Den Ring mag ich tragen

Anlässlich seines jüngsten Konzerts in Basel
erhielt Heinz Holliger den Alban-Berg-Ring

 

Von Peter Hagmann

 

Die Grössten unter den Schauspielern tragen den Iffland-Ring. Der Schweizer Bruno Ganz zum Beispiel, der ihn 2004 empfangen hat und ihn nach seinem Tod 2019 mittels testamentarischer Verfügung erst an Gerd Voss und nach dessen Ableben an Jens Harzer weitergeben liess. Denn so lautet die Regel: Der Iffland-Ring wird auf Lebenszeit verliehen, der Träger hat jedoch die Pflicht, einen Nachfolger zu bestimmen.

Ring-Übergabe: Maximilian Eiselsberg und Heinz Holliger / Bild Benno Hunziker, Alban-Berg-Stiftung Wien

Vergleichbares gibt es auch in der Musik. 2021, mitten in der Pandemie, schuf die 1969 gegründete Alban-Berg-Stiftung in Wien den Alban-Berg-Ring. Das Prozedere ist dasselbe wie beim Iffland-Ring. Auch der Alban-Berg-Ring wird auf Lebenszeit verliehen, und auch hier ist der Ausgezeichnete gehalten, innerhalb einer kurzen Frist für den Fall seines Todes einen Nachfolger zu benennen. Die Auszeichnung ist für Musiker bestimmt, die sich in besonderer Weise um das Schaffen Bergs verdient gemacht haben, die sich durch ihr Engagement für neue Musik hervorgetan oder besondere Verdienste um die Förderung des künstlerischen Nachwuchses erworben haben. Zum ersten Träger des Alban-Berg-Rings wurde 2021 der damals 95-jährige Friedrich Cerha gewählt. Das lag auf der Hand, hat sich Cerha durch die Ausarbeitung des Fragment gebliebenen dritten Akts von Bergs Oper «Lulu» bleibende Verdienste erworben.

Nach Cerhas Tod Anfang 2023 hatte Daniel Ender als Generalsekretär der Alban-Berg-Stiftung die Aufgabe, bei der Witwe Gertraud Cerha anzuklopfen und um die Rückgabe des Rings zu bitten. Zudem wurde der von Cerha hinterlegte und im Safe der Stiftung aufbewahrte Briefumschlag geöffnet, dem der Name des von Cerha erwählten Nachfolgers zu entnehmen war. Ein Moment der Spannung habe über der Sitzung des Kuratoriums gelegen, so Maximilian Eiselsberg, der Präsident der Alban-Berg-Stiftung, und Überraschung sei eingetreten, aber Cerhas Wahl habe auf Anhieb überzeugt. So ist der Alban-Berg-Ring jetzt an Heinz Holliger gegangen.

Ausgezeichnet. Stimmig. «Niemand unter den Lebenden reicht an den Namensgeber dieses Rings heran, aber der von mir Nominierte vereint als ernst zu nehmender Komponist und sehr engagierter ausübender Musiker Qualitäten, die ihn der Ehre würdig erscheinen lassen.» So schrieb es Friedrich Cerha. Tatsächlich ist Heinz Holliger, darin Cerha verwandt, ein universell tätiger Musiker: Oboist, Dirigent, Komponist, Dozent. Und wie Cerha liegt der Schwerpunkt seines Schaffens bei der neuen Musik – wobei Holliger als Interpret auch im Bereich der Barockmusik wie in jenem des klassisch-romantischen Repertoires Wesentliches gesagt und zu sagen hat (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 21.05.19).

Das erwies sich einmal mehr bei dem von ihm geleiteten Konzert des Kammerorchesters Basel im restlos ausverkauften Musiksaal des Basler Stadtcasinos (das sei immer so bei ihnen, sagt dazu Marcel Falk, der Geschäftsführer des Orchesters). Mit bewundernswerter Agilität besteigt er seinen Platz auf dem Podium, mit der für ihn bekannten Überzeugungskraft hat er die (auch hier wieder grossartige) Solistin Sol Gabetta und das Orchester für die Erarbeitung des so gut wie unbekannten Cellokonzerts Benjamin Brittens gewinnen können, mit seiner ausgeprägten Empathie hat er die «Hebriden»-Ouvertüre von Felix Mendelssohn Bartholdy und die Sinfonie Nr. 3, Es-Dur, von Robert Schumann zu intensiven Erlebnissen werden lassen. Dies nicht zuletzt dank seinem ausgeprägten Sensorium für die Instrumentation, das in der «Rheinischen» zu unerwarteter, fruchtbarer Präsenz der Bläser geführt hat.

Vor dem Konzertbeginn (und wenige Wochen vor seinem 85. Geburtstag) wurde Heinz Holliger nun also von Maximilian Eiselsberg nach einer Laudatio der Alban-Berg-Ring übergeben. Holliger bedankte sich gerührt. Was seine Verdienste um Bergs Musik angehe, käme er an Friedrich Cerha nie und nimmer heran; er dürfe aber gestehen, dass Berg zusammen mit Schumann, Schubert und Debussy zu seinen vier Lieblingskomponisten zähle. So sehen wir denn neugierig einem weiteren Blick Heinz Holligers auf ein Stück Alban Bergs entgegen.

Der unreine Avantgardist

Bernd Alois Zimmermann, mit Heinz Holliger neu entdeckt

 

Von Peter Hagmann

 

Denkbar schwer waren die Anfänge. 1918 in der Nähe von Köln geboren, wurde der angehende Komponist Bernd Alois Zimmermann 1939 aus dem Studium heraus in den Kriegsdienst eingezogen. Aufgrund einer Verletzung wurde er 1942 entlassen. Er nahm seine Ausbildung wieder auf, konnte sie aber erst 1947 abschliessen; der Eintritt ins Berufsleben erfolgte daher spät, und die Möglichkeiten in den Jahren nach dem Krieg waren beschränkt. So nahm Zimmermann eine Tätigkeit als Hauskomponist beim Nordwestdeutschen Rundfunk an, aus dem 1956 der Westdeutsche Rundfunk (WDR) in Köln hervorging. Viel Ehr brachte das nicht, aber doch etwas Geld, und das konnte Zimmermann als Familienvater sehr gut brauchen.

Auch wenn sie seine Mission, als Komponist neue Werk zu schaffen, bedrängte, öffnete ihm die Beschäftigung als Hauskomponist Blickfelder, die Zimmermann mit Gewinn in seine musikalischen Grundauffassungen einzubauen vermochte. Als Hauskomponist hatte er, und dies oft unter Zeitdruck, Arrangements bestehender Musik zu erstellen – für die Orchester und die Ensembles, mit denen der Rundfunk das darniederliegende Kulturleben wieder anzufachen suchte. Das waren, wie Rainer Peters sagt, der Spezialist für Leben und Werk Bernd Alois Zimmermanns, Galeeren- und Experimentierjahre. Damals hier liess sich der Komponist auf Musik ein, die vielleicht sonst nicht auf seinen Schreibtisch gekommen wäre, zum Beispiel auf «Die drei Zigeuner», das Lied für Singstimme und Klavier von Franz Liszt aus dem Jahre 1860, das Zimmermann 1953 orchestrierte, oder Modest Mussorgskys Klavierstück «Reiseeindrücke aus der Krim» von 1879/80, das der Hauskomponist 1949/50 ebenfalls für Orchester setzte. Selbst mit Sergej Rachmaninow, für jeden zünftigen Avantgardisten ein Graus, befasste sich Zimmermann; eine Romanze in E-dur aus den «Morceaux de salon» von 1894 erweiterte er zu einem Stück für Saxophon und Orchester.

Während die musikalische Avantgarde deutscher Ausprägung nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu doktrinär auf die Reinheit der Kunst und die Entwicklung des Materials fokussiert war, liess sich Zimmermann schon damals ohne Vorurteile von vielen, auch sehr unterschiedlichen Seiten anregen – wofür er heftig gescholten wurde, woraus er jedoch den für sein Schaffen zentralen Pluralismus der Stile schöpfte. Jazz steht neben Cembalo, Dodekaphonie neben südamerikanischem Rhythmusgefühl. Und mag es sich bei all dem um Hervorbringungen eines Brotberufs handeln, so zeigt dieses Segment im Œuvre Bernd Alois Zimmermanns, wie er an diesen Fingerübungen seinen Klangsinn schärfte und seine Phantasie im Umgang mit Instrumenten und ihren Kombinationen entwickelte. Davon zeugen viele der frühen Werke Zimmermanns, etwa das aus einer Hörspielmusik hervorgegangene Ballett Alagoan aus den fünfziger Jahren oder das reizende, mehrteillige Stück «Un petit rien», eine «musique légère, lunaire et ornithologique» von 1964, entstanden neben der Arbeit an der epochalen Oper «Die Soldaten».

Entdecken lassen sich die wenig bekannten Seiten Bernd Alois Zimmermanns in einer dreiteiligen CD-Produktion, die bei Wergo, dem Label des Musikverlags Schott, erschienen ist, aber natürlich auch im Netz zur Verfügung steht. Die Idee dazu hatte Harry Vogt, der beim WDR in Köln die Neue Musik betreute, und gewinnen konnte er dafür Heinz Holliger, der dem Schaffen Zimmermanns seit vielen Jahren und in besonderer Weise zugetan ist. Grundlage für das über einen Zeitraum von fast zwei Jahrzehnten vorangetriebene Projekt bildeten das Archiv des WDR sowie das von Heribert Henrich auf der Basis von Vorarbeiten Klaus Ebbekes erstellte Verzeichnis der Kompositionen Zimmermanns. Und möglich wurde es nicht zuletzt dank dem Westdeutschen Rundfunk, der das von ihm getragene Sinfonieorchester zur Verfügung stellte. Beteiligt waren aber auch die öffentliche Hand über die Kunststiftung Nordrhein-Westfalen und die dem Schott-Verlag nahestehende Schrecker-Stiftung – eine Kooperation mit Vorbildcharakter, aber auch ein Beispiel dafür, wie wichtig und wertvoll die Existenz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als Instrument der Kulturförderung auch heute noch ist.

Die Produktion selbst steht im Zeichen von Kompetenz und Exzellenz; sie bietet Aufklärung und Vergnügen in einem, und sie tut das auf höchstem Niveau. In Heinz Holliger, der das WDR-Sinfonieorchester – wie bei den zwischen 2010 und 2015 entstandenen den Aufnahmen bei den Sinfonien Robert Schumanns – zu fabulösen Leistungen führt, stellt sich ein kongenialer, sogar mit Sinn für den Blues versehener Interpret in den Dienst an diesem eindrucksvollen Projekt. Der Aufbau der drei Teile legt Beziehungen offen und spannt Bögen. Sie setzt an bei den südamerikanisch angehauchten Arbeiten, geht weiter zu den «Rheinischen Kirmestänzen» mit ihrem doppelten Boden und findet ezur Sinfonie in einem Satz – dem ersten Auftrag des WDR für ein ganz aus der Feder Zimmermanns stammendes Werk. Das heftige, für grosses Orchester geschriebene Stück erklingt hier nicht in jener verbreiteten Revision, die auf den Dirigenten Hans Rosbaud zurückgeht, sondern in der vom Komponisten selbst noch einmal überholten Originalfassung von 1953. Sein Ende findet das Projekt mit «Stille und Umkehr», dem letzten Orchesterwerk von 1970, dem Todesjahr des Komponisten. Nur gut zwei Jahrzehnte blieben Zimmermann zur Verwirklichung seiner schöpferischen Ideen. Auch das wird einem hier bewusst.

Bernd Alois Zimmermann recomposed. WDR-Sinfonieorchester, Heinz Holliger (Leitung). Wergo 7387-2 (3 CD, Aufnahmen 2000 bis 2018, Publikation 2022)

Altmeister und Jungspunde

Lucerne Festival (III): Ein Wochenende im Zeichen der Vielfalt

 

Von Peter Hagmann

 

Bernard Haitink am 6. September 2019 im KKL Luzern / Bild Priska Ketterer, Lucerne Festival

Es war ein Abschied, daran ist nicht zu rütteln, aber in seiner Weise war er glücklich. Mit einer letzten Aufführung von Anton Bruckners Sinfonie Nr. 7, und dies am Pult der Wiener Philharmoniker, beendete Bernard Haitink im Rahmen des Lucerne Festival seine beinahe 65 Jahre umspannende Laufbahn. In Luzern geschah das darum, weil dem inzwischen neunzigjährigen Dirigenten diese Stadt recht eigentlich ans Herz gewachsen und weil ihr Festival in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem Schwerpunkt seines Wirkens geworden ist. Die Wiener Philharmoniker wiederum waren mit von der Partie, weil ihm dieses Orchester mit seinem so besonderen Klang, so sagt es Haitink, in Sachen Bruckner die Ohren geöffnet habe; nach seinem Debüt bei den Wienern mit Bruckners Fünfter im Jahre 1972 habe er seine Auffassungen zu diesem Komponisten grundlegend überdacht. Bruckners Siebte schliesslich darf als ein Herzensstück des Dirigenten gesehen werden; fast 120 Mal hat er sie dirigiert – und so durfte an diesem restlos ausverkauften Abend im KKL die Partitur geschlossen bleiben: eine Ausnahme bei Haitink, der dem Auswendig-Dirigieren mit Skepsis begegnet.

Die Aufführung selbst übertraf alles, was ich auf dem weiten Feld der Bruckner-Interpretation kennengelernt habe. Sie war vollendet. Haitink ging zwar an einem feinen Stock und setzte sich bisweilen auf seinen hochgestellten Hocker, liess an Präsenz und Ausstrahlung jedoch nicht das Geringste vermissen, er war vielmehr ganz Gegenwart. Und die Wiener Philharmoniker schenkten dem Dirigenten, was sie zu schenken vermögen; mit einer Hingabe sondergleichen brachten sie ihren Ton zum Blühen – einen Ton von unvergleichlicher Wärme, der aber, ganz anders als jener der Berliner Philharmoniker, jederzeit hell und transparent bleibt. Alle Sektionen des Orchesters brillierten, besonders jedoch die Musiker an den sogenannten Wagner-Tuben, die zusammen mit ihrem Kollegen an der Kontrabasstuba ihre harmonisch zum Teil extrem anspruchsvollen Partien blendend meisterten und so dem zweiten Satz eine ganz besondere Innigkeit verliehen. Wie von selbst – das ist eines der Geheimnisse, welche die Kunst Haitinks tragen – entstanden die weit gespannten Verläufe, in denen Bruckners Musik zum Atmen kommt; und wie Haitink gegen das Ende des Kopfsatzes hin das Tempo anzog und so die Spannung sicherte, geschah das wie stets geradezu unmerklich. Gleichzeitig drängend wie beharrend bereitete das Scherzo auf das Finale vor, in dem Haitink zusammen mit den Wiener Philharmonikern, die hier ihr schönstes Fortissimo strahlen liessen, einen stolzen Schlusspunkt setzte. Grosse Kunst war das, auf lebenslanger Erfahrung ruhend und zugleich ganz dem Moment verbunden. Vor allem aber tief berührend. Niemand, der dabei war, wird es vergessen.

Es geht doch nichts über die alten weissen Männer. Zu ihnen gehört inzwischen auch Heinz Holliger – wiewohl er zehn Jahre jünger ist als Bernard Haitink, nämlich vor kurzem seinen achtzigsten Geburtstag begehen konnte (vgl. Republik vom 21.05.19). Zu seinen Ehren gab es im Rahmen der Reihe «Moderne», die sich längst zu einem Podium ganz eigener Bedeutung entwickelt hat, ein phantasievoll gestaltetes Programm mit Stücken Holligers aus unterschiedlichen Schaffensphasen und einer Reihe kurzer Geburtstagsgrüsse. Im Zentrum des ersten Teils stand das Streichquartett Nr. 2 von 2007, das von Christopher Otto und Austin Wullimann (Violinen), John Pickford Richards (Viola) und Jay Campbell (Violoncello), den vier jungen Mitgliedern des mit der Lucerne Festival Academy verbundenen Jack Quartet fulminant gegeben wurde. Darum herum ein Ständchen mit Werken von Heinz Holliger, der noch immer fabelhaft bläst, und Zurufen von Youngi Pagh-Paan, Roland Moser, György Kurtág und Rudolf Kelterborn. Im zweiten Teil dann «Not I», das frühe Monodram Holligers auf einen Text von Samuel Beckett, in dem die Sopranistin, von der nur den auf einen Bildschirm projizierten Mund zu sehen war, Ausserordentliches leistete gab. Schade nur, dass der erste Teil in völlig abgedunkeltem Raum stattfand, so dass man das Programm vorab hätte auswendig lernen müssen. Und bedauerlich, dass die Veranstaltung so lange dauerte, dass es für Interessenten nicht zum darauf folgenden Sinfoniekonzert reichte – und das bei einem Festival wie jenem in Luzern, das die Integration der neuen Musik ins Gesamtprogramm zu einem seiner Markenzeichen macht.

Das Neue gehört in Luzern nämlich einfach dazu – auch zu den Sinfoniekonzerten, in denen sich die grossen Orchester der Welt die Klinke reichen. Weil diese Klangkörper, auf Reisen befindlich, dabei nicht leicht mithalten können, setzt das Lucerne Festival seit geraumer Zeit vermehrt auf Eigenproduktionen – wozu nicht zuletzt das Orchester der Lucerne Festival Alumni beiträgt. Weit über tausend junge Instrumentalisten haben seit der Gründung der Akademie im Jahre 2003 von dem einzigartigen Angebot der Weiterbildung profiziert; einige von ihnen kehren zurück und formieren sich zu dem auf Zeit gebildeten Alumni-Orchester. Und diesen Sommer ist nun erstmals Riccardo Chailly, der Chefdirigent des Lucerne Festival Orchestra, ans Pult dieser Nachwuchs-Formation getreten – ein Zeichen jener Vernetzung, der die Zukunft des Festivals gehört. Chailly, der sich, was gerne vergessen geht, in der neuen Musik ganz selbstverständlich tummelt, dirigierte ein Programm, das einen grossen Bogen über das 20. Jahrhundert schlug. Seine Wurzel hatte es bei Arnold Schönbergs Fünf Orchesterstücken op. 16 von 1909, in denen sich Tradition und Aufbruch verbinden. Über die «Eisengiesserei», einem krachenden Stück des Russen Aleksandr Mossolow aus dem Jahre 1927, ging es weiter zur «Grande Aulodia» (1970) von Bruno Maderna, einem südländisch wohlklingen Doppelkonzert für Flöte (Jacques Zoon) und Oboe (Lucas Macías Navarro). Und so heftig es mit Mossolow begonnen hatte, so wütend endete es mit Dis-Kontur (1974/84) von Wolfgang Rihm, dem Leiter der Academy, der in dieser frühen Komposition mit gewaltigen Schlägen den Aufstand probt. Riccardo Chailly kniete förmlich in die Partituren hinein, und die Jungen im Orchester liessen sich begeistert mitreissen.

Neue Musik ist keineswegs etwas für die Nische, sie bildet selbstverständlich Teil des Kosmos – das ist zu erleben, wenn es Veranstalter wagen und sich Interpreten finden. Ein Interpret dieser Art ist Simon Rattle, der mit dem von ihm seit 2017 geleiteten London Symphony Orchestra einen sehr besonderen Weg hin zur neuen Musik eingeschlagen und damit, so scheint es, zu seinem Eigenen gefunden hat. Zusammen mit der auch hier wieder grossartigen Sopranistin Barbara Hannigan präsentierte er im KKL «let me tell you», ein Erfolgsstück des hierzulande wenig bekannten Dänen Hans Abrahamsen, dessen traditionsverbundene und doch neuartige Sprache einige Ratlosigkeit auslöste. Im zweiten Teil des von der Siemens-Musikstiftung mitgetragenen Abends dann «Eclairs sur l’Au-Delà…», eine späte Komposition von Olivier Messiaen, in welcher der grosse Franzose die Summe seines künstlerischen Lebens und seines Glaubens zieht. Unerhört schöne, unerhört ergreifende Musik ist das – wenn sie so vorbildlich und so engagiert präsentiert wird, wie es Rattle und den Londoner Musikern gelungen ist. Messiaen, Organist wie Bruckner, hat im Orchester eine Orgel gefunden, wie sie nirgendwo auf der Welt existiert. Lustvoll probiert er ein Register nach dem anderen aus, mit unerhörter Phantasie erkundet er die Möglichkeiten ihrer Kombination – und gelangt so in ein Paradies farbenfroher Vogelgesänge und wunderbarer Klangwirkungen. Gewiss ist die neue Musik hier Geschichte geworden. Gleichwohl klingt sie, als wäre sie von heute.

Etwas Eigenwerbung auf der sonst werbefreien Seite:

Peter Hagmann / Erich Singer: Bernard Haitink. «Dirigieren ist ein Rätsel». Bärenreiter und Henschel, Kassel und Berlin 2019. 183 S., Fr. 39.90.

Musizieren mit radikaler Leidenschaft

International ist seine Reputation – als Oboist, als Komponist, als Dirigent. Kurz: als Musiker. An der Schweiz schätzt der in Langenthal geborene Heinz Holliger das Widersprüchliche. Heute feiert er seinen 80. Geburtstag. Ein Porträt.

 

Von Peter Hagmann

 

Er spricht jenes weich fliessende Berndeutsch, das die Herzen öffnet. Auch wenn er sich des Hochdeutschen bedient, schimmert der Dialekt durch. Heinz Holliger ist Schweizer, ganz einfach.

Allerdings nicht einer aus dem Holz jener Partei, die das Schweizerische allein zu verkörpern glaubt. Der Musiker – und wer wäre mehr Musiker als der Oboist, Pianist, Komponist und Dirigent Heinz Holliger – ist ein Liebender, vielleicht sogar einer, der «Heimat» zu sagen wagt. In Verdacht gerät er darob nicht. Denn Holliger steht freimütig dazu, an der Schweiz gerade nicht die trutzige Burg zu schätzen, sondern vielmehr das Widersprüchliche, auch das Verrückte. Auf die Frage, was für ihn «schweizerisch» sei, antwortete er Ende 2008 der «Neuen Zürcher Zeitung» mit einer Reihe unbequemer Gegenfragen. Zum Beispiel mit der, ob es schweizerisch sei, dass Paul Klee, als Sohn einer Schweizerin geboren und aufgewachsen in Bern, den Schweizer Pass erst zwei Tage nach seinem Tod Mitte 1940 erhalten hat. Heinz Holliger bringt es gern auf den Punkt. Vielleicht ist er gerade darum in seinem Land auch ein wenig fremd geblieben.

In seiner Weise erzählt davon ein reizendes Buch der Musikwissenschaftlerin Brigitte Bachmann-Geiser, das 2009 zum siebzigsten Geburtstag des Künstlers erschienen ist. Es erinnert an die gemeinsam verbrachte Jugendzeit in Langenthal, wo Heinz Holliger am 21. Mai 1939 als viertes von vier Kindern in einen gutbürgerlichen Arzt-Haushalt geboren wurde. Seine Kindheit sei sehr normal gewesen, schrieb Holliger der Autorin. Ein erheiterndes Understatement, denn ein Sohn, der als Vierjähriger Blockflöte spielen will, der sich als Zehnjähriger brennend für die Oboe interessiert und auf diesem Instrument wie auf dem Klavier sogleich sagenhafte Fortschritte macht, der als Vierzehnjähriger eine Fantasie für Oboe und Klavier komponiert, der als Sechzehnjähriger sowohl das Gymnasium in Burgdorf als auch das Konservatorium in Bern besucht und 1958 neben der Maturität das Lehrdiplom für Oboe erwirbt – das ist alles andere als alltäglich. Es steht für eine Jugend als Hochbegabter. Hochbegabt ist Heinz Holliger, und das auf den verschiedensten Lebensebenen.

Indes, auch Hochbegabte müssen lernen. Holliger tat es bei Emile Cassagnaud (Oboe), Sava Savoff (Klavier) und Sándor Veress (Komposition) – keine schlechten Adressen. Nach den Abschlüssen im Gymnasium und am Konservatorium ging er nach Paris, wo er sich bei Pierre Pierlot an der Oboe und bei Yvonne Lefébure am Klavier weiterbildete; etwas später kam Pierre Boulez dazu, von dem er sich in Komposition unterweisen liess. Im Alter von zwanzig Jahren gewann er den Genfer Wettbewerb, zwei Jahre später den ARD-Wettbewerb in München – und dann standen ihm die Tore offen für eine, und das ist wörtlich zu nehmen, Weltkarriere als Oboist. Nun ist freilich die Oboe nicht das prädestinierte Instrument für eine Laufbahn als Solist, zu klein ist die Auswahl an attraktiven Werken. Deshalb hat Holliger zunächst eine Position als Solo-Oboist bei der Basler Orchester-Gesellschaft angenommen. Das war wichtiger, als es den Anschein hat. Zum einen hat er in den vier Jahren ab 1959 das Orchester von innen kennengelernt. Und zum anderen begegnete er dort dem begüterten Basler Mäzen und Dirigenten Paul Sacher, der als Anreger zahlreicher Auftragskompositionen die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt hat.

Als Mentor und Freund steht Sacher an einer wichtigen Stelle in Holligers Biographie. Nicht etwa, weil es Holliger auf der Oboe langweilig geworden wäre – im Gegenteil: Mit jener Leidenschaft, die ihm eigen ist, pflegt er den Umgang mit dem Instrument bis heute, davon zeugt eine demnächst beim Label ECM erscheinende CD, auf der sich Holliger mit seinem ihm in vieler Hinsicht nahestehenden Kollegen György Kurtág trifft. Holligers Ton zeichnete sich schon immer durch eine geradezu fleischige Kraft aus, sein Atem ist von unerhörter Weite, seine Geläufigkeit sucht ihresgleichen. Doch die Spielwiese, auf der er sich tummelt, ist beengt. Mit aller Entschiedenheit suchte er sie zu erweitern; er begann in Archiven zu stöbern und stiess in den siebziger Jahren auf den Böhmen Jan Dismas Zelenka, einen Zeitgenossen Johann Sebastian Bachs, an dem sich seine Spiellust entzündete. In der Folge kam es zu einer eigentlichen Zelenka-Renaissance; sie war im Wesentlichen Holligers Verdienst.

Doch auch am anderen Ende des Repertoires, beim ganz Neuen, sorgte er für Anregung – Sacher, mit dem Holliger schon als Student in Kontakt getreten war, stand ihm da tatkräftig zur Seite. Zahlreiche Stücke, manche horribel schwer, sind für den Oboisten mit den einzigartigen Fähigkeiten geschrieben worden, viele von ihnen im Auftrag Sachers. Am berühmtesten geworden ist wohl das Doppelkonzert für Oboe, Harfe, Streicher und zwei Schlagzeuger von Witold Lutosławski, das 1980 abgeschlossen und von Holliger zusammen mit seiner Gattin, der Harfenistin Ursula Holliger, sowie dem Collegium Musicum Zürich unter der Leitung Sachers in Luzern erstmals vorgestellt worden ist. Viele grosse Komponisten des 20. Jahrhunderts, unter ihnen Luciano Berio, Elliott Carter, Hans Werner Henze, György Ligeti, Krzysztof Penderecki oder Karlheinz Stockhausen, schufen Werke für Holliger.

Auch er selbst schrieb für sein Instrument. «Cardiophonie» etwa, ein Werk von 1971 für Oboe solo. Für mich eines der ersten Stücke, in denen ich den Komponisten als Interpreten seiner selbst kennengelernt habe. Das Stück hat mich regelrecht erschreckt. Es geht da um den Oboisten und seinen Herzschlag, um Atem und Atemnot, schliesslich den Kollaps. Vom Körper des Instrumentalisten abgenommen und über Lautsprecher in den Raum projiziert, ist der Puls des Musikers deutlich hörbar. In der Erregung des Spiels wird er immer schneller, und in gleichem Mass schneller wird das an die Pulsfrequenz gekoppelte Tempo des Stücks. Immer kürzer werden die Pausen zum Atemholen, immer schriller die Klänge – bis hin zur Implosion. Holliger begegnet dem Stück heute distanziert. Eine Art musikalisches Körpertheater im Geiste Antonin Artauds sei es und ein wenig brutal. So ist er nun einmal: radikal in seinen Ideen, schonungslos in der Konsequenz ihrer Ausführung, erfindungsreich im Einbeziehen des Geräuschhaften. Tatsächlich hat er durch sein Komponieren wie durch sein Spielen das Klangspektrum der Oboe erheblich erweitert; er brachte die Zirkuläratmung und damit das potentiell unendliche Halten des Tons ohne Atempause ein, aber auch die Multiphonics, das gleichzeitige Erzeugen mehrerer Töne auf der im Prinzip einstimmigen Oboe. Mit solchen Mitteln können Grenzen der Existenz zum Ausdruck gebracht werden.

Holliger hat aber auch ganz andere Seiten, wie seine 1998 in Zürich uraufgeführte Oper «Schneewittchen» hören lässt. Eine Schönheit eigener Art lebt in diesem Stück avancierten Musiktheaters. Es ist die gläserne Schönheit des Sargs, in dem das junge Mädchen liegt; erzeugt wird sie von der Glasharmonika, der Celesta, der Harfe, den Glöckchen und Klangstäben in der reich besetzten Schlagzeuggruppe. Und eine Ruhe sondergleichen herrscht in diesem wunderbaren Werk, doch unter der Oberfläche brodelt es. Fragen werden gestellt, die Antworten bleiben mehrdeutig – so wie es in dem auf der Oper basierenden Dramolett von Robert Walser angelegt ist. Grimms Märchen wird dort nicht erzählt, es wird in einer Rückblende phantasievoll gedreht und gewendet. Wie es nach dem Tod Schneewittchens weitergegangen sein könnte, darüber spekuliert Walser. In Heinz Holliger hat er einen Seelenverwandten gefunden.

Womit wir im Zentrum von Holligers Schaffen als Komponist angelangt wären. Es wird geprägt durch eine Reihe von Leitfiguren, an deren Existenz sich Holligers Kreativität jeweils in unerhörter Intensität entzündet hat. Aussenseiter sind sie alle, Sonderlinge, Randständige – aber Hochbegabte. Nicht nur Robert Walser gehört zu ihnen, auch der Romantiker Nikolaus Lenau, dem Holligers jüngste Oper «Lunea» gilt, hat den Komponisten als Figur gepackt. Früher waren es der Westschweizer Maler und Musiker Louis Soutter, dessen Schicksal sich im wild aufwirbelnden Violinkonzert aus den neunziger Jahren spiegelt, oder Friedrich Hölderlin in seinem Tübinger Turm, auf den der abendfüllende «Scardanelli-Zyklus» mit seiner verdichteten Atmosphäre und seinen überraschenden Klangeffekten zurückgeht. Häufig hat sich Holliger die Texte selbst zusammengestellt; ein geradezu fanatischer Leser, verfügt er auch über eine hohe Sensibilität der Sprache gegenüber.

So fremd sie beim ersten Hören erscheinen mag, erreicht die Musik Holligers doch eine spezifische, bisweilen sehr direkte Fasslichkeit – besonders wenn der Komponist als Interpret involviert ist. Am Dirigentenpult beispielsweise. Tatsächlich ist Heinz Holliger in den siebziger Jahren auch zum Dirigenten geworden, erst auf Einladung Paul Sachers beim Basler Kammerorchester, später als Gastdirigent bei allen Schweizer Orchestern wie bei zahlreichen Klangkörpern im Ausland. Holligers erste Auftritte als Dirigent lösten schockartige Reaktionen aus; seine unkonventionelle, heftig auffahrende Zeichengebung war für die Zuhörer ebenso gewöhnungsbedürftig wie für die Orchestermitglieder. Inzwischen ist Holligers Handwerk so weit gewachsen, dass seine Kompetenz als ein hochmusikalischer, eigenwilliger Interpret auch auf dem Dirigentenpodium voll heraustritt. Ob er Bernd Alois Zimmermann dirigiert oder Robert Schumann – beides tat er mit dem WDR-Sinfonieorchester Köln –, der gespannte Duktus und die klangliche Wärme sind als Zeichen der persönlichen Handschrift stets erkennbar. Das gilt auch für die Gesamtaufnahme der Sinfonien Franz Schuberts, die er derzeit für Sony mit dem Kammerorchester Basel erarbeitet.

Als Oboist, als Komponist, als Dirigent verfügt Heinz Holliger heute über eine Internationalität der Reputation, wie sie kein anderer Schweizer Musiker unserer Tage für sich in Anspruch nehmen kann. Im Kern seines Daseins ist er jedoch dem Land seiner Herkunft verbunden geblieben (worauf man vielleicht auch einmal etwas stolz sein könnte). Nicht zuletzt zeugt davon seine «Alb-Cher, eine Geischter- und Älpermüsig», die er 1991 – in jenem Jahr, da ihm mit dem Siemens-Musikpreis eine der höchsten Auszeichnungen aus dem Bereich der Ernsten Musik zugesprochen wurde – im Auftrag von Brigitte Bachmann-Geiser zur Eröffnung des Schweizerischen Zentrums für Volkskultur im Kornhaus Burgdorf geschrieben hat. Entstanden für das Ensemble der Oberwalliser Spillit, wird hier eine spannende Sage um eine verlorene Kuh erzählt – in Walliserdeutsch. Und in eine Musik gesetzt, die nicht Volksmusik noch Kunstmusik ist. Sondern beides. Nämlich Musik von Heinz Holliger.

Viele Werke Heinz Holligers, unter anderem der «Scardanelli-Zyklus», die Oper «Schneewittchen», der «Alb-Cher» und die «Zwiegespräche» zwischen Holliger und György Kurtág sind auf ECM greifbar.

Erschienen in der «Republik» vom 21.05.19.

Schumann mit Holliger

 

Peter Hagmann

Ein Fall für die ideale Diskothek

Die Orchestermusik Robert Schumanns in Aufnahmen mit dem Dirigenten Heinz Holliger

 

Eines der ersten Konzerte, das Heinz Holliger nach seinem Debüt am Pult des Basler Kammerorchesters im Jahre 1976 dirigierte, galt Robert Schumanns «Manfred». Unvergessen, wie Holliger, als Dirigent damals noch wenig erfahren, an diesem Abend im November 1977 den schwierigen Anfang der Ouvertüre nahm. Heftig schlug er die auf der Eins des Eröffnungstaktes stehende Achtelpause, stürmisch folgten darauf die drei synkopisch gesetzten Doppelachtel – dergestalt, dass im Publikum manch einen der Schreck packte. Wild wirkten die Kontraste, nicht weniger gezackt als die genuin aus dem Inneren kommende, technisch aber in jeder Hinsicht unkonventionelle Schlagtechnik Holligers. Lang ist das her.

Inzwischen hat Holliger, der als sagenhaft begabter Oboist rasch berühmt wurde und bald auch als Komponist von sich reden machte, fast vierzig Jahre mit den verschiedensten Orchestern gearbeitet. Viel Erfahrung hat sich da akkumuliert, und sie paart sich mit seiner einzigartigen Musikalität. Genau davon lebt die Gesamtaufnahme der Sinfonischen Werke Robert Schumanns, die Holliger zusammen mit dem WDR-Sinfonieorchester Köln und Instrumentalsolisten seiner Wahl für das Label Audite erstellt und jetzt mit dem sechsten und letzten Teil abgeschlossen hat. Wer wissen möchte, wie Schumann im besten Fall klingen kann, wird um diese sechs Compact Discs nicht herumkommen.

Zum Beispiel lässt sich anhand dieser Aufnahmen das berühmt-berüchtigte Klischee berichtigen, dass Schumann eben nicht zu instrumentieren verstanden habe. Wenn man so intensiv in die Musik dieses Grenzgängers hineinhört, wie es Heinz Holliger tut, sind solche Vorstellungen sogleich ausser Kraft gesetzt. Das umso mehr, als das WDR-Sinfonieorchester Köln in diesen Studioaufnahmen aus der Kölner Philharmonie seinem Gastdirigenten aus der Schweiz ohne Wenn und Aber folgt. So kann Holliger voll auf den warmen, sinnlichen Klang des Orchesters setzen und ihn für seine geschmeidig durchgeatmeten, leuchtend transparenten Auslegungen nutzen.

«Manfred», die Ouvertüre zum Dramatischen Gedicht von Lord Byron, zeigt die Vorteile exemplarisch. Der rasche Einstieg klingt noch immer wie der Ausbruch von 1977, ist aber nun sorgsam kontrolliert und eingebettet in den Kontext, der sich im darauf folgenden langsamen Teil ausfaltet. Und grossartig ausfaltet, denn die klanglichen Gewichte sind optimal verteilt, die Ersten Geigen steigen ganz leicht und nur sparsam vibrierend in die Höhe, das Blech fügt sich markant, aber nicht dominant ins Geschehen ein – ganz von selbst entsteht so untergründige Spannung. Wie die Tempi logisch und als Spiegel der Textvorlage aufeinander bezogen sind, wie gewisse Motive Anlauf nehmen, wie die einzelnen Instrumentalgruppen ihre Vorzüge einbringen, das alles macht aus dieser Ouvertüre ein Sinfonisches Vorspiel.

Womit Teil 6 dieses Kölner Schumann-Projekts auf hohem Niveau eröffnet ist. Und wie es bei Holliger gern der Fall ist, kommt es danach gleich zu einer Überraschung, denn auf die späte «Manfred»-Ouvertüre folgen die beiden vollendeten Sätze der ganz frühen «Zwickauer» Sinfonie von 1833, die keineswegs Unbeholfenheit, sondern ganz erstaunliche Anlagen zeigen – Holliger zollt diesem Fragment Respekt durch eine äusserst einfühlsame Interpretation. Auch jenseits dessen warten die Aufnahmen mit manch ungewohnter Erfahrung auf. Die vierte Sinfonie, d-moll, lässt sich in der gewohnten Version von 1851 wie in der kaum je gespielten Erstfassung von 1841 hören. Ins ebenfalls späte, lange Zeit verkannte Violinkonzert stiegt Patricia Kopatchinskaja mit geradezu erschreckender Verve ein, während Dénes Várjon im Klavierkonzert vorführt, was behende Leichtfüssigkeit diesem früher gern hingedonnerten Werk beibringt. Viel zu hören gibt es da, viel zu entdecken und zu staunen.

Robert Schumann: Die Sinfonischen Werke. WDR-Sinfonieorchester Köln, Heinz Holliger (Dirigent). Audite (6 CD) // I: Sinfonie Nr. 1. Ouvertüre, Scherzo und Finale. Sinfonie Nr. 4 (Frühfassung) // II: Sinfonien Nr. 2 und 3 // III: Konzert für Violoncello und Orchester. Sinfonie Nr. 4 (Spätfassung). Mit Oren Shevlin  // IV: Konzert für Violine und Orchester. Konzert für Klavier und Orchester. Mit Patricia Kopatchinskaja und Dénes Várion  // V: Konzertstück für Klavier und Orchester d-moll op. 134. Fantasie für Violine und Orchester. Konzertstück für Klavier und Orchester G-dur op. 92. Konzertstück für vier Hörner und Orchester. Mit Patricia Kopatchinskaja und Alexander Lonquich  // VI: Ouvertüre zu «Manfred». «Zwickauer» Sinfonie. Ouvertüre zu «Szenen aus Goethes Faust». Ouvertüre zu Goethes «Hermann und Dorothea». Ouvertüre zu «Genoveva». Ouvertüre zu Schillers «Graut von Messina». Ouvertüre zu Shakespeares «Julius Caesar»