Strawinskys «Sacre» als Kunstwerk

Eine neue Aufnahme mit dem Dirigenten Pablo Heras-Casado und dem Orchestre de Paris

 

Von Peter Hagmann

 

Er ist in jedem Garten tätig, Spezialisierung oder gar Fokussierung auf das konventionelle Repertoire ist ihm fremd. Dabei ist Pablo Heras-Casado alles andere als ein oberflächlicher Tausendsassa, er ist vielmehr ein moderner Musiker, einer unserer Zeit, und als Dirigent in etwa das Gegenteil von Christian Thielemann mit seinen drei Säulenheiligen Bruckner, Wagner und Strauss. Wagner dirigiert Heras-Casado ebenfalls, zum Beispiel den «Ring des Nibelungen» – natürlich nicht in Bayreuth, wo kämen wir da hin, aber immerhin am Teatro Real in Madrid.

Ebenso selbstverständlich leitet er für eine CD-Aufnahme das Balthasar Neumann-Ensemble und seinen Chor mit Musik von drei Renaissance-Komponisten des Namens Praetorius. Oder fährt er mit dem Concentus Musicus Wien und dem französischen Vokalensemble Aedes nach Melk, um im dortigen Kloster Monteverdis «Marienvesper» aufzuführen. Das Gegenstück dazu bildet die neue Musik. Bei den Salzburger Festspielen dieses Sommers erscheint er am Pult des Klangforum Wien mit Musik von Olivier Messiaen und Luigi Dallapiccola. Und als Toshio Hosokawas Oper «Matsukaze» in der Brüsseler Monnaie-Oper uraufgeführt wurde, war Heras-Casado mit von der Partie. Zusammengeführt kommen die Erfahrungen auf den verschiedenen Feldern dann zum Tragen, wenn Heras-Casado Symphonien oder Instrumentalkonzerte von Beethoven und Mendelssohn aufnimmt – wie er das das in straffer Kadenz für das französische Label Harmonia mundi tut, das längst an die Stelle der Marktführer von gestern getreten ist.

Der Blick in den prallvollen, wenn auch von Corona gezeichneten Kalender des Weltreisenden könnte einen die Stirn runzeln lassen. Bei diesem Ausmass an Mobilität zwischen Europa, Amerika und Japan, bei dieser Breite des Repertoires – ist da die Tiefe der Auseinandersetzung noch möglich? Kann da jene Belebung des interpretatorischen Blicks, die so dringend erforderlich ist, überhaupt entstehen? Nun, Pablo Heras-Casado ist nicht nur ein ausserordentlich begabter Musiker, er scheint auch über eine schnelle Auffassung zu verfügen und weiss seine Ressourcen einzuteilen – vielleicht ähnlich wie der Pianist Walter Gieseking, der die zu seiner Zeit noch unendlich langen Reisen nutzte, um ganze Werke auswendig zu lernen und sie dann auch so vorzutragen.

Die jüngste CD mit Heras-Casado gibt Anlass, darüber nachzudenken. Sie zeigt das Profil des Dirigenten in aller Klarheit. Zunächst enthält sie das dritte Violinkonzert von Peter Eötvös mit dem Untertitel «Alhambra» – ein Auftrag Heras-Casados in seiner Funktion als Leiter des Festivals von Granada. Zu hören ist da – mit Isabelle Faust als der auch in diesem Repertoire mustergültigen Solistin – ein Stück, das keine Revolution auf der Ebene des musikalischen Materials anzettelt, das vielmehr mit reicher Imagination und blendendem Handwerk die Atmosphäre einfängt, die das grossartige Bauwerk in Granada verströmt. So entlässt einen diese Ersteinspielung in sehr animierter Stimmung.

Die eigentliche Aufmerksamkeit gilt jedoch dem «Sacre du printemps» Igor Strawinskys, den Pablo Heras-Casado zusammen mit dem Orchestre de Paris erarbeitet hat. Mit Daniel Harding, seinem Chefdirigenten zwischen 2016 und 2019, ist das städtische Orchester der Capitale nicht auf einen grünen Zweig gekommen; seit dem raschen Ende dieser Zusammenarbeit steht der Klangkörper ohne musikalische Führung da und ist auf dem internationalen Podium kaum präsent. Zu Unrecht, denn mit Heras-Casado bringt das Orchester eindrückliches Potential ins Spiel. Homogen und wohlklingend das Tutti, ausgeprägt die Farben der Bläser, was für Transparenz sorgt, glänzend die solistischen Interventionen der Bläser.

Schade nur, dass in der Einleitung zum ersten Teil kein französisches Basson, sondern das international verbreitete Fagott deutscher Bauart zum Einsatz kommt – so klingt es jedenfalls. Tatsächlich hat Daniel Barenboim, als er 1975 beim Orchestre de Paris die Position des Chefdirigenten übernahm, nicht nur alle Musiker einzeln zum Vorspiel gebeten und sie damit gegen sich aufgebracht, sondern auch das Basson durch das Fagott ersetzen lassen – dies im Interesse der internationalen Konkurrenzfähigkeit. Man stelle sich, vor Wiener Philharmoniker verzichteten mit einem solchen Argument auf die Wiener Oboe mit ihrem unverkennbaren Klang. Eine kleine Reminiszenz an die französische Orchestertradition stellt Heras-Casado dennoch heraus. Wie der Solofagottist des Orchesters den «Sacre» eröffnet, setzt er ein langsames, ausgeprägtes Vibrato ein. Das ist doch schön in einer Zeit, da das Vibrato der Bläser – nicht jenes der Streicher… – allerorts verpönt ist.

Die Besonderheit der neuen Aufnahme von Strawinskys «Sacre» besteht nun aber darin, dass das Werk weder als Beispiel für die hochgetriebene Virtuosität eines Orchesters (und eines Dirigenten) noch als vorzeitliches, brutales Ritual hergezeigt wird – beides geschieht nur zu häufig. Nein, Pablo Heras-Casado nimmt den «Sacre» vielmehr als das, was er heute ist: als ein musikalisches Kunstwerk, das längst zum Kanon gehört. Er kleidet die Partitur in einen philharmonischen Sound, spitzt nirgends zu, auch nicht in den Eruptionen, lässt vielmehr eine elegante Geschmeidigkeit walten – ein wenig so, wie es Armin Jordan getan hat. Wo er aber unbarmherzig genau bleibt, ist im Rhythmischen wie in den Tempi und den Beziehungen untereinander. Zum Ausdruck kommt es etwa in den «Augures printaniers» nach der Einleitung zum ersten Teil, aber auch in der «Action rituelle des ancêtres» kurz vor dem Finale. Das öffnet das Ohr für die immanenten szenischen Gesten dieser Musik. Wenn zum Schluss des ersten Teils der Weise auftritt, verbreitet sich geheimnisvolle Atmosphäre, die sich dann in einem fulminanten Schluss entlädt.

Eine würdige Hommage zum fünfzigsten Todestag Igor Strawinskys. Sie zu verfolgen, ist ausserordentlich spannend. Wenigstens auf CD. Im Streaming aber – jedenfalls auf Idagio und auf Qobuz – sind die einzelnen Tracks durch hörbare Pausen getrennt, durch kurze eigentliche Löcher, die den musikalischen Zusammenhang empfindlich stören. Der Offline-Zugang, er lebe hoch.

Igor Strawinsky: La Sacre du printemps. Peter Eötvös: Violinkonzert Nr. 3 Alhambra. Isabelle Faust (Violine), Orchestre de Paris, Pablo Heras-Casado (Leitung). Harmonia mundi 902655 (CD, Aufnahme 2019, Publikation 2021).

Beethoven und seine Verschworenen

Das Tripelkonzert in einer beispielhaften Aufnahme

 

Von Peter Hagmann

 

Um das Image des Tripelkonzerts Ludwig van Beethovens steht es nicht zum Besten. C-Dur, ach ja – aber das heisst noch gar nichts. Für einen Pianisten aus dem habsburgischen Hochadel geschrieben und dementsprechend leicht gehalten – das wird oft behauptet, gehört jedoch wohl eher ins Reich der Legenden, jedenfalls findet es im Notentext keinerlei Niederschlag. Nein, wenn das Tripelkonzert als ein Nebenschauplatz erscheint, dann ist das nicht die Schuld des Komponisten, sondern jene der Interpreten. So macht es jedenfalls den Anschein, wenn man das Stück in der Aufnahme mit der Geigerin Isabelle Faust, dem Cellisten Jean-Guihen Queyras, dem Pianisten Alexander Melnikov sowie dem Freiburger Barockorchester und dem Dirigenten Pablo Heras-Casado hört. Denn da gibt es manch Überraschendes zu entdecken und viel Ungewohntes zu erleben.

Die Namen lassen auf Anhieb erkennen, woher der Wind weht. Die Musikerinnen und Musiker, die diese Einspielung tragen, bilden eine ästhetische Familie. Sie stehen, alle in je eigener Weise der historisch informierten Aufführungspraxis zugetan, im Begriff, das klingende Beethoven-Bild unserer Tage gründlich auszulüften. In zahlreichen Wiedergaben des Tripelkonzerts dominiert der leichte, schlanke Ton – so zum Beispiel bei der als legendär geltenden Aufnahme des Werks mit Wolfgang Schneiderhan, Pierre Fournier und Géza Anda sowie dem Radio-Symphonieorchester Berlin unter der Leitung von Ferenc Fricsay aus den frühen 1960er Jahren. So herausragend in mancherlei Hinsicht die Einspielung wirkt, so sehr lässt sie doch hören, wie rasch der leichte, schlanke Ton zu Verflachung und Beliebigkeit führen kann.

Davon ist die neue Aufnahme aus dem Hause Harmonia mundi denkbar entfernt. Statt auf durchgehendes Legato, auf klangliche Homogenität und zurückhaltende Artikulation zu setzen, wird hier ohne Scheu aufs Ganze gegangen. Werden die Phrasen voll ausgespielt, werden die in ihnen angelegten Energien gezeigt und genutzt. Die verwendeten Instrumente bieten das Potential dafür: Der von Alexander Melnikov gespielte Wiener Hammerflügel aus dem frühen 19. Jahrhundert offenbart, so differenziert und mutig gespielt, den ganzen Reiz seiner in den einzelnen Registern sehr unterschiedlich wirkenden Farben, das ein Jahrhundert ältere Cappa-Cello von Jean-Guihen Queyras verbindet einen kernigen Bass mit obertonreicher Kantabilität in den hohen Lagen, während die «Sleeping Beauty», die 1704 erbaute Stradivari von Isabelle Faust, Lineaturen von leuchtender Klarheit besteuert.

Was auf dieser instrumentalen Basis und im Verein mit selbstverständlicher stilistischer Sicherheit möglich ist, tritt gleich in den ersten Takten zutage. Sehr leise und sehr tief klingt das Pianissimo, mit dem die Celli und die Bässe in den Kopfsatz einleiten. Und wenn dann die übrigen Streicher mit ihren Harmonien dazu treten und das Geschehen auf die Dominante hinführen, erfolgt das nicht nur mit einem auffallend expliziten, aber sogleich wieder zurückgenommenen Crescendo, sondern auch mit einem von oben her, von der dissonanten Nebennote her kommenden Triller – mit Pablo Heras-Casado am Pult gibt das Freiburger Barockorchester hier zu erkennen, mit welcher Vitalität es den oft etwas in den Hintergrund gerückten Orchesterpart wahrzunehmen gewillt ist. Das Beispiel dafür folgt gleich darauf, nämlich beim Einsatz des Hauptthemas, wo die repetierten Achtel in den Bässen federnde Energie versprühen.

In strahlender Festlichkeit wird die ausführliche Einleitung abgeschlossen, und dann hebt das Cello in singendem Dolce mit dem Spiel der musikalischen Wechselrede an, welches das Tripelkonzert ausmacht. Pointiert das Rhythmische, profiliert das Klangliche – in der Antwort der Geige setzt sich das fort. Wie schliesslich das Klavier die Szene betritt, greifen Sechzehntelketten Raum, deren Brillanz auf dem Hammerflügel ungeschmälert zur Geltung gebracht werden kann. Immer wieder wird deutlich, wie viel Gewürz das ausdrückliche Spiel in die Verläufe einbringt – sei es durch das bewusste Herzeigen von Dissonanzen, sei es durch Tempobewegungen wie jene, mit welcher der Cellist in die Durchführung überleitet. Und mit einem Mal nimmt man wahr, wie viel Enthusiasmus im Seitenthema steckt.

Genauigkeit im Detail verbindet sich da mit Phantasie und reiner Spiellust. Weil die sordinierten Streicher des Orchesters den kurzen Mittelsatz klanglich so charakteristisch eröffnen, tritt die Besonderheit seiner Tonart As-Dur deutlich heraus. Berührende Schlichtheit herrscht in den weiten Bögen dieses Satzes. Und kaum hat man sich eingelebt, kommt es schon zum Rondo alla Polacca des Finales, dessen Tempo grossartig getroffen ist. Auch hier herrschen rhythmische Griffigkeit, verspieltes Rubato und bewusste Arbeit mit Schwerpunkten. Herrlich ist das alles, das Tripelkonzert Beethovens erscheint in bisher unbekanntem Glanz. Unbekannt, da kaum je vorgetragen, ist auch das beigegebene Klaviertrio, ein wohl von Ferdinand Ries stammendes Arrangement von Beethovens zweiter Symphonie in D-Dur, in dem sich Isabelle Faust, Jean-Guihem Queyras und Alexander Melnikov vom Klaviertrio zum kleinen Orchester verwandeln.

Ludwig van Beethoven: Konzert für Violine, Violoncello, Klavier und Orchester in C-Dur, op. 56; Klaviertrio in D-Dur nach der Symphonie Nr. 2, op. 36. Isabelle Faust (Violine), Jean-Guihen Queyras (Violoncello), Alexander Melnikov (Klavier), Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado (Leitung). Harmonia mundi  902419 (CD, Aufnahme 2020, Produktion 2021).

Der neue Beethoven – mit Kristian Bezuidenhout und Pablo Heras-Casado

Von Peter Hagmann

 

Wie modern Beethoven klingen kann, oder anders herum: Wie Beethoven klingen muss, um modern zu wirken – das lässt sich nicht bei Pultheroen wie Daniel Barenboim, Andris Nelsons oder Christian Thielemann und nicht bei Starorchestern wie den Wiener Philharmonikern erfahren. Da wendet man sich besser an die junge Szene der alten Musik, an das Freiburger Barockorchester zum Beispiel und den eng mit ihm verbundenen Dirigenten Pablo Heras-Casado. Zusammen mit dem aus Südafrika stammenden Pianisten Kristian Bezuidenhout haben Heras-Casado und die Freiburger an zehn Tagen im Dezember 2017 die fünf Klavierkonzerte Ludwig van Beethovens aufgenommen. Nachdem die Nummern zwei und fünf vor einiger Zeit schon erschienen sind, ist jetzt bei Harmonia mundi, dem lebendigen Label aus Frankreich, das vierte Konzert, jenes in G-dur, herausgekommen. Auf CD oder im Streaming zu greifen ist eine aufsehenerregende Neubeleuchtung.

Bezuidenhout spielt ein Fortepiano von Conrad Graf aus dem Jahre 1824, allerdings nicht ein Original, sondern eine Kopie, die 1989 von dem Amerikaner Rodney Regier erbaut und von Edwin Beunk 2002 überholt worden ist. Ein herrliches Instrument, klangvoll, füllig ohne jede Härte; so fein es zeichnet, so opulent singt es. Und Bezuidenhout weiss das Potential zu nutzen. Brillantes Perlen in klar zeichnendem Non-Legato steht neben sinnlicher Kantabilität, und da die Töne bei Klavieren solcher Art nicht so lange klingen wie bei einem Steinway, können die Pedalanweisungen des Komponisten kompromisslos umgesetzt werden – mit entsprechendem Gewinn. Dazu kommt die ganz selbstverständliche Erfahrung des Solisten in den Spielweisen und der Interpretationskunst des frühen 19. Jahrhunderts. Steht in der Partitur ein Sforzato, führt das bei Bezuidenhout nicht unbedingt zu einem dynamischen Akzent, sondern ebenso oft zu einem Arpeggio oder zu einem Rubato. Überhaupt werden die Tempi vielfach nuanciert und damit in den Dienst des Ausdrucks gestellt. In seiner Vielschichtigkeit und zugleich seiner Schlichtheit verleiht das alles dem Solopart eine unerhörte, beglückende Vitalität.

Begleitet wird der Solist von einem Orchester, das agil und prononciert an der Ausgestaltung des musikalischen Geschehens teilhat. Mit Heras-Casado erzielt das Freiburger Barockorchester einen ganz eigenen, aufregenden Beethoven-Ton. Es fehlt ihm nicht an Wucht, aber es ist nicht der in Stein gehauene Heroismus früherer Zeiten, sondern eine elegante, federnde – eine musikalische Wucht. Viel wichtiger als Druck und Kraft sind hier die farblichen Abmischungen, die Akzentsetzungen in der klanglichen Balance, die Beweglichkeit in Phrasierung und Artikulation.  Das deutet sich schon in den beiden zum Klavierkonzert gestellten Ouvertüren an, in jener zu den «Geschöpfen des Prometheus», erst recht aber jener zu «Coriolan». Im Klavierkonzert dann glänzt das Orchester mit einer unerhört reichen Palette an Ausdrucksmöglichkeiten.

Sehr zart aus einem geschmeidigen Arpeggio des Klaviers heraus hebt der Kopfsatz an. Den ersten Phrasen des Soloinstruments antwortet das Orchester mit geschlossenem, geradezu kernigem Ton. Auch schlägt es ein etwas flüssigeres Tempo an, was nicht ein unkontrolliertes, vielleicht gar auf Rivalität basierendes Nebeneinander erzeugt, sondern vielmehr anzeigt, dass der Solist mit seiner Neigung zur Introspektion und das sozusagen als Öffentlichkeit agierende Orchester zwei Welten ausprägen, die später dann, im kurzen Mittelsatz, unverbunden nebeneinander stehen werden. Das Konzert erhält in dieser Anlage des Kopfsatzes nicht das liebliche Profil, mit dem es gerne versehen wird, es zeigt schon hier seine dramatischen Zähne. Vollends zutage treten sie im Andante con moto, das vom Orchester trocken und schroff angelegt, vom Solisten aber in berührende Sanglichkeit gekleidet wird – die alten Instrumente erlauben solch ausdrückliches Vorgehen fern jeden Kitschverdachts. Im abschliessenden Rondo finden die beiden Kontrahenten dann freilich zu fröhlicher Ausgelassenheit zusammen.

Sehr ausdrucksstark ist das, und anregend zudem – eine Interpretation in des Wortes bestem Sinn.

Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert Nr. 4, G-dur, op. 58; Coriolan, Ouvertüre; Die Geschöpfe des Prometheus, Ouvertüre. Kristian Bezuidenhout (Fortepiano, Kopie eines Instruments von Conrad Graf von 1824), Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado (Leitung). Harmonia mundi 902413 (CD, Aufnahme 2017, Publikation 2020).

Kristian Bezuidenhout tritt am Freitag, 18. September 2020, um 19.30 Uhr beim Festival Alte Musik Zürich auf. In der Kirche St. Peter spielt er auf einem Hammerflügel vier Klaviersonaten Beethovens.

Ohrenspitzer für Schumann

Ein CD-Projekt mit der Geigerin Isabelle Faust und ihren Freunden

 

Von Peter Hagmann

 

Die Idee, während einer Tournee entstanden, ist so bestechend wie einfach. Die drei Klaviertrios von Robert Schumann sollten zusammenkommen mit den drei Solokonzerten des Komponisten für die Instrumente, die ein Klaviertrio bilden – alles Werke aus der Dresdener Zeit der Schumanns und aus den ersten Jahren in Düsseldorf. Bemerkenswert daran ist zunächst die Tatsache, dass sich das lange Zeit als minder gelungen abgewertete Violinkonzert wie das als Spätwerk ebenfalls nicht sehr geschätzte Konzert für Violoncello und Orchester auf ein und dieselbe Ebene gehoben sehen wie das berühmt gewordene Klavierkonzert. Auffällig ist aber auch das Ausmass an kompositorischer Kreativität, das hier innerhalb eines vergleichsweise eng abgesteckten Rahmens zum Ausdruck kommt.

Unterstützt wird das durch die spezielle interpretatorische Anlage. Musiziert wird im Geist der historisch informierten Aufführungspraxis. Isabelle Faust spielt nicht die moderne Geige, die sie gewöhnlich zur Hand hat, sondern die Stradivari «La Belle au bois dormant» von 1704, die ihr von der Landesbank Baden-Württemberg zur Verfügung gestellt worden ist. Auch Jean-Guihen Queyras benützt ein altes Instrument, ein Violoncello von Gioffredo Cappa 1696 aus dem Besitz der Société Générale. Während sich Alexander Melnikov für das Klavierkonzert an einen Erard-Flügel von 1837, für die Trios dagegen an ein Hammerklavier der Wiener Werkstatt von Johann Baptist Streicher aus dem Jahre 1847 setzt – an zwei Instrumente aus der Sammlung von Edwin Beunk. Und für die Begleitung in den drei Instrumentalkonzerten sorgt das Freiburger Barockorchester unter der Leitung von Pablo Heras Casado, einem jener Musiker jüngerer Generation, die sich in der historischen Praxis ebenso auskennen wie in der Moderne.

Gespielt wird auf dem gewohnten Stimmton von 440 Hertz für das eingestrichene a, also nicht zirka einen Halbton tiefer, auf 432 Hertz, wie es sonst bei der Verwendung von Darmsaiten auf den Streichinstrumenten üblich ist. Keines der drei Soloinstrumente klingt durch den höheren Stimmton eingeengt wie beim Zürcher Auftritt John Eliot Gardiners und seiner Kräfte vor einigen Monaten. Im Gegenteil, in den wie stets exzellenten Aufnahmen durch das Berliner Studio Teldex kommt die klangliche Schönheit uneingeschränkt zur Geltung. Dazu gesellen sich atmende Phrasierung, vielgestaltige Artikulation und, bei den Streichern, der bewusste Einsatz des Vibratos als Verzierung – das alles mit Blick auf einen möglichst weiten Radius des musikalischen Erlebens. Nicht zuletzt setzen alle beteiligten Musiker auf feuriges Temperament. Beim Orchester kann das auch zu befremdlichen Ausbrüchen führen, etwa im Klavierkonzert, wo am Schluss des ersten Satzes das in der Partitur vermerkte Crescendo zu einer förmlichen Explosion der Pauke führt.

Man nimmt es hin, weil Pablo Heras-Casado das Freiburger Barockorchester zu einer Präsenz anhält, die den Orchesterklang weit über die reine Begleitfunktion hinaushebt. Im Kopfsatz des Geigenkonzerts bilden die Achteltriolen der zweiten Geigen und der Bratschen eine vor Spannung bebende Grundlage, auf der die ohne Vibrato gespielten Halben einen Zug sondergleichen erzielen und die darauf folgenden Läufe wie aus einer Quelle herausschiessen. Isabelle Faust bewegt sich auf der nämlichen Ebene der Gestaltung. Sie prunkt nicht, sie arbeitet vielmehr mit äusserster Sorgfalt und erzeugt damit ein Geschehen, das von reichen Beleuchtungswechseln lebt – Schumanns Violinkonzert ist nun definitiv rehabilitiert. Ihre Partner stehen dem in keiner Weise nach nach. Alexander Melnikov bietet eine extravertierte, sich aber nirgends mit leeren Gesten in den Vordergrund drängende Auslegung des Klavierkonzerts, und Jean-Guihen Queyras arbeitet mit glühender, obertonreicher Kantabilität. Zu dritt fügen sich die Freunde um Isabelle Faust zu einem Trio, das hören lässt, was Kammermusik im besten aller Fälle sein kann.

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Robert Schumann mit Isabelle Faust (Violine), Jean-Guihen Queyras (Violoncello) und Alexander Melnikov (Fortepiano) sowie dem Freiburger Barockorchester und Pablo Heras-Casado (Leitung) bei Harmonia mundi. – Vol.  1: Violinkonzert in d-moll WoO 1 (1853), Klaviertrio Nr. 3 in g-moll op. 110 (1851). HMC 902196. – Vol. 2: Klavierkonzert in a-moll op. 54 (1845), Klaviertrio Nr. 2 in F-dur op. 80 (1847). HMC 902198. – Vol. 3: Cellokonzert in a-moll op. 129 (1850), Klaviertrio Nr. 1 in d-moll op. 63 (1847). HMC 902197.

Am kommenden Sonntag, 26. März 2017, treten Isabelle Faust und das Freiburger Barockorchester mit Pablo Heras-Casado bei der Neuen Konzertreihe in der Tonhalle Zürich auf. Auf dem Programm stehen Werke von Felix Mendelssohn-Bartholdy: neben der «Hebriden»-Ouvertüre und der «Reformations-Symphonie» das Violinkonzert.