Mascagnis «Cavalleria rusticana»
in ungewohntem Licht
Von Peter Hagmann
Im Hinblick auf sein Zürcher Konzert habe er sich eine ganz neue, ganz reine Partitur von Beethovens neunter Sinfonie gekauft, verkündete damals der Dirigent Georg Solti. Für welche der diversen Ausgaben er sich denn entschieden habe, war gleich die neugierige Frage. Die Antwort war von entwaffnender Unbekümmertheit: na die, die ihm im Musikgeschäft verkauft worden sei. Inzwischen liegt das gute dreissig Jahre zurück, und immer deutlicher wird, dass die Zeiten des sorglosen Umgangs mit den musikalischen Texten vorbei sind. Das Wirken Nikolaus Harnoncourts hat Früchte getragen. Seit langem schon versteht es sich für einen altgedienten Dirigenten wie Hartmut Haenchen von selbst, Quellenstudium zu betreiben und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen; selbst Jüngere wie der Shooting Star Krzysztof Urbańsky hat, bevor er für die Neunte Dvořáks in die Proben geht, den Notentext kritisch befragt. Für einen Vertreter der alten Musik wie Thomas Hengelbrock gilt das ganz besonders; als er bei in Bayreuth Wagners «Tannhäuser» leitete, verschwand er im Festspiel-Archiv, um die von Wagner annotierten Dirigierpartituren zu studieren – da klang manches etwas anders als gewohnt.
So ist es nun auch bei Pietro Mascagnis Operneinakter «Cavalleria rusticana», den Hengelbrock mit den Kräften des Balthasar Neumann Ensembles und Orchesters für das Festspielhaus Baden-Baden erarbeitet und jetzt bei dem immer wieder für Überraschungen guten Schweizer Label Prospero als CD publiziert hat. Wie heute üblich, ist die Aufnahme auch im Netz greifbar, nur fehlt dort, bei Idagio wie bei Qobuz, das Booklet, so dass sich weder die Namen der beteiligten Vokalsolisten erschliessen lassen noch die Besonderheit der Einspielung zu erfassen ist. Genau das aber hat es in sich, wird das Werk doch nicht in der heute üblichen Fassung dargeboten, sondern vielmehr in einer originalen Version, wie sie von einer Neuausgabe der Partitur aus dem Hause Bärenreiter präsentiert werden soll. Das bringt eine ganze Reihe von Veränderungen mit sich; sie erscheinen als geringfügig, verleihen dem Werk aber doch eine spürbar andere Anmutung.
Tatsächlich hat Mascagni, der seinen Einakter 1889, damals 26 Jahre alt, der Jury eines Kompositionswettbewerbs einreichte, nach der für ihn günstigen Vorentscheidung noch und noch verändert, in der Regel auf Druck von aussen hin. Die Jury war unentschieden, einzelne Mitglieder waren voll der Bewunderung, andere sparten nicht an Kritik, schlugen die Streichung einzelner Passagen, ja ganzer Arien vor. Dazu kam die italienische Tradition, Opernpartituren dem Geschmack der Ausführenden oder des Publikums anzupassen, kam vor allem aber Uraufführung der «Cavalleria rusticana» 1890 in Rom, bei der nicht nur der Chor krass versagt haben soll, sondern auch zwei Hauptdarsteller die Transposition einzelner Arien um einen Halbton, bisweilen gar einen Ganzton nach unten durchgesetzt haben – was den ausgeklügelten Tonartenplan des Einakters durcheinandergebracht hat.
Die Neuausgabe soll das alles zurechtrücken, ein freilich nicht sonderlich konziser Text des Herausgebers Andreas Giger im Booklet setzt das ins Licht (gerade darum ist nicht zu verstehen, warum bei der Präsentation der Neuaufnahme im Netz das Booklet fehlt). Die Veränderungen erschliessen sich mehr dem Kenner der Partitur, fallen aber doch ins Gewicht. Das Stück wirkt harmonisch wie rhythmisch interessanter, vor allem aber: heller, leichter. Nicht zuletzt liegt das an der historisch informierten Aufführung unter der Leitung von Thomas Hengelbrock, der Vergleich mit der ebenfalls sehr schönen, ästhetisch aber ganz anders gelagerten Einspielung der Dresdener Philharmonie mit ihrem damaligen Chefdirigenten Marek Janowski (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 03.06.20) lässt es erfahren. Herrscht bei Janowski üppiger philharmonischer Orchesterklang, zielt Hengelbrock, etwa durch den sorgfältigen Einsatz des Vibratos bei den Streichern, auf Transparenz und Schärfung. Das nimmt der «Cavalleria rusticana» etwas von ihrem als italienisch empfundenen Kolorit, hebt dafür ihre strukturelle Modernität ans Licht.
Das Nämliche gilt für die vokale Seite, die Timbres liegen bei Hengelbrock höher als bei Janowski. Das gilt schon für Carolina López Moreno, die als die betrogene Santuzzza ungeheures Temperament einbringt, aber ebenso sehr licht klingen kann. In der Partie des Liebesbrechers Turiddu, der für seinen Verrat am Ostersonntag mit dem Leben bezahlt, blendet Giorgio Berrugi als ein geschmeidiger italienischer Tenor, während Domen Križaj als der gehörnte Alfio in seiner von Peitschenschlag und Schellengeklingel begleiteten Arie grossartig aufdreht – aber auch er hell, obertonreich. Elisabetta Fiorello gibt die undurchsichtige Mutter Lucia, Eva Zaïcik die kühle Lola. An Anregungen fehlt es nicht.
Pietro Mascagni: Cavalleria rusticana (Originalversion). Carolina López Moreno (Santuzza), Giorgio Berrugi (Turiddu), Elisabetta Fiorello (Lucia), Domen Križaj (Alfio), Eva Zaïcik (Lola). Balthasar Neumann Chor und Orchester, Thomas Hengelbrock (Leitung). Prospero 0088 (CD, Aufnahme 2022, Publikation 2023).
Salzburger Festspiele (I): Opern von Mozart, Cherubini und Enescu
Von Peter Hagmann
Die künstlerisch hochstehende Interpretation, sie versteht sich in Salzburg von selbst. Für die Begegnung mit selten gespielten, zu Unrecht verkannten Werken gilt das schon weniger. Beides zusammen aber, und dies in enger dramaturgischer Verzahnung und mit zwingendem Blick auf die Welt unserer Tage – das sind die Salzburger Festspiele im dritten Jahr der Intendanz von Markus Hinterhäuser. «Der Mythos» wölbt sich als Leitgedanke über das im Zentrum der Festspiele stehende Opernprogramm. Elektra und Medea, Ödipus und Orpheus treten auf, das durch Neptun verkörperte Meer bringt Flut und Zerstörung oder löscht lodernde Flammen. Das klingt nach solider Bildungsbürgerlichkeit, ist aber das reine Gegenteil davon. Natürlich bilden die mythologischen Erzählungen, wie Hinterhäuser sagt, «das Archiv unserer Welterkenntnis». Ebensosehr verhandeln sie aber Grundfragen menschlicher Existenz: unser Verhältnis zu den Mächten der Natur, unser Umgang miteinander. Da wird, was auf den ersten Blick als klassisches Erbe erscheinen mag, mit einem Mal zur reinen Gegenwart.
«Idomeneo»
Schon gleich in Wolfgang Amadeus Mozarts «Idomeneo», der Eröffnungsproduktion dieses Jahres, trat das zutage. Denn am Regiepult stand, wie vor zwei Jahren bei Mozarts «Clemenza di Tito», Peter Sellars. Der amerikanische Bühnenkünstler sieht «Idomeneo» als ein Stück über den Klimawandel und den an ihm ausbrechenden Generationenkonflikt wie über die Flüchtlingskrise. Die von George Tsypin für die Salzburger Felsenreitschule konzipierte Bühne ist verstellt von grösseren und kleineren Gegenständen aus Plastik; sie erinnern an das drängende Abfallproblem, aber auch an die Tierwelt der Ozeane, der vom Menschen so nachhaltig Schaden zugefügt wird. Und drastisch wird die trojanische Prinzessin Ilia, die von der Chinesin Ying Fang feinfühlig gesungen wird, durch den Kostümbildner Robby Duiveman als eine Flüchtlingsfrau gezeigt, die in einer hochnotpeinlichen Verhörsituation ihr Leid klagt. Idamante freilich, der junge griechische Königssohn, der die Trojanerin liebt, schenkt den Kriegsgefangenen die Freiheit und läutet damit einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch ein – die Irin Paula Murrihy zeigt in dieser für einen Kastraten geschriebenen Partie eindrückliches vokales Potential.
Fürs erste scheitert Idamante jedoch, denn Idomeneo – Russell Thomas leidet auch in dieser Partie unter einer engen Höhe – mag nichts von der Verständigung wissen. Fest hält er die Zügel in der Hand, wovon nicht zuletzt seine elegante Galauniform zeugt. Er hadert mit Neptun (Jonathan Nemalu), dem er zum Preis für die Errettung aus der tobenden Flut den ersten Menschen, dem er am Ufer begegnen werde, als Opfer versprochen hat – und dieses versprochene Opfer ist sein Sohn Idamante. Keinen Sinn hat er auch für die Liebe Idamantes zu Ilia, er hält vielmehr fest an der Verlobung seines Sohnes mit der griechischen Adligen Elettra, die sich aber getäuscht sehen wird – und da sind wir beim Glanzpunkt des Abends. Denn was Nicole Chevalier, die Violetta in der singulären Luzerner Produktion von Giuseppe Verdis «Traviata», an Bühnenpräsenz, dramatischer Ausstrahlung und stimmlicher Agilität einbringt, ist von hinreissender Wirkung. Dass Elettra an ihrer Wut nicht zugrunde geht, sondern sich folgsam ins Ensemble zurückzieht, stellt nur eine der Merkwürdigkeiten der Inszenierung dar. Mehr als das der Aufklärung verbundene Weltbild Mozarts scheint sie mir die gutmenschliche Grundhaltung des Regisseurs zur Geltung zu bringen.
Was dem Abend jedoch einzigartiges Profil verleiht, ist seine instrumentale Seite. Wie schon vor zwei Jahren ist als Dirigent Teodor Currentzis verpflichtet. Er steht allerdings nicht vor der MusicAeterna, der von ihm 2004 in Nowosibirsk gegründeten Formation, sondern vor dem Freiburger Barockorchester, dem ein sensationeller Auftritt gelingt. Herrlich der Klang der ohne Vibrato gespielten, in tiefer Stimmung gehaltenen Darmsaiten, zumal bei den vielen Liegetönen im Hintergrund, wunderbar die Tempi, gerade in der subtil überpunktiert genommenen Ouvertüre und in den Märschen, berührend die sensibel ausgeformten Übergänge. Die Akzente fallen so, wie sie bei Currentzis fallen: scharf und pointiert; aber in keinem Augenblick verliert sich etwas von der eigenartigen Wärme, die das Orchester erzielt. Auffallend auch der virtuose Generalbass mit dem Lautenisten Andrew Maginley und, vor allem, mit Marija Shabashova am Hammerklavier, die sich in der von Currentzis eingeschobenen Konzertarie «Ch’io mi scordi di te?» (KV 505) besonders profiliert. Sehr eigenartig dagegen der Gestentanz des aus Samao stammenden Choreographen Lemi Ponifasio, der zur abschliessenden Ballettmusik gezeigt wird.
«Médée»
«Idomeneo» nimmt, was die Beliebtheit beim Publikum betrifft, einen hinteren Rang ein. Erst recht gilt das für «Médée», die düstere Oper von Luigi Cherubini – die im Salzburger Grossen Festspielhaus nun allerdings zu einer unerhört spannenden Auslegung gekommen ist. Das Werk des in Frankreich naturalisierten Italieners – es erklingt in der französischsprachigen Originalfassung von 1797, allerdings ohne die dort vorgesehenen Sprechtexte – wird gemieden, weil seine musikalische Faktur als sperrig gilt und weil die Titelrolle besetzt ist durch den Geist von Maria Callas, die in dieser Partie ihren Höhepunkt an Identifikation und Ausstrahlung gefunden hat. Auch die Salzburger Festspiele hatten diesbezüglich ein Problem. Denn Sonya Yoncheva, die vielversprechende Wahl für die Rolle der Médée, hatte ihr Engagement zurücklegen müssen, weil sie in wenigen Wochen ein Kind zur Welt bringen wird. An ihre Stelle trat die junge Russin Elena Stikhina, die ihre Aufgabe auf hohem Niveau gemeistert hat. Ihr vokales Expansionsvermögen und ihr expressives Temperament versahen die komplexe Persönlichkeit, als die Medea in der Oper Cherubinis erscheint, mit fasslichen Zügen. Und zugleich passte ihre stimmliche Wärme genau zu dem Deutungsansatz, den der Regisseur Simon Stone im Sinn hatte.
Als die Ouvertüre anhob, setzten auch die vom Regisseur erstellten Filmsequenzen in Schwarz-Weiss ein – was sich einmal mehr als problematisch erwies. Auf die Musik Cherubinis muss man sich einlassen können, zumal in der Auslegung durch die Wiener Philharmoniker und den Dirigenten Thomas Hengelbrock, die den klassizistischen Duktus in keiner Weise beschönigten, ja ihn durch die sorgfältige Ausleuchtung der strukturellen und klangfarblichen Details noch unterstrichen. Die bewegten Filmsequenzen, welche die Gesichter sehr stark heranholten, forderten da jenes Zuviel an Aufmerksamkeit ein, das im bildlastigen Regietheater üblich ist. Allein, je weiter der Abend voranschritt, desto logischer erschienen die filmischen Einschübe. Jedenfalls wirkte, was sich Simon Stone zusammen mit dem Bühnenbildner Bob Cousins und der Kostümbildnerin Mel Page für diese anspruchsvolle Produktion erdacht haben, so eindringlich, dass die Parameter der Aufführung rasch zu neuer Ordnung fanden.
Stones Auslegung holt das das Geschehen aus der Vorzeit des Mythos heraus und versetzt es radikal in die Gegenwart – so wie es der Regisseur in jener erweiterten Neufassung der «Medea» des Euripides getan hat, die vor einem halben Jahr im Wiener Burgtheater zu sehen war: ein unglaublich bedrückender, weil in schneidender Schärfe gehaltener Abend, der von der überragenden Hauptdarstellerin Caroline Peters geprägt war. In diesem szenischen Projekt richtet Stone das Beziehungsgeflecht so ein, dass Medea jeder Zug ins Pathologische abgeht. Sie erscheint vielmehr als eine ganz normale junge Frau und Mutter, die ihrem Gatten Jason in vertrauensvoller Liebe zugetan ist. Die aber auch als brillante Forscherin Aufmerksamkeit erregt – mehr Aufmerksamkeit als der auf demselben Gebiet tätige Jason. Die Gattin um einige Zentimeter höher als der Gatte, damit hat Jason ein Problem. Er wendet sich der Tochter des Firmenchefs zu und wechselt damit in eine Liaison, die nicht nur eine neue Partnerschaft ohne Kinder, sondern auch steile Aufstiegschancen in Aussicht stellt. Womit die Dinge ihren schrecklichen Lauf nehmen – bis hin zu jenem Schlusspunkt, da Medea das gemeinsame Einfamilienhaus mitsamt der zwei Kinder in Flammen setzt.
Genau so zeigt Simon Stone die Médée Cherubinis: als eine Liebende, die nichtsahnend aus hohem Lebensstandard ins Nichts abstürzt. Am Ende bleiben der Ausländerin, die ihren Aufenthaltsstatus verloren hat und gehen musste, nichts als die verzweifelten Sprachnachrichten auf die Combox des Ex-Gatten, die Amira Casar aus dem Off vorträgt. Jason wiederum, Pavel Černoch lässt das überzeugender sehen, als er es singt, wird als das Ekel vom Dienst vorgestellt. Er ist nicht nur scharf auf Dircé (Rosa Feola), so heisst die Tochter des Königs von Korinth bei Cherubini, zwischendurch vergnügt er sich auch mit Damen anderer Art. Während Créon in seinen perfekt sitzenden Anzügen ganz der unerbittliche Machthaber ist – dank seinem sonoren Bass und seiner furchterregenden Körpersprache gelingt Vitalij Kowaljow hier ein grandioses Rollenporträt. In scharfem Realismus und zum Teil schauerlichen Bildern wird die Geschichte von Medea und Jason als eine durchaus heutige erzählt. Die Audienz, in der Medea dem finsteren Kreon das Aufenthaltsrecht für einen Tag abringt, wird als eine vom Fernsehen live übertragene Szene am Flughafen gezeigt, die Wiederbegegnung der Mutter mit ihren Kindern an einer tristen Bushaltestelle, das Ende mit dem Mietwagen an einer Zapfsäule, der Medea vor den Augen Jasons und einer entsetzten Menge das zur Selbstverbrennung benötigte Benzin entnimmt. Das sind Bilder, die sich einbrennen, der Mythos tritt einem bedrohlich nahe. Der Musik Cherubinis freilich bleibt am Ende vielleicht doch zu wenig Raum.
«Œdipe»
Das ist bei «Œdipe», der über lange Jahrzehnte hinweg entstandenen Oper des rumänischen Violinvirtuosen und Komponisten George Enescu, entschieden nicht der Fall. Dafür sorgt zusammen mit den Wiener Philharmonikern, mit der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor und einem erstklassig besetzten Ensemble der Dirigent Ingo Metzmacher, der sich mit der ihm eigenen Energie in die Partitur hineingekniet hat und sie nicht nur in voller Länge, sondern auch in aller Farbenpracht erstehen lässt. Nein, «auferstehen» muss man sagen, denn «Œdipe», 1936 in der Pariser Oper aus der Taufe gehoben, wird ausserordentlich selten gespielt. Und wird noch viel seltener in einer so überwältigenden szenischen Fassung gezeigt, wie sie der immerhin 85 Jahre alte Theaterzauberer Achim Freyer auf die Bühne der Salzburger Felsenreitschule gebracht hat.
Auch in Enescus Oper tritt Kreon in Erscheinung; es ist zwar nicht Kreon von Korinth, sondern Kreon von Theben (Brian Mulligan), aber auch der ist ein undurchsichtiger Intrigant. Im Zentrum steht freilich Ödipus, dessen Leben von der Geburt bis zum Tod erzählt wird – vom Aufwachsen als Findelkind, vom Mord am nicht erkannten Vater und der Ehe mit der ebensowenig erkannten Mutter, vom Sieg über die Sphinx und von der Zeit als König in Theben bis hin zum Niedergang als Folge der Aufdeckung all der in Unwissenheit begangenen Untaten – ja bis hin zu der, so wollten es Enescu und sein Librettist Edmond Fleg, Verklärung im Tod. Auch hier findet der Mythos lebendige Präsenz, nur geschieht es auf ganz andere Art. Achim Freyer, der wie stets Inszenierung und Ausstattung aus einem Guss gestaltet hat, versetzt die Vita des Ödipus in seine Phantasiewelt, die von übergrossen Gestalten in ausladenden Kostümen bevölkert ist und durch Requisiten in starken Farben bereichert wird. Im weit ausgreifenden Eröffnungsakt, der allein den Freudengesängen rund um die Geburt des Ödipus gilt, liegt Baby Œdipe mit Riesenschädel noch auf dem Rücken und versucht strampelnd, auf die Beine zu kommen – Katha Platz macht das grossartig. Bald schon tritt aber, verkörpert durch den noch immer mit Donnerstimme versehenen Altmeister John Tomlinson, der blinde Seher Tirésias auf und verkündet das drohende Unheil, dem die Sehenden blind entgegeneilen. Inszenierung nicht als Interpretation, wie sie Simon Stone unternimmt, sondern als assoziatives Ins-Bild-Setzen, dies freilich auf allerhöchstem Niveau.
Schon ist Œdipe erwachsen, und schon schlägt die Stunde von Christopher Maltman, dem dieser Auftritt zur Sternstunde gerät. Unglaublich kernig sein Bariton, dabei sorgsam abgestuft in Timbre und Dynamik, dank gepflegter Diktion auch so gut wie jederzeit verständlich. Freyer lässt ihn als Ur-Mann erscheinen, als muskelprotzender Boxer, dem man an keiner Kreuzung in den Weg geraten möchte. Mit den blossen Fäusten erledigt er seinen Vater Laïos (Michael Colvin) und dessen Begleiter; nach jedem Schlag auf eines der Boxkissen, die aus dem Bühnenhimmel heruntergeschwebt sind, erhält er einen dicken Boxerhandschuh – so rot wie der grosse rote Schuh, der als szenisches Erinnerungsmotiv aus mancher Inszenierung Achim Freyers bekannt ist. Hier mag es der Schuh seiner Gattin und Mutter Jocaste (Anaïk Morel) sein, der ihm als Retter und König seiner Vaterstadt zukommt. Als solcher ist Œdipe die Macht selbst – Freyer denkt und arbeitet zwar als bildender Künstler, ist aber genau so viel Theatermann, der in Zusammenarbeit mit seinen Darstellern starke Bühnenfiguren schafft. Eine solche Figur ist die Sphinx (Eve-Maud Hubeaux), ein Monsterkasten von Frau, dem nach der Überwältigung durch Œdipe dann aber eine kleine Person mit Riesenbrüsten entsteigt.
Sehr schön gegliedert die Massenszenen, brillant eingesetzt die Arkaden der Felsenreitschule – und das alles nicht nur in nächtlichem Schwarz, sondern auch in ganz natürlich wirkender Zeitlupe. So, wie die weiten Bögen, in denen Ingo Metzmacher atmet, sich gleichsam von selbst entfalten. Ganz ruhig gleitet der Dirigent durch die riesige Partitur, und die Wiener Philharmoniker antworten ihm mit einem klanglichen Reichtum sondergleichen. Übrigens auch mit einem Fortissimo in denkbar schönster Kraftentfaltung – was sie, wie an diesem Ort schon mehrfach zu erleben war, nicht allen Dirigenten schenken. Ein Meilenstein, dieser Abend; wenn Festspiele einen Sinn finden, dann in einer Produktion wie dieser. In ihrer enormen Ausstrahlung, auch ihrer glücklichen Verbindung zwischen dem Musikalischen und dem Szenischen erinnert sie an «Saint-François d’Assise» von Olivier Messiaen im Sommer 1992, dem ersten Jahr unter der Leitung von Gerard Mortier und Hans Landesmann. Damals standen zwei junge Leute mit etwas speziellen Ideen vor der Tür zur Direktionsetage. Einer von ihnen wirkt heute als Intendant der Salzburger Festspiele.
Bachs Johannes-Passion und Rihms «Requiem-Strophen» im KKL
Von Peter Hagmann
Kurz vor Ostern ballt sich das Geschehen zu einmaliger Dichte. Bringt die klassische Musik – womit hier wie immerdar die Kunst-Musik im allgemeinen gemeint ist – in einer Art Frühlings-Explosion ans Licht, dass sie alles andere als einen Endzustand erreicht hat, dass sie vielmehr farbenfroh lebt und Publikum in hellen Scharen anzieht. Die Osterfestspiele der Berliner Philharmoniker im Festspielhaus Baden-Baden prunken mit einer «Tosca», bei der Simon Rattle den Taktstock führt und Kristine Opolais, Marcelo Alvarez und Evgeny Nikitin auf der Bühne stehen. Zu gleicher Zeit ereignen sich die durch Herbert von Karajan 1967 ins Leben gerufenen Osterfestspiele Salzburg, die mit einer «Walküre» aufwarten – dies mit Christian Thielemann am Pult der Staatskapelle Dresden und in einer szenischen Produktion, für welche die Regisseurin Vera Nemirova in einem Nachbau jenes Bühnenbilds arbeitet, das Günther Schneider-Siemssen vor fünfzig Jahren für Karajan gebaut hat. Exquisit die Besetzung mit Anja Harteros und Anja Kampe, mit Peter Seiffert und Georg Zeppenfeld. Ohne die Sensation der Oper kommt dagegen das Osterfestival Luzern aus; es sorgt still und leise, aber ausgesprochen nachhaltig für künstlerische Bereicherung.
Zum Beispiel durch eine Aufführung der Johannes-Passion Johann Sebastian Bachs mit dem Dirigenten Thomas Hengelbrock und den Kräften des Balthasar-Neumann-Ensembles. Wie üblich im Bereich der alten Musik und der historisch informierten Aufführungspraxis hat der Dirigent Sängerinnen und Sänger, Instrumentalistinnen und Instrumentalisten um sich geschart, die ihm eng verbunden sind und sich seine Intentionen restlos zu eigen gemacht haben. Und ähnlich wie Philippe Herreweghe lässt Hengelbrock die vokalsolistischen Nummern von den Mitgliedern des Chors ausführen – mit Ausnahme der Partien des Evangelisten und des Jesus. Da nun stellten sich im KKL Luzern Momente einzigartiger Verdichtung ein. Mit der Helligkeit und der leuchtenden Lineatur seines Tenors zeigte Daniel Behle, dass der Evangelist der Johannes-Passion weder ein neutral berichtender Erzähler noch ein das Geschehen aufplusternder Dramatiker sein muss, dass es vielmehr einen dritten Weg gibt. Sein stimmliches Vermögen, das von einem lyrischen Grundansatz durchaus auch packende Expansion einschliesst, erlaubte es Behle, ganz aus der Sprache heraus zu einer musikalischen Griffigkeit zu finden, die den Zuhörer restlos in Bann schlug. Nicht weniger anziehend Markus Butter, der mit seinem kernigen Bariton die Worte Jesu in eine Atmosphäre geradezu herrscherlicher Selbstgewissheit kleidete.
Das passte ganz ausgezeichnet – zunächst zur Johannes-Passion, die den Gekreuzigten weniger als ein Empathie auslösendes Opfer denn als Überwinder zeigt. Vor allem aber passte es zur zweiten Fassung der Passion, die Bach ein Jahr nach der Uraufführung 1725 in Leipzig vorgestellt hat. Dass das Werk in nicht weniger als vier Versionen existiert, ist kaum jemandem bewusst, weil für Aufführungen gewöhnlich ungefragt auf die Neue Bach-Ausgabe zurückgegriffen wird. Anders Thomas Hengelbrock, in Sachen Quellenforschung nicht weniger akribisch als Nikolaus Harnoncourt; er entschied sich für eine von Bach selbst stammende Ausfertigung. Anstelle des Eingangschors steht in der zweiten Fassung der Passion eine grosse Choralbearbeitung, während diverse neu eingefügte Arien von der hohen Kunstfertigkeit des Komponisten zeugen. Die im Ton zurückhaltende, in Ausdruck wie Wirkung aber ausserordentlich starke Aufführung hob diese Seite der Passion exzellent heraus. Mit dem prominenten Konzertmeister Daniel Sepec als Energiezentrum spielte das Orchester ungemein beweglich, in den konzertierenden Beiträgen zudem glanzvoll virtuos. Und der Chor, dessen Mitglieder im Solistischen nicht allesamt gleichermassen überzeugten, liess an Deutlichkeit der Textgestaltung wie an klanglicher Homogenität keinerlei Wunsch offen.
Wurde an diesem Abend ein bekanntes Werk in ein neues Licht gerückt, so präsentierte das erstmals durchgeführte Stifterkonzert der Ernst von Siemens-Musikstiftung, für das der Chor und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks München mit dem Chefdirigenten Mariss Jansons nach Luzern gekommen waren, eine neue Komposition. Und ein Werk in grosser Besetzung. «Requiem-Strophen» heisst es, und es stammt von Wolfgang Rihm, der hier sehr persönlich und musikalisch ausserordentlich berührend spricht. Die 2015/16 im Auftrag der Reihe «musica viva» des Bayerischen Rundfunks entstandene Partitur orientiert sich nur vage an der katholischen Totenmesse. Näher steht sie dem «Deutschen Requiem» von Johannes Brahms, das mit einer vom Komponisten selbst zusammengestellten Abfolge von Texten arbeitet. Rihm hält es ähnlich; die Verbindung zu Brahms wird gleich zu Beginn deutlich, wo Rihm den Propheten Jesaja sprechen lässt. Alles Sterbliche sei wie das Gras, das verdorrt – wie Brahms, der den Apostel Petrus herbeiruft und in seinem Requiem darauf hinweist, dass am Ende das Gras «verdorret und die Blume abgefallen» sei. Rihms Textwahl kreist einerseits um die «Missa pro defunctis», andererseits um Rainer Maria Rilke, der mit Versen aus «Das Buch der Bilder», aber auch mit Übersetzungen von Sonetten Michelangelos vertreten ist. Die in vierzehn Schritte gegliederte, äusserst stimmige Textwahl ist geprägt durch Wiederholungen, die dazu führen, dass einzelne Textpassagen in immer wieder anders geartete Kontexte geraten und dergestalt eine Art Kommentierung erhalten. In seiner subtilen Vielschichtigkeit ist allein schon das Textbuch ein Kunstwerk höchsten Anspruchs.
Aber es ist ja in Klang gebracht, und was die Musik Wolfgang Rihms vermag, zeigt sich besonders frappierend im überraschenden letzten, dem vierzehnten Schritt seiner «Requiem-Strophen». Hier greift der Komponist nach dem Gedicht «Strophen» von Hans Sahl, einem Autor der Weimarer Republik. Der Moment des Todes ist in diesen zwei sich gleichenden und sich ebenso voneinander abhebenden Strophen in zart gelassene Worte gefasst. Die Musik nimmt da einen sequenzierenden Charakter an, und wenn es am Schluss heisst «…als wär ich nie gewesen oder kaum», zieht sie sich in allerleiseste Sphären zurück – unglaublich, wie der Chor das meisterte – und verstummt dann auf dem zweitletzten Wort, dem unversehens zur Frage gewordenen «oder». Für die Einleitung zu diesem Finalteil sorgen zwei Bratschen, deren Linien sich eng verschlingen – so wie es die beiden Soprane (grossartig Mojca Erdmann und Anna Prohaska) im Lauf des Stückes immer wieder tun. Ihnen gegenüber steht ein Bariton, dem die drei Sonette Michelangelos übertragen sind; Hanno Müller-Brachmann versah diese Aufgabe mit Strahlkraft und Sicherheit in jedem Bereich seines weiten Ambitus, ausserdem mit einer Diktion, die hörend erleben liess, wie bei Wolfgang Rihm Sprache zu Musik werden kann. Hier zu einer sich organisch ausfaltenden, geschmeidig fliessenden, selten eruptiven, ihren Reichtum viel eher im Leisen findenden Musik. Dass sich Mariss Jansons diesem wunderbaren Stück mit der ihm eigenen Einlässlichkeit widmete und dass er damit bei der «musica viva» debütierte, kann dem Dirigenten nicht hoch genug angerechnet werden.
Zeitreisen bei und mit dem Tonhalle-Orchester Zürich
Dicht das Angebot, anregend die Abfolge in ihrer Vielgestaltigkeit, waches Interesse und gute Laune in den durchgehend dicht besetzten Rängen – sieht so das demnächst eintretende Absterben des Konzerts mit klassischer Musik aus? Wenn es so aussieht, ist gegen dieses aus unterschiedlichsten Gründen prophezeite Absterben nicht das Geringste einzuwenden, es ist nämlich munter, vergnüglich und sehr lebendig. Zumal für diese angeblich in den Orkus steigende Kunstgattung laufend neue Häuser entstehen: in Hamburg, in Paris, in Bochum, in Krakau etwa. Während andere wie in Zürich, Basel oder Bern tiefgreifend renoviert werden.
In der Tonhalle Zürich zum Beispiel herrschte während der vergangenen gut vier Wochen regstes Kommen und Gehen. Ein erster Überblick. Zunächst gab es ein Gipfeltreffen im Bereich der alten Musik, erschienen doch mehr oder weniger kurz hintereinander so prominente Dirigenten wie John Eliot Gardiner, René Jacobs und Thomas Hengelbrock mit ihren Ensembles. Worauf Bernard Haitink ans Pult des Tonhalle-Orchesters trat. Während eine Woche später Paavo Järvi erschien und eine derart blendend aussehende Visitenkarte auf den Tisch legte, dass er flugs zum Papabile im Rennen um die Nachfolge des glücklosen Lionel Bringuier an der Spitze des Tonhalle-Orchesters ernannt wurde.
Ganz unverständlich ist das nicht. Sogar für das Orchester nicht. Zwar hatte es laut nach Bringuier gerufen, hatte es mit Feuereifer die ersten Konzerte unter seiner Leitung vor gut zwei Jahren mitgetragen; wer damals vor dem Strohfeuer warnte und auf künstlerische Defizite hinwies, wurde ewiggestriger Haltung geziehen. Rascher als erwartet war die Luft jedoch draussen, verschlechterte sich die Beziehung zwischen dem Orchester und seinem Chefdirigenten. Nach zwei Spielzeiten wurde diesen Sommer bekannt, dass der Vertrag mit Lionel Bringuier nicht über 2018 hinaus verlängert werde. Kaum hatte man begonnen, war man schon wieder auf der Suche. Diesmal unter veränderten Voraussetzungen; die Fehler, die bei der Bestellung Bringuiers begangen wurden, sollen nicht wiederholt werden.
Paavo Järvi – ruhige Souveränität und klares Wollen
So steht jetzt jeder Gastdirigent unter erhöhter Beobachtung. Für Paavo Järvi gilt das besonders, weil er von Alter, Profil und Notorietät her gewiss passen würde. Er präsentierte sich mit einem Abend, der Züge des Massstäblichen trug. Schon allein im Programm. Im ersten Teil das Cellokonzert von Sergej Prokofjew und darauf, allerdings nur am dritten der drei Abende, «Signs, Games and Messages» von György Kurtág, nach der Pause die dritte Sinfonie Robert Schumanns, die «Rheinische» in Es-dur. Wenige Menschen im Grossen Saal der Zürcher Tonhalle dürften Prokofjews Cellokonzert von 1938 je live gehört haben; für das Tonhalle-Orchester war es offenbar eine Erstaufführung. Das Werk wird äusserst selten gespielt – auch weil es für eine ästhetische Auffassung steht, die obsolet geworden ist. Im westlichen Ausland berühmt geworden, war Prokofjew 1936 nach Russland zurückgekehrt und hatte sich dort hochoffiziell der Doktrin der sozialistischen Realismus unterworfen. Sein Cellokonzert klingt danach, es ist ein schwer verdaulicher Brocken voller Ecken und Kanten, dem ich persönlich nie mehr zu begegnen brauche. Steven Isserlis hat sich dieser Partitur verschrieben, er hat das Werk vor drei Jahren zusammen mit Paavo Järvi und dem hr-Sinfonieorchester Frankfurt auf CD aufgenommen und jetzt auch in Zürich vorgestellt.
Schumanns Dritte wirkte danach wie ein Akt der Befreiung. Hell und frisch das Klangbild, dabei kräftig zupackend, aber nirgends laut, grob oder unstrukturiert. Im Gegenteil, Järvi schichtete den Satz äusserst sorgfältig und stellte hochgradig Transparenz her, er liess Nebenstimmen ins Spiel kommen und Gegenakzente setzen – das alles auf der Basis geerdeter und klar erkennbarer persönlicher Auffassungen. Schumann klang hier grundlegend anders als bei David Zinman, extravertiert, lebenszugewandt, ja optimistisch – der strahlende Ton, mit dem die Hörner immer wieder ihre Signale setzten, mag davon zeugen. Nirgends stellte sich freilich je Bombast oder Härte ein, das verhinderte die Genauigkeit im Austarieren der Instrumentalfarben, etwa in der Abmischung von Bläsern und Streichern im dritten Satz und mehr noch im vierten, wo die Ersten Geigen ohne jedes Vibrato silberhellen Seidenglanz erzeugten. Wie dort am Ende der Choral mit voller, gerundeter Kraft eintrat, wurde auch klar, warum Järvi die grosse Besetzung mit sechzehn Ersten Geigen gewählt hatte.
Bei all dem stand der Dirigent in einer Ruhe vor dem Orchester, die Souveränität anzeigte; gleichzeitig setzte er mit wenigen Energieschüben zumal der linken Hand seine Schwerpunkte. Järvi braucht das Licht nicht auf sich zu lenken, es strahlt von selbst. Analytischer Geist und Klangsinn, Erfahrung und Spontaneität – da liegt sein Geheimnis. Seine Sporen hat er längst abverdient, hauptsächlich im Konzertsaal. 1962 im estnischen Tallin als erster von zwei dirigierenden Söhnen des Dirigenten Neeme Järvi geboren, war er Chefdirigent beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt oder beim Orchestre de Paris; in dieser Funktion wirkt er derzeit beim NHK-Orchester in Tokio – und vor allem bei der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, die in den zwölf Jahren mit ihm zu internationaler Reputation gekommen ist. Er weiss, was er will, und bringt es unaufgeregt an den Mann, an die Frau. Das Tonhalle-Orchester reagierte darauf mit gespannter Aufmerksamkeit; es gab zu erkennen, dass es, wenn ein Dirigent etwas von ihm will, durchaus zu geben in der Lage ist – und dass dieses Geben nicht gering ausfällt. Das ist, was bei Lionel Bringuier viel zu wenig geschieht, hier aber ganz unverkrampft eingetreten ist.
Bernard Haitinks feuerfeste Gelassenheit
Wenn es darf, ist das Orchester in altgewohnter Höhe da. So war es auch beim Gastspiel Bernard Haitinks, der, mittlerweile 87 Jahre alt, Bruckners Neunte dirigierte. Ein ganz klein wenig erinnerte dieser Auftritt an die späten achtziger Jahre, als das Tonhalle-Orchester über wenig taugliche Chefdirigenten verfügte und oft unter seinem Niveau spielte. Damals kam Bernard Haitink nach Zürich, setzte Mahlers Erste an und liess das Orchester unvergesslich anders klingen. So ist es bei diesem Dirigenten. Mit Haitink am Pult nimmt jedes Orchester einen ganz eigenen Ton an – eben jenen, den nur Haitink zu erzielen vermag. Und das Tonhalle-Orchester Zürich gehört zu jenen Klangkörpern, die auf Haitinks Ausstrahlung besonders gut reagieren; nicht von ungefähr wird das Zürcher Orchester hie und da mit dem Concertgebouworkest Amsterdam, bei dem Haitink von 1961 bis 1988 als Chefdirigent wirkte, in Verbindung gebracht.
Anders als mit Paavo Järvi wird der Klang des Tonhalle-Orchesters mit Haitink leuchtend warm, ja von innen heraus glühend, offen in seinen Formanten und enorm geschmeidig. Das ist die Basis für Haitinks Blick auf Bruckner – einen Blick, der von einer tief empfundenen Menschlichkeit lebt. Die musikalischen Gestalten Bruckners bis hin zu dem riesigen, scharf dissonanten Akkord im Adagio, der in drei Anläufen seinen Höhepunkt erreicht, haben nichts Dröhnendes an sich; keine Spur von Machtausstrahlung geht von ihnen aus – auch wenn sie sich zu jenem kraftvollen Forte erheben, das sich der Organist Bruckner erträumt haben mag, von seinen Instrumenten aber nicht erhalten hat. Insofern steht Haitink, wiewohl älterer Generation, für ein jüngeres Bruckner-Bild ein; auch für ihn ist der Bruckner der Ringstrassen-Architektur, wie ihn etwa Eugen Jochum in seiner Weise so hervorragend gepflegt hat, Vergangenheit.
Darum erhalten im Kopfsatz die Triolen in dem auf das gerade Vier-Takt-Schema ausgerichteten Denken eine weiche Fügung. Darum entfalten in dem durchaus gemessen genommenen Scherzo die trocken absteigenden Viertel packende Energie, ohne dass Schneidendes oder gar Stampfendes ins Spiel käme. Und darum erhält das Adagio eine Grösse, die sich in dem ganz einfachen E-dur-Akkord der Blechbläser, in den drei Pizzicati der Streicher fallen, eine so vollkommene Erfüllung, dass man an einen fehlenden vierten Satz gar nicht mehr denken mag. Zutiefst bewegend war das wieder – nicht weniger bewegend als bei Haitinks Zürcher Aufführungen der Neunten Bruckners in den Jahren 2005 und 2010. Das Tonhalle-Orchester dankte es seinem heimlichen Ehrendirigenten mit jener Wärme, zu der es in seinen besten Momenten so einzigartig in der Lage ist.
Panorama der historischen Praxis
In den Wochen zuvor waren die Akzente von ganz anderer Seite gekommen, hatte die Aufmerksamkeit der historisch informierten Aufführungspraxis gegolten. Die Dirigenten John Eliot Gardiner (https://www.peterhagmann.com/?p=817), René Jacobs und Thomas Hengelbrock führten vor, dass diese Spielart der musikalischen Interpretation, die so reiche Innovation ins Musikleben gebracht hat, lange Zeit aber als dogmatisch, ja als ideologisch belastet galt, inzwischen eine beträchtliche Vielfalt an persönlichen Handschriften hervorgebracht hat. Und die Zürcher Tonhalle wurde wieder einmal hörbar zu jenem Zentrum der städtischen Musikkultur, das sie in den besten Momenten ihrer Saison sein kann. Übrigens einem durchaus schweizerisch, nämlich föderalistisch geprägten Zentrum, waren doch Gardiner und Hengelbrock Gäste des Tonhalle-Orchesters, während Jacobs von der Neuen Konzertreihe Zürich eingeladen war.
Thomas Hengelbrock kam mit dem von ihm gegründeten, ein Orchester und einen Chor umfassenden Balthasar-Neumann-Ensemble. Und mit einem Programm, das seinesgleichen sucht. Er stellte Vokalmusik von Felix Mendelssohn Bartholdy vor, die so gut wie nie aufgeführt wird. Werke, die das dreizehnjährige Wunderkind zeigen und einen Blick in das Todesjahr des im Alter von achtunddreissig Jahren verstorbenen Komponisten werfen lassen. Stücke auch, die von der Bedeutung des Chorgesangs im früheren 19. Jahrhundert berichten. Und nicht zuletzt Musik, anhand derer über die diffizile Religiosität ihres Komponisten nachgedacht werden kann – eines Komponisten, der einer jüdischen Familie entstammte, aber christlich getauft war, und der sich ebenso einem katholischen «Ave Maria» wie einer protestantischen Weihnachtskantate zuwenden konnte. Hengelbrock, der einen ganz ausgezeichneten Chor geformt hat, in diesen aber nicht so erstklassige Solisten inkorporiert, wie es Gardiner oder Philippe Herreweghe tun – Hengelbrock liess der wunderbaren, in ihrem blühenden musikalischen Satz unglaublich zu Herzen gehenden Musik Mendelssohns alle Gerechtigkeit angedeihen. Und das in einem Tonfall, der, auf alten Instrumenten und in tiefer Stimmung erzeugt, ebenso viel Gelassenheit wie Identifikation spüren liess.
Für René Jacobs, den RIAS-Kammerchor und das Freiburger Barockorchester gilt im Prinzip dasselbe. Jedenfalls im Falle der Harmoniemesse Joseph Haydns, einem enorm festlichen Stück Kirchenmusik, das in vollem Glanz daherkam und aus dem Quartett der Vokalsolisten Sophie Karthäuser (Sopran) und Marie-Claude Chappuis (Alt) besonders zur Geltung kommen liess. Etwas Unbehagen liess dagegen Mozarts «Requiem» zurück. Nicht wegen der Neufassung der fragmentarischen Partitur durch Pierre-Henri Dutron, die nur wenig an der Vervollständigung des Mozart-Zeitgenossen Franz Xaver Süssmayr veränderte. Stirnrunzeln löste vielmehr der Versuch des Dirigenten aus, Mozarts Stück aus dem geistlichen Kontext, dem es eben doch entstammt, herauszulösen und es zugleich von jenen Rezeptionsmomenten zu befreien, die sich ihm durch die Figur des am Wiener Hof so erfolgreichen Kontrahenten Antonio Salieri angelagert haben. Jacobs, so der Eindruck, wollte Mozarts «Requiem» einfach als ein unglaublich gut durchdachtes, hochvirtuoses Stück Musik vorstellen. Er wählte darum Tempi, welche die an der Aufführung beteiligten Kräfte enorm forderten (und deren sagenhaftes Können zeigten), die im Zuhörer bisweilen aber auch leichte Atemnot auslösten. Wirklich aufgegangen ist das nicht – so ist das Leben.
Tief in die Weite erstreckt sich der musikalische Garten, den man in der Tonhalle Zürich betreten kann. Da und dort gibt es Stellen, die etwas der Bewässerung bedürfen. Dass dieses kleine Paradies im Begriff sei, zur Steppe zu werden, davon kann freilich keine Rede sein.