aber nicht erhalten hat. Insofern steht Haitink, wiewohl älterer Generation, für ein jüngeres Bruckner-Bild ein; auch für ihn ist der Bruckner der Ringstrassen-Architektur, wie ihn etwa Eugen Jochum in seiner Weise so hervorragend gepflegt hat, Vergangenheit.

Darum erhalten im Kopfsatz die Triolen in dem auf das gerade Vier-Takt-Schema ausgerichteten Denken eine weiche Fügung. Darum entfalten in dem durchaus gemessen genommenen Scherzo die trocken absteigenden Viertel packende Energie, ohne dass Schneidendes oder gar Stampfendes ins Spiel käme. Und darum erhält das Adagio eine Grösse, die sich in dem ganz einfachen E-dur-Akkord der Blechbläser, in den drei Pizzicati der Streicher fallen, eine so vollkommene Erfüllung, dass man an einen fehlenden vierten Satz gar nicht mehr denken mag. Zutiefst bewegend war das wieder – nicht weniger bewegend als bei Haitinks Zürcher Aufführungen der Neunten Bruckners in den Jahren 2005 und 2010. Das Tonhalle-Orchester dankte es seinem heimlichen Ehrendirigenten mit jener Wärme, zu der es in seinen besten Momenten so einzigartig in der Lage ist.

Panorama der historischen Praxis

In den Wochen zuvor waren die Akzente von ganz anderer Seite gekommen, hatte die Aufmerksamkeit der historisch informierten Aufführungspraxis gegolten. Die Dirigenten John Eliot Gardiner (https://www.peterhagmann.com/?p=817), René Jacobs und Thomas Hengelbrock führten vor, dass diese Spielart der musikalischen Interpretation, die so reiche Innovation ins Musikleben gebracht hat, lange Zeit aber als dogmatisch, ja als ideologisch belastet galt, inzwischen eine beträchtliche Vielfalt an persönlichen Handschriften hervorgebracht hat. Und die  Zürcher Tonhalle wurde wieder einmal hörbar zu jenem Zentrum der städtischen Musikkultur, das sie in den besten Momenten ihrer Saison sein kann. Übrigens einem durchaus schweizerisch, nämlich föderalistisch geprägten Zentrum, waren doch Gardiner und Hengelbrock Gäste des Tonhalle-Orchesters, während Jacobs von der Neuen Konzertreihe Zürich eingeladen war.

Thomas Hengelbrock kam mit dem von ihm gegründeten, ein Orchester und einen Chor umfassenden Balthasar-Neumann-Ensemble. Und mit einem Programm, das seinesgleichen sucht. Er stellte Vokalmusik von Felix Mendelssohn Bartholdy vor, die so gut wie nie aufgeführt wird. Werke, die das dreizehnjährige Wunderkind zeigen und einen Blick in das Todesjahr des im Alter von achtunddreissig Jahren verstorbenen Komponisten werfen lassen. Stücke auch, die von der Bedeutung des Chorgesangs im früheren 19. Jahrhundert berichten. Und nicht zuletzt Musik, anhand derer über die diffizile Religiosität ihres Komponisten nachgedacht werden kann – eines Komponisten, der einer jüdischen Familie entstammte, aber christlich getauft war, und der sich ebenso einem katholischen «Ave Maria» wie einer protestantischen Weihnachtskantate zuwenden konnte. Hengelbrock, der einen ganz ausgezeichneten Chor geformt hat, in diesen aber nicht so erstklassige Solisten inkorporiert, wie es Gardiner oder Philippe Herreweghe tun – Hengelbrock liess der wunderbaren, in ihrem blühenden musikalischen Satz unglaublich zu Herzen gehenden Musik Mendelssohns alle Gerechtigkeit angedeihen. Und das in einem Tonfall, der, auf alten Instrumenten und in tiefer Stimmung erzeugt, ebenso viel Gelassenheit wie Identifikation spüren liess.

Für René Jacobs, den RIAS-Kammerchor und das Freiburger Barockorchester gilt im Prinzip dasselbe. Jedenfalls im Falle der Harmoniemesse Joseph Haydns, einem enorm festlichen Stück Kirchenmusik, das in vollem Glanz daherkam und aus dem Quartett der Vokalsolisten Sophie Karthäuser (Sopran) und Marie-Claude Chappuis (Alt) besonders zur Geltung kommen liess. Etwas Unbehagen liess dagegen Mozarts «Requiem» zurück. Nicht wegen der Neufassung der fragmentarischen Partitur durch Pierre-Henri Dutron, die nur wenig an der Vervollständigung des Mozart-Zeitgenossen Franz Xaver Süssmayr veränderte. Stirnrunzeln löste vielmehr der Versuch des Dirigenten aus, Mozarts Stück aus dem geistlichen Kontext, dem es eben doch entstammt, herauszulösen und es zugleich von jenen Rezeptionsmomenten zu befreien, die sich ihm durch die Figur des am Wiener Hof so erfolgreichen Kontrahenten Antonio Salieri angelagert haben. Jacobs, so der Eindruck, wollte Mozarts «Requiem» einfach als ein unglaublich gut durchdachtes, hochvirtuoses Stück Musik vorstellen. Er wählte darum Tempi, welche die an der Aufführung beteiligten Kräfte enorm forderten (und deren sagenhaftes Können zeigten), die im Zuhörer bisweilen aber auch leichte Atemnot auslösten. Wirklich aufgegangen ist das nicht – so ist das Leben.

Tief in die Weite erstreckt sich der musikalische Garten, den man in der Tonhalle Zürich betreten kann. Da und dort gibt es Stellen, die etwas der Bewässerung bedürfen. Dass dieses kleine Paradies im Begriff sei, zur Steppe zu werden, davon kann freilich keine Rede sein.

René Jacobs siebzig – und ungebrochen innovativ

 

Peter Hagmann

«Ich glaube, man wird dabei nicht schlafen können»

Mozarts «Entführung» mit dem Dirigenten René Jacobs

 

Keine Zeile (ausser einer bedeutungslosen Nummer zu Beginn des dritten Akts) sollte gestrichen werden – so wollte es der Dirigent René Jacobs bei seiner Einspielung von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper «Die Entführung aus dem Serail». Er empfindet das Stück, gerade auch die Textvorlage von Gottlieb Stefanie dem Jüngeren nach einem Libretto von Christoph Friedrich Bretzner aus dem Jahre 1781, als schockierend aktuell – so Jacobs in einem wiederum sehr aufschlussreichen Text, den er ganz in der Tradition Nikolaus Harnoncourts ins Booklet einfügen liess. Der Dirigent legte darum selber Hand an, nicht um das Libretto zu kürzen, wie es wohlmeinende Regisseure zu tun pflegen, sondern um es mit Mass, Vorsicht und Respekt in einen Tonfall von heute zu bringen. Das ist ihm ausnehmend gut gelungen. Zum einen gibt die Aufnahme zu spüren, wie Mozart zusammen mit seinem Librettisten die Brisanz des Stücks zur Entstehungszeit herausgearbeitet und das damals noch allgegenwärtige Schaudern vor den Osmanen knapp hundert Jahre nach deren Vertreibung aus Wien erfasst hat. Zum anderen lässt die Einspielung erleben, wie viel «Die Entführung aus dem Serail» mit den Verhältnissen unserer Tage zu tun hat. Was Blonde, die Kammerzofe Konstanzes, dem ihr unentwegt nachstellenden Osmin an Brocken vor die Füsse wirft, könnte geradewegs aus einer Debatte um das Burkaverbot stammen.

Die «Entführung» als Hörspiel

Dass das alles in so helles Licht tritt, hängt mit der klaren dramaturgischen Position zusammen, die René Jacobs hier einnimmt. Ähnlich wie bei seiner Aufnahme der «Zauberflöte» sollte die Interpretation der «Entführung» ganz bewusst für die Wiedergabe ab Tonträger konzipiert sein; die Oper sollte gleichsam als Hörspiel geboten werden, mit lebendigen Stimmen und durchaus auch mit Geräuschen. Dies, um die gesprochenen Texte nicht als störende Inseln zwischen den geliebten musikalischen Nummern, sondern vielmehr als das Gerüst des Stücks fühlbar zu machen. Und um das Drama ganz aus der Musik heraus entstehen zu lassen – Theater ohne Bühne und ohne Regie. Auch das ist fabelhaft gelungen. Wie die sechs Sängerinnen und Sänger – nicht sprechen, sondern sprachlich agieren, das grenzt an ein Wunder. Dass der berühmte Cornelius Obonya vom Burgtheater Wien in der Sprechrolle des Bassa Selim mit verfremdendem Akzent spricht, mag zwar auf das erste Hören hin chargiert wirken; es unterstreicht jedoch die von Mozart gewünschte Überraschung am Ende, wo der Bassa Selim eine Milde walten lässt, die eine ganz andere Art Islam zeigt, als es der Aufseher Osmin mit seinen tobenden Ausfällen tut.

Dazu kommt, und das bildet die Spitze der phantasievollen interpretatorischen Entscheidungen, dass Text und Musik eng miteinander verbunden sind – ja, dass die Musik sozusagen szenische Funktion wahrnimmt. Mit von der Partie ist ein äusserst aktives Hammerklavier. Nicht aus Lust und Laune, sondern mit Bezug auf einen Brief Mozarts, in dem er seinem Vater berichtet, wie er an einem Abend mit der «Entführung» den Kapellmeister entlassen, sich an das im Graben bereitstehende Klavier gesetzt und das Orchester aufgeweckt habe. In der Aufnahme mit Jacobs fällt dem Hammerklavier eine sehr bedeutende Rolle zu. Es mischt sich munter in das orchestrale Geschehen ein, wie es schon bei der Einspielung der späten Sinfonien Mozarts mit Jacobs zu hören war. Und mehr noch: Es musikalisiert die gesprochenen Partien, unterlegt die Sprechtexte – nicht mit Irgendetwas, sondern mit Vorahnungen und Anklängen aus der Oper sowie Zitaten aus Klaviersonaten Mozarts. Das schafft eine ganz eigene Atmosphäre. Und es ist nicht aus den Fingern gesogen, sondern bezieht sich auf eine Briefstelle, an der Mozart vom Melodram schwärmt. Nicht zuletzt setzt das Hammerklavier szenische Vorgänge um, zum Beispiel bei der eigentlichen Entführung, wo auf- und absteigende Bewegungen die Arbeiten an der Leiter versinnbildlichen. Mittendrin erklingt das berühmte «Alla turca» aus der A-dur-Klaviersonate KV 331, das die vorüberziehende Wache intoniert – und darob die schon halb vollzogene Entführung übersieht.

Mehr als Lokalkolorit

Nicht immer geben die Anklänge an die türkische Musik mit ihren Pfeifen, Becken und Schellen zum Schmunzeln Anlass. Nikolaus Harnoncourt hat schon bei seiner frühen Zürcher «Entführung» vor dreissig Jahren darauf hingewiesen, dass das Türkische in der Musik der «Entführung» alles andere als exotisches Lokalkolorit sei, dass es vielmehr Angst und Schrecken ausgelöst habe. René Jacobs schliesst sich dem an, wenn er im Booklet auf einen weiteren Brief verweist, in dem Mozart schreibt, dass, wer die Janitscharenmusik in seiner Oper höre, nicht werde schlafen können. So lässt Jacobs das Türkische auch klingen: laut, dominant, gefährlich. Wie überhaupt in dieser Einspielung eine erregende Deutlichkeit der Formulierung herrscht. Die Akademie für alte Musik Berlin, langjährige Partner von René Jacobs, bringt eine grossartige Palette von Farben ein, agiert äusserst beweglich und artikuliert griffig. Dass Töne je nach Position im Takt unterschiedlich lang klingen, was besonders bei Tonrepetitionen auffällt, versteht sich absolut von selbst – das trägt zur prickelnden Lebendigkeit der Aufnahme bei. Dazu kommt, dass Jacobs seinen besonderen Sinn für das Rhythmische und dessen Verhältnis zu den gewählten (und bisweilen herrlich überraschenden) Tempi auch hier voll einbringt.

Auch im Vokalen vermag die Einspielung zu prunken. Wenn Dimitry Ivashchenko das Geschehen in Gnag bringt, erweist er sich als ein recht gemütlicher, recht verträglicher Osmin – aber wie der Kerl dann aufbraust, wird es einem anders. Witzig auch, mit welch schrägen Tönen Jacobs das «ad libitum» in Osmins Auftrittsarie auslegt. Julian Prégardien gibt einen Pedrillo, der gern den starken Mann spielt, im Grunde aber das Herz rasch in den Hosen hat. Darum dehnt er in seiner Arie «Frisch zum Kampfe» die zweite Silbe des Substantivs so lange, dass keinem Zuhörer der Mangel an Glaubwürdigkeit entgehen kann. Seine Geliebte, die Blonde, hat arg Haare auf den Zähnen; zugleich ist diese selbstbewusste Dienerin bei Mari Eriksmoen ein unerhört munteres Ding, das wirbelnd durch die Arien zieht und mit Verzierungen sondergleichen aufwartet. Das hohe Paar wirkt auch hier etwas blasser, aber nicht so sehr wie in gewöhnlichen Aufführungen. Als Belmonte bringt Maximilian Schmitt in seiner Auftrittsarie geschmackvolle Appogiaturen ein, während er in der Arie «Wenn der Freude Tränen fliessen» mit Geschick jeder Süsslichkeit aus dem Weg geht. Für die Glanzlichter der Einspielung sorgt Robin Johannsen als Konstanze. Die junge Amerikanerin verfügt über eine leichte, enorm klangvolle, obertonreiche Stimme, weshalb sie in ihrer Auftrittsarie die Koloraturen bis hin zu dem gekonnt ausgestalteten Triller mühelos meistert. Und da die Aufnahme in der leicht tieferen Stimmung von 432 Hertz für das eingestrichene a gehalten ist, bleibt ihre Höhe ohne jede Verspannung.

Eine in jeder Hinsicht hochstehende, packende «Entführung» – in einer Version, wie sie so nur auf CD möglich ist. Am 30. Oktober begeht René Jacobs seinen siebzigsten Geburtstag. Auf weitere fruchtbare Jahre.

Wolfgang Amadeus Mozart: Die Entführung aus dem Serail. Robin Johannsen (Konstanze), Mari Eriksmoen (Blonde), Maximilian Schmitt (Belmonte), Julian Prégardien (Pedrillo), Dimitry Ivashchenko (Osmin), Cornelius Obonya (Bassa Selim), RIAS Kammerchor, Akademie für alte Musik Berlin, René Jacobs (Leitung). Harmonia mundi 902214/15 (2 CD). Aufnahme Berlin 2014, Produktion Arles 2015.

Am 6. November hat «Die Entführung aus dem Serail» im Opernhaus Zürich Premiere. Die Inszenierung entwirft David Hermann, am Pult der Scintilla steht anstelle von Teodor Currentzis, der sich krank melden lassen musste, Maxim Emelyanychev.

René Jacobs beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Peter Hagmann

Alte Musik in neuer Freiheit

Haydns «Jahreszeiten» mit René Jacobs in der Tonhalle Zürich

 

Eine unverkennbare Art federnder Energie hatte die Interpretationen von René Jacobs schon immer ausgezeichnet – dies im Verein mit einer Kunst der Phrasierung, die sich bei Vokalmusik stets eng an den Sprachverlauf anlehnte und die dadurch gewonnenen Prinzipien der musikalischen Formung auf den Bereich der Instrumentalmusik übertrug. In den letzten Jahren allerdings hat sich die Handschrift des flämischen Dirigenten, bekannt als einer der prominentesten Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis, in einer bemerkenswerten Weise erweitert. Eine klangliche Opulenz, wie sie im Bereich der alten Musik vergleichsweise wenig verbreitet ist, zog in sein Musizieren ein und eröffnete ihm ganz neue Perspektiven. Ahnungen davon hatten schon die äusserst reichhaltigen, phantasievollen Ausgestaltungen des Continuo-Parts in den Aufnahmen der Opern Mozarts vermittelt. Vollends bestimmend wurden die neuen ästhetischen Auffassungen dann aber in den Einspielungen der beiden grossen Passionen Bachs.

Diese Weiterungen prägten auch das späte Debüt von René Jacobs beim Tonhalle-Orchester Zürich. Wie ihm bei den Passionen Bachs die Räumlichkeit, mithin die Aufstellung von Chor und Orchester wichtig war, spielte Jacobs bei der Wiedergabe von Joseph Haydns Oratorium «Die Jahreszeiten» in der Tonhalle Zürich ganz gezielt mit der Positionierung der Schallquellen. Die Streicher waren in deutscher Weise angeordnet – mit den beiden Geigengruppen links und rechts vom Dirigenten und den tiefen Stimmen auf der linken Seite. Die Trompeten sahen sich zusammen mit der Pauke nach rechts gerückt, während die Posaunen von der hinteren Mitte aus erklangen. Und für die Jagdszene im «Herbst» antworteten sich zwei Hörnerpaare links und rechts oben, wobei für diese antiphonale Anlage die Hornstimmen aufgeteilt wurden.

Dazu kommt in Jacobs’ neuer Ästhetik die Lust am extravertierten Klang. Mit der historisch informierten Aufführungspraxis verbunden war zum Beispiel die Verminderung der Basswirkung; der Bass wurde zurückgenommen und verschlankt – angesichts der Tatsache, dass sich diese Art des Musizierens anfänglich geradezu obsessiv vom schweren, basslastigen Ton der spätromantischen Interpretationstradition abzusetzen suchte, nichts als verständlich. Für René Jacobs ist die Zeit der Fundamentalopposition freilich längst überwunden (wenn sie für ihn je existiert hat). In den Aufnahmen der beiden Passionen Bachs klingt der Bass mindestens so kräftig wie seinerzeit bei Karl Richter – und so erstaunt nicht, dass bei den Zürcher «Jahreszeiten» das Kontrafagott munter mitbrummte: eingesetzt nach der Art eines Orgelregisters, das da und dort den Boden verstärkte und knarrend Farbe beitrug.

Das alles hat zu einem äusserst prachtvollen Klangbild geführt. Und das Tonhalle-Orchester Zürich, das sich seit den zwei Jahrzehnten mit David Zinman manches aus dem Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis zu eigen gemacht hat, war voll mit von der Partie. Grossartig die Virtuosität der Naturhörner, auch jene der Trompeten und Posaunen in alter Mensur. Und alle Musiker schienen ihr Bestes zu geben, auch wenn das, was sich bei René Jacobs von selbst versteht, nicht unmittelbar zu ihrem Alltag gehört. Bestens ins Geschehen eingefügt auch die Zürcher Sing-Akademie, die ein letztes Mal von Tim Brown vorbereitet war. Sehr agil klang der Chor, homogen und transparent zugleich; und als beim Lobgesang auf den Wein im «Herbst» ein zweites Schlagwerk mit Schellenbaum, Tambourin und Trommel dazu trat, wurde die Stimmung geradezu ausgelassen.

Ein Vergnügen erster Güte wurde diese Aufführung von Haydns «Jahreszeiten» – zu dem die drei Vokalsolisten nicht wenig beitrugen. Johannes Weisser (Bass) schien ein wenig unter Druck; im Leisen verlor seine Stimme an Substanz, im Lauten dagegen an Klarheit des Timbres. Die beiden anderen Solisten boten jedoch exquisite Leistungen: Marlis Petersen (Sopran) mit Lieblichkeit und Beweglichkeit, Werner Güra (Tenor) mit verschmitztem Humor und einem Obertonreichtum sondergleichen – und wie elegant der Sänger, wenn er in oberste Regionen zu steigen hatte, Elemente der Kopfstimme beimischte, war hohe Kunst. Zusammen mit dem farbenfrohen Orchesterklang führte die vokale Vitalität dazu, dass aus dem Oratorium bisweilen geradewegs eine Oper wurde.

Bachs Johannes-Passion mit René Jacobs

 

Peter Hagmann

Bewegend gegenwärtig

Eine Neuaufnahme von Bachs Johannes-Passion mit dem Dirigenten René Jacobs

 

Einmal mehr gibt es viel zu erleben, viel zu bedenken und viel zu reden bei der neuen CD-Publikation mit dem Dirigenten René Jacobs. Drei Jahre nach der ebenso speziellen wie berührenden Einspielung von Bachs Matthäus-Passion folgt nun die Johannes-Passion – und dies unter denselben Voraussetzungen. Wieder ist der instrumentale Teil einem Spezialensemble aus dem Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis anvertraut, der Akademie für alte Musik Berlin, die auf Instrumenten aus dem 18. Jahrhundert (oder den entsprechenden Kopien) und einen Halbton tiefer als heute üblich spielt. Umgekehrt sind für die vokale Seite wieder Kräfte beigezogen, die nicht dem Bereich der historischen Praxis angehören. Der Rias-Kammerchor ist eine Formation, die mit professionell ausgebildeten Sängern besetzt und in allen Bereichen der Repertoires tätig ist; und in den Solopartien sind Sänger mit dabei, die keineswegs als Spezialisten für alte Musik bekannt sind.

Der gemischte Stil

Mag sein, dass damit auch für die Musik Johann Sebastian Bachs jene Verbindung von allgemeiner und spezieller Praxis gefördert werden soll, die in anderen Bereichen des Repertoires üblich geworden ist. Anders als bei Bach haben sich bei Mozart und Beethoven, ja selbst bei Brahms und Bruckner die Spielweisen längst durchdrungen. Tatsächlich gehört es für Interpreten jüngerer Generation ganz selbstverständlich dazu, sich im Bereich der historisch informierten Praxis auszukennen. Ein Dirigent wie Pablo Heras-Casado widmet sich neuer Musik am Pult des Lucerne Festival Academy Orchestra ebenso kundig, wie er mit dem Balthasar-Neumann-Ensemble ein Magnificat von Michael Praetorius erarbeitet oder mit dem Freiburger Barockorchester Sinfonien von Mendelssohn aufnimmt. Und eine Sängerin wie die Sopranistin Anna Prohaska brilliert mit barocken Koloraturen nicht weniger als mit den halsbrecherischen Sprüngen der Musik Luigi Nonos. Die Polarität zwischen den Positionen, die noch in jüngerer Vergangenheit ausgeprägt und durchaus emotional gepflegt wurde, scheint immer mehr einer Art gemischten Stils Platz zu machen.

Indessen herrscht auch in diesem gemischten Stil hohes Bewusstsein für das interpretatorische Tun – die neue Aufnahme von Bachs Johannes-Passion zeigt das sehr schön. René Jacobs reflektiert zum Beispiel die Fragen der Besetzung so eindringlich, wie es ein Dirigent von Format tun muss. Von der rein solistischen Besetzung, für die sich der amerikanische Musikforscher und Dirigent Joshua Rifkin aufgrund seiner Deutung der Quellen in den 1980er Jahren stark gemacht hat, hält Jacobs nichts. Er geht vielmehr von jener Eingabe Bachs an den Rat der Stadt Leipzig aus, in welcher der Thomaskantor vier Sänger pro Stimme als Minimum bezeichnet, deren fünf dagegen als Ideal. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es in jeder Stimme einen Konzertisten sowie eine Gruppe von drei bis vier Ripienisten gegeben hat, weil nämlich der Konzertist die Soli sang und er bei den Chören durch die Ripienisten unterstützt wurde. So hält es John Eliot Gardiner mit seinem spezialisierten Elitechor aus London – und René Jacobs versucht dasselbe nun mit Sängerinnen und Sängern herkömmlicher Ästhetik.

Der Chor ist mit fünf Mitwirkenden pro Stimme besetzt, einem Solisten als Konzertisten und vier Mitgliedern des Rias-Kammerchors als Ripienisten. So wirken Sunhae Im mit ihrem leichten, leuchtenden Sopran, der Tenor Sebastian Kohlhepp und Johannes Weisser mit seinem kernigen Bass als Christus solistisch – und zugleich nehmen sie ihre Individualität immer wieder zurück, um zusammen mit den Ripienisten den Chor zu bilden. Speziell ist das für Benno Schachtner, der einen klar zeichnenden Altus einbringt, sich dann aber mit vier Altistinnen zusammenfinden muss. Dazu kommt nun aber eine weitere Verstärkung aus den Reihen des Rias-Kammerchors, und zwar werden fallweise nochmals 21 Sänger beigezogen – dies für die Choräle, die in dieser Aufnahme, wie René Jacobs im Booklet erläutert, klingen sollen, als seien sie von der Gemeinde gesungen. Das alles ergibt ein vokal äusserst vielschichtiges Bild und eine Lebendigkeit, die jenseits jeder opernhafter Attitüde das düstere Geschehen von Bachs Johannes-Passion überaus plastisch fassbar werden lässt.

Die Reize des Basso continuo

Unterstützt wird das durch die Phantasie, mit der Jacobs das Instrumentale einsetzt. Klein besetzt ist die Akademie für alte Musik Berlin, aber sie bringt unerhört Farbe in den musikalischen Verlauf. Zuallererst dadurch, dass der Basso continuo nicht durch ein einzelnes Cello und ein kleines Portativ zwinglianisch bescheiden gehalten ist. Er ist vielmehr – René Jacobs liebt den Generalbass, das zeigt sich bis hin zu seinen Aufführungen von Opern Mozarts – äusserst reich besetzt mit Orgel, Cembalo und Laute, mit Violoncello, Kontrabass und bisweilen sogar mit Kontrafagott sowie mit einer Gambe. Dies letztere, die Mitwirkung einer die Verläufe frei umspielenden, zudem sehr charakteristisch klingenden Gambe, erinnert rührend an die Anfänge der Wiederentdeckung Bachs im 19. Jahrhundert, war man damals doch der Auffassung, dass die Harmonisierung der Basslinie nicht doch ein Klavier (das Cembalo war noch nicht wieder in Gebrauch), sondern durch einen Gambenconsort auszuführen sei.

Das alles kommt dank der hervorragenden Aufnahmetechnik, die im Teldex-Studio in Berlin gepflegt wird, zu bester Wirkung. Gemeinsam mit Jacobs wurde eine Aufstellung der Mitwirkenden im Studio eingerichtet, die dem Chor bei ungeschmälerter Präsenz des Orchesters ein hohes Mass an Textverständlichkeit ermöglicht. Auch die verschiedenen Dichtegrade in den Chören und den Chorälen zwischen rein solistischer und mehrfach verstärkter Besetzung lässt sich ausgezeichnet nachvollziehen – besser jedenfalls als in der Aufnahme der Matthäus-Passion. Und nicht zuletzt scheint im Anhang zur Aufnahme, wo zusätzlich alternative Fassungen einzelner Nummern eingespielt sind, die komplexe Entstehungsgeschichte von Bach Johannes-Passion auf. Die bewusste Begegnung mit dem Notentext, der ja sein eigenes Leben wie sein eigenes Nachleben hat, gehört zu den Errungenschaften der historisch informierten Aufführungspraxis. Wenn sie sich mit derart vitaler Gegenwärtigkeit verbindet, wie es in dieser Aufnahme der Johannes-Passion geschieht, darf von einem Glücksfall die Rede sein.