Mozart im Elsass

«Così fan tutte»
nach der Premiere in Strassburg

 

Von Peter Hagmann

 

Strasbourg

Über die lieblichen, von Weinbergen durchzogenen Gefilde des Oberrheins erstreckt sich eine Kulturlandschaft von eigenem Reiz. Zwischen Basel und Strassburg, im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern, steht eine Fülle an zum Teil eindrücklichen Theaterbauten und Konzerthäusern – alle mit Publikum. Einen Schwerpunkt bildet die Opéra national du Rhin in Strassburg. Seinen Namen trägt das Institut zum einen, weil es vom französischen Staat subventioniert wird, zum anderen aber, weil es neben seinem Hauptsitz das Théâtre municipal de Colmar und das Théâtre municipal de Mulhouse mit seinen beiden Spielorten in der modernen Filature und dem 1868 eröffneten Théâtre de la Sinne bedient – eine Konstruktion, nur wesentlich komplexer, wie im Theater-Orchester Biel-Solothurn oder der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf und Duisburg.

Mulhouse

Ob so etwas funktionieren kann – das war die Frage, der sich jetzt anhand der Produktion von «Così fan tutte» nachgegangen werden konnte: Mozart an drei Stationen im Elsass. Die Premiere war kurz vor Ostern in Strassburg über die Bühne gegangen – mit durchzogenem Erfolg, wie ich fand (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 20.04.22). Weitere fünf weitere Vorstellungen gab es daraufhin im Stammhaus. Nach einem kurzen Unterbruch folgten zwei Aufführungen im alten Haus von Mulhouse und eine im 1849 eröffneten Stadttheater von Colmar. Die Gewichtung mag erstaunen, ist Colmar mit 65’000 Einwohnern doch fast doppelt so gross wie die südlich davon, auf halbem Weg nach Basel gelegene Schwester. Mulhouse scheint mir allerdings kulturell ambitionierter, wovon die 1993 abgeschlossene Errichtung der Filature zeugt und, vor allem, die Führung des städtischen Orchestre Symphonique de Mulhouse, das sich auch an den Produktionen der Strassburger Oper beteiligt und dort sehr anständige Figur macht. Für die Stadt mit ihrer heiklen sozialen Struktur, aber auch einem reizenden, von Leben erfüllten alten Kern nicht eben selbstverständlich.

Colmar

Drei Mal dasselbe gab es also – und es wirkte drei Mal anders, allen Konstanten zum Trotz. Schon vom Klima im Zuschauerraum her. In Strassburg, der stolzen Stadt Europas, kam das merklich bürgerlich ausgerichtete Publikum der Kenner und Liebhaber zusammen; es nahm «Così fan tutte» mit der gewohnten Distinguiertheit entgegen. Ganz anders im reizenden Haus von Mulhouse, wo bei der Vorstellung an einem wunderschönen Sonntagnachmittag im Parkett und den drei Rängen gespannte Aufmerksamkeit herrschte – es knisterte förmlich im Saal. In Colmar schliesslich, auch hier in einer Sonntagnachmittagsvorstellung in einem nicht weniger würdigen Haus à l’talienne, gab man sich leger; es wurde vernehmlich gesprochen und daraufhin zurechtgewiesen, und als nach der Abreise der beiden Verlobten in den Kriegsdienst als ein äusserst wirksamer coup de théâtre ein toter Soldat mit Getöse aus dem Schnürboden auf die Bühne fiel, entstand eine Heidenaufregung – etwas Italienisches hatten die Publikumsreaktionen an sich.

Ähnliche Wandlungen liess die musikalische Anmutung erkennen. Nach dem unverbindlichen Eindruck der Strassburger Premiere schälte sich in den kleineren Räumen von Mulhouse und Colmar heraus, wie plausibel Duncan Ward als musikalischer Leiter der Produktion kammermusikalische Ansätze verfolgte. Das Orchester war klein besetzt; ein Kontrabass und ein Violoncello genügten für das Fundament. Das ergab ein lichtes Klangbild, in dem die hervorragenden Bläser des Orchestre philharmonique de Strasbourg dominierten – und dabei erkennen liessen, wie viel Bedeutung, auch wie viele anforderungsreiche Aufgaben Mozart diesen Instrumenten in «Così fan tute» zugedacht hat. Wards frische Tempi orientierten sich am Klangbild, das war einsichtig und erschien als logisch. Dass sich der Dirigent, unverkennbar begabt, so wenig auf die emotionale Tiefe dieser Musik einliess, dass er naiv, ja beinah kindlich über so berührende Momente wie das «Addio»-Ensemble nach der Abreise der (angeblich) zu Soldaten gewordenen Verlobten hinwegmusizierte, blieb freilich auch hier, in der trennscharfen Akustik von Colmar noch mehr als in Mulhouse, unverständlich. Statt atemlos dem Aufbau der eigenen Karriere nachzuhecheln, könnte sich der junge Brite ein wenig mit der Rezeptionsgeschichte des Werks, mit Nikolaus Harnoncourt, René Jacobs oder Teodor Currentzis befassen. Und sich von ihnen für die Entwicklung einer echt individuellen Sicht anregen lassen.

Im Rahmen des Gegebenen ausgezeichnet bewährt hat sich das Sextett der Vokalsolisten. Die beiden Paare, der das Spiel leitende «Philosoph» und seine Helfershelferin – sie hatten sich in den beiden letzten Vorstellungen der Serie regelrecht freigespielt. Musikalisch blieben freilich dieselben Desiderate offen wie bei der Premiere. Sehr überzeugend gab Nicolas Cavallier den Don Alfonso nicht als einen gelangweilten, vom Leben enttäuschten Dandy, sondern als einen ausgefuchsten Zyniker, ja einen Frauenhasser von beträchtlichem Zerstörungspotential. Immer wieder zerstört hat der Sänger allerdings auch die Aufführung selbst: durch seine rhythmische Ungenauigkeit und sein dröhnendes stimmliches Auftrumpfen. Darunter litten zumal die Ensembles – aber nicht nur darunter: weil alle Sängerinnen und Sänger üppiges Vibrato einsetzten, blieben die Lineaturen unscharf und verlor der Zusammenklang seine Wirkung. Als besonders störend fiel nicht zuletzt die Art und Weise auf, in der alle Beteiligten auf die Schlusssilben hinsangen und auf ihnen sitzenblieben – von sprechendem Singen keine Spur, im Opernbetrieb ist das leider noch immer viel zu weit verbreitet.

Stärkste Überraschung bot sich auf der Ebene der Inszenierung; drei Mal dasselbe führte hier zu Vertiefung und Wachstum des Verständnisses. Bei David Hermann spielt «Così fan tutte» nicht an einem Tag, sondern in einem Lebensabschnitt, der von den jungen Tagen vor 1914 über den Verlust des Kontakts im Ersten Weltkrieg, die Wiederbegegnung in der Zwischenkriegszeit und die Langeweile in erkalteten Beziehungen bis hin in das fatale Finale von 1945 mit der vorgetäuschten Doppelhochzeit. Das ist als Ansatz ambitioniert, zu ambitioniert vielleicht für einen einmaligen Opernbesuch. Doch ist da alles mehr als anregend, nämlich messerscharf durchdacht und in vielschichtiger Hochpräzision ausgeführt – auch in den subtil unterstreichenden Kostümen von Bettina Walter und dem beweglichen, problemlos an die unterschiedlichen Dimensionen der Bühnen ausserhalb von Strassburg adaptierbaren Bühnenbild von Jo Schramm. Am Schluss löst sich alles auf. Freilich nicht mit dem fragwürdigen Hinweis, es sei alles bloss ein Scherz gewesen, und nicht mit der unglaubwürdigen Rückkehr der beiden Paare in die alte Konstellation. Sondern mit einer scharfen körperlichen Attacke der beiden Bräutigame auf Don Alfonso und wütenden Anklagen der beiden Frauen an die Adresse ihrer Männer. Fiordiligi und Dorabella, sie sind ihrer Zofe Despina auf dem Weg der Emanzipation gefolgt und stehen vierzig Jahre nach dem Beginn der Geschichte gründlich an einem anderen Ort des Selbstverständnisses. Wovon der «Notar» beim Verlesen des Ehekontrakts in einer spassigen Einfügung Zeugnis ablegt.

Mozart im Zeitenwechsel

«Così fan tutte» an der Oper Strassburg

 

Von Peter Hagmann

 

Heilung im Kabarett: «Così fan tutte» in Strassburg / Bild Klara Beck, Opéra national du Rhin

Das letzte Wort zu «Così fan tutte» ist nicht gesprochen. Die einen stossen sich bis heute an der Frivolität der von Lorenzo da Ponte zum Libretto geformten Geschichte, an dem durch einen in die Jahre gekommenen Müssiggänger angezettelten Partnertausch, der sich am Ende aber doch in einem Happy End auflöst – eventuell, eventuell aber auch nicht. Die anderen schätzen die Musik Wolfgang Amadeus Mozarts, können mit der offenkundigen Unwahrscheinlichkeit der Vorlage aber überhaupt nichts anfangen: mit der Art und Weise, in der hier Frauen für dämlich verkauft werden – natürlich Frauen aus dem Adel, denen Mozart im Grunde nur in einer einzigen Hinsicht gewogen war. Jedenfalls stellt «Così fan tutte» die Opernhäuser immer wieder aufs Neue vor beträchtliche Schwierigkeiten.

Das ist jetzt auch in der Opéra national du Rhin in Strassburg zu erleben, wo sich der deutsch-französische Regisseur David Hermann, ein kraftvoll geistreicher Vertreter des interpretierenden Theaters, der Oper Mozarts gestellt hat. «Così fan tutte» spielt bei ihm nicht an einem Tag als ein von Don Alfonso inszenierter Streich, die Verstrickungen zwischen den beiden Paaren Dorabella und Ferrando auf der einen Seite, Fiordiligi und Guglielmo auf der anderen ziehen sich vielmehr durch ein fast ganzes Leben; Eckdaten bilden hier die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg und dann die Zeit des Wirtschaftswunders um 1950.

Als abgeklärter Intellektueller trägt Don Alfonso stets eine Zeitung bei sich – aus der er von der Mobilmachung 1914 erfährt. Nicht nur Ferrando und Guglielmo, auf Alfonso selbst ziehen sich den Rucksack über. Wenig später kehren die beiden Liebhaber schwer gezeichnet zurück, doch ihre Damen wollen nichts wissen von zwei durch den Krieg so schauerlich entstellten Monstern. Das gibt einem schon ziemlich zu denken, gerade angesichts der Kriegsbilder, die derzeit so dominant im Raum stehen. Erneute Annäherung zwischen den Partnern ergibt sich nicht durch den Einfluss des Mesmerschen Apparats, sondern durch eine wilde Vorstellung in einem Kabarett der zwanziger Jahre, in dem sich die beiden Männer mitsamt Alfonso als Schauspieler verdingen.

Womit wir im zweiten Akt angelangt wären – und damit in den dreissiger Jahren. Nach zehn Jahren der Ehe sind sich die beiden Paare schon ziemlich gleichgültig geworden, weshalb sie von Alfonso und seiner Assistentin Despina in einen Swingerclub geführt werden. Dort geschieht es dann. Doch schon bricht der Zweite Weltkrieg aus und kommt es zu neuerlicher, wenn auch weitaus gravierender, Verunsicherung. Eine grosse Bombe wird aus dem Schnürboden in die von Jo Schramm entwickelte Szenerie heruntergelassen, und erneut stellt sich die Frage, ob solche Bilder in der augenblicklichen Situation erträglich sind. Das Finale selbst lässt alles offen, das Dramma giocoso zerstiebt. Das ist alles anregend erdacht und, bis hin den aussagekräftigen Kostümen von Bettina Walter, handwerklich untadelig durchgeführt – dem Verständnis des schwierigen Stücks dient es wenig. Zu weit hergeholt wirken die Konstruktionen, die diesem Abend althergebrachten Regietheaters zugrunde liegen, zu sehr verschwindet im Hintergrund, wozu eine Inszenierung Stellung zu beziehen hätte.

Die musikalische Seite der Produktion vermag da nicht wirklich dagegenzuhalten. Der junge Brite Duncan Ward ist ein erkennbar begabter Dirigent, stilistisch ist er aber noch nicht in der Lage, dem Kosmos Mozarts beizukommen. Nicht dass die historisch informierte Aufführungspraxis das Mass aller Dinge sein müsste, aber deren für die Weiterentwicklung der musikalischen Interpretation zentralen Erkenntnisse haben doch Wege offengelegt, die einen fruchtbaren Blick unter die Oberfläche des Notentextes ermöglichen. Duncan Ward erlaubt sich, auf den Stand von Karl Böhm zurückzukehren; leicht, flüssig und vor allem natürlich soll «Così fan tutte» klingen. Artikulation und Phrasierung bieten keine Nahrung, hurtig wird über vieles hinwegmusiziert – was vom Orchestre philharmonique de Strasbourg bewundernswert gemeistert wird. Von der berührenden Emotionalität, auch der tiefen Melancholie, die in dem angeblich so lustigen Experiment des Don Alfonso zum Tragen kommt, ist allerdings wenig zu spüren, viel zu wenig. Da kann der Abend schon lange werden.

Und dies trotz einer ganz ausgezeichneten Besetzung. Als Don Alfonso hat Nicolas Cavallier mit seinem mächtigen Bariton das Heft jederzeit in der Hand; er singt ausgezeichnet, aber ganz und gar für sich selbst, ohne Kommunikation mit dem Graben. Aufsehenerregend auch Lauryna Bendžiūnaitė als als eine agile und zugleich klangvolle Despina. Bei den Herren bringt Björn Bürger als Guglielmo einen wunderbar gerundeten Bariton ein, während Jack Swanson als Ferrando bisweilen etwas sehr an Fritz Wunderlich und damit an einen Mozart-Ton von ehedem erinnert. Von grossartiger Präsenz Gemma Summerfield als Fiordiligi, warm im Timbre und ausstrahlungsstark Ambroisine Bré als Dorabella.

Nach den sechs Vorstellungen im Stammhaus zieht die Produktion im Mai weiter nach Mulhouse und Colmar, die beiden elsässischen Städte, die, ähnlich dem Modell der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf und Duisburg oder den Theatern von Biel und Solothurn von Strassburg aus bespielt werden. Was die unterschiedlichen räumlichen Konstellationen für die Aufführung bedeuten, wird sich weisen.