Reduziert – und umso schärfer

«Liebesgesang», eine neue Oper von Georg Friedrich Haas auf ein Libretto von Händl Klaus, an den Bühnen Bern

 

Von Peter Hagmann

 

Robin Adams (Er) und Claude Eicheberger (Sie) im Liebesgesang / Bild Tanja Dorendorf, Bühnen Bern

Er ist einer, der die Welt der Kunstmusik gerne auf den Kopf stellt. Der österreichische Komponist Georg Friedrich Haas tut das immer wieder – immer wieder überraschend und immer wieder fruchtbar. Als im Jahre 2000 die FPÖ in die Regierung des ÖVP-Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel eintrat, komponierte er das mittlerweile legendäre Ensemblestück «In vain», das über längere Strecken in völliger Dunkelheit gespielt werden muss. Ein Jahrzehnt später trat er bei den Donaueschinger Musiktagen mit dem Konzert «Limited Approximations» in Erscheinung, bei dem sechs im Zwölfteltonabstand gestimmte Klaviere nach der Art von Streichern zu glissandieren schienen, während das Orchester in den Tonhöhen so festgefügt wirkte wie ein Klavier. Seine jüngste Grenzbegehung nun trägt den Titel «Liebesgesang» und ist eine Oper, von der nicht feststeht, ob es sich dabei um eine Oper handelt.

Das von den Bühnen Bern in Auftrag gegebene und jetzt aus der Taufe gehobene Stück, wie «Bluthaus» von 2011, «Thomas» von 2013 und «Koma» von 2016 in Zusammenarbeit mit dem Librettisten Händl Klaus entstanden, sieht zwei Partien vor, Sie und Er, mehr nicht. Mutterseelenallein steht das Paar über die neunzig Minuten Spieldauer im Rampenlicht, ein Orchester gibt es nicht und darum auch keinen Dirigenten, wie überhaupt jede instrumentale Mitwirkung ausgespart bleibt. Auch eine Bühne im eigentlichen Sinn fehlt. Im Stadttheater Bern, einem Logentheater nach italienischem Vorbild, hat der Ausstatter Rainer Sellmaier den Orchestergraben zugedeckt mit einer blendend weiss ausgestrichenen Wanne, in der das Paar von den Regisseuren Tobias Kratzer und Matthias Piro geführt wird – um nicht zu sagen: gehalten wird wie die Tiere im nahegelegenen Bärengraben. Das Parkett ist geschlossen, nur die höher gelegenen Sitzreihen stehen dem Publikum offen, denn nur von dort hat man Einblick in die weisse Wanne. Dafür ist auf der Bühne eine Empore mit zusätzlichen Sitzplätzen aufgebaut. Dort nimmt unter anderen Zuschauern eine Dame Platz, die einem nicht ganz unbekannt vorkommt.

Tatsächlich erhebt sich besagte Dame bald nach Beginn des Abends von ihrem Platz – es handelt sich bei ihr um Claude Eichenberger in der Partie der Sie. Über Treppenstufen und eine Leiter steigt sie hinab in die Wanne, wo Robin Adams als Er, ebenfalls ganz schwarz gekleidet, am Boden liegend mit entsetzlichen Lauten des Schmerzes und Verzweiflung auf sich aufmerksam gemacht hat. Schritt für Schritt erhellt sich die Lage – einen Zeitverlauf im eigentlichen Sinn ergibt sich im Werk von Händl Klaus und Georg Friedrich Haas nicht. «Liebesgesang» öffnet vielmehr einen in seiner Intimität und seiner Intensität erschreckenden, ja erschütternden Blick in eine Beziehung, die denkbar schweren Strapazen ausgesetzt ist. Sie habe ihm ein besonders schönes Zimmer zuteilen lassen, sie bringe ihm sein Lieblingsbrot mit, ausserdem ein Buch mit den schönsten seiner Tierbilder – Christian, sein Name kommt ganz beiläufig ins Spiel, ist ein Tierphotograph, der an einer Psychose leidet und in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt ist; Luz, so ruft Er seine Frau, ist zu Besuch gekommen.

Zu einem Besuch, der rasch implodiert. Sie wird von Ihm als eine Architektin vorgestellt, die ein Haus für die gemeinsame Zukunft oder eher für sich selbst gebaut hat. Und als eine selbstbewusste, doch keineswegs egozentrische Frau, deren Kinderwunsch einer Krebserkrankung zufolge nicht in Erfüllung gegangen ist. Er hingegen leidet an Verfolgungsängsten und Versagensgefühlen, die er geheimzuhalten versuchte, und so türmen sich die Vorwürfe bis zur Katastrophe auf. Die Katastrophe freilich ist, so nennen es das Libretto wie die Partitur, eine «rauschhafte Begegnung», in der sich das Paar in der Erinnerung an die vibrierende Körperlichkeit ihrer Anfänge findet. Danach löst sich alles auf, verlässt sie über Leitern und hinweg durch den Zuschauerraum das Krankenzimmer. Wohl für immer. Und stösst er am Ende einen markerschütternden Schrei aus.

Das alles wird in einer Drastik sondergleichen und zugleich einer ausgefeilten Künstlichkeit vorgeführt. Die von Händl Klaus im Libretto gepflegte Sprache lebt von einer kunstvollen, in ganz eigener Weise poetischen Verfremdung. Und Georg Friedrich Haas schöpft bei der Gestaltung der beiden Vokalpartien aus dem Vollen seiner mikrotonalen Erfahrung wie aus dem mutigen Ausgreifen in stimmliche Extrembereiche. Der Blick in die Partitur lässt die Frage aufkommen, wie denn all diese Töne, die um einen Sechstel- oder einen Achtelton modifiziert sind, wie auch die Momente an reinen Terzen und Quinten realisiert werden können. Der Komponist schreibt dazu im Vorwort: «Kein Dirigat. Freiheit. Selbstverantwortung». Claudia Chan, welche die musikalische Leitung des Abends versieht, war an der Vorbereitung der Produktion beteiligt, während der Vorstellung beschränkt sich ihre Aufgabe jedoch darauf, einem Inspizienten gleich jene Lichtsignale zu steuern, die für ein Minimum an Koordination sorgen. Alles andere ist der Darstellerin, dem Darsteller überlassen. Explizit weist die Partitur immer wieder darauf hin, Sie und Er sollten die Freiräume im Rahmen des ihnen Möglichen nutzen, das aber stets in enger Abstimmung aufeinander tun.

Das ist, so der Eindruck nach der Uraufführung, in der glücklichsten Weise gelungen. Entstanden ist ein Stück Musiktheater, das einen schwer trifft und nicht so rasch wieder loslässt. Der Verzicht auf das Gepränge, das die Oper zur Oper macht, und die Fokussierung auf die vokale Linie, zu der die Sprache des Librettos geworden ist, führen in ihrer Reinheit zu einer Verdichtung der Wahrnehmung, wie sie in dieser appellativen Art äusserst selten auftritt. Nicht zuletzt geht das auf die stupenden Leistungen von Claude Eichenberger und Robin Adams zurück, die singend, keuchend, stammelnd, schreiend ihr Letztes hergeben, die zudem über eine szenische Präsenz der Extraklasse verfügen und den ja nicht unbeträchtlichen Kubus des Berner Zuschauerraums bis in die hinterste Ritze mit Spannung erfüllen. Dass sich Georg Friedrich Haas in der von Ricordi verlegten Partitur immer wieder deutlich von Händl Klaus distanziert, dass zum Jubel des Schlussbeifalls nur der Komponist, nicht aber der Librettist vor den Vorhang trat, darf zum Menschlichen, Allzumenschlichen dieser singulären Produktion gezählt werden.

Heinz Holligers Traumoper

Uraufführung von «Lunea» im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Der Dichter und seine Frauen: Heinz Holligers Oper «Lunea» in Zürich / Bild Paul Leclaire, Opernhaus Zürich

Was für ein wunderschönes Stück. Was für ein anregendes Stück. Ein Stück von heute. Eine Oper. Was heisst hier «Oper»? «Lunea» widerspricht ungefähr allem, was man gemeinhin mit Oper verbindet. Zu erleben ist vielmehr Musiktheater der dichtesten Art.

Dunkel ist’s. Rabenschwarz. Eine quadratische Öffnung lässt sich erahnen; sie nimmt Kontur an, wenn das Licht, das Franck Evin von oben hereinfallen lässt, den Blick freigibt auf die mit wenigen Strichen gezeichneten, sparsam bewegten, in einen silbernen Ton gefassten Bilder, die der Regisseur Andreas Homoki erdacht hat. Zu sehen sind Damen im Reifrock mit Schirm und Herren im Gehrock mit Zylinder – scharf charakterisieren die Kostüme von Klaus Bruns. Dazu hat der Bühnenbildner Frank Philipp Schlössmann hier einen Salontisch, dort ein Biedermeiersofa, bisweilen auch nur einen Sessel bereitgestellt. Mehr braucht es nicht, es spricht deutlich genug.

Mag sein, dass es so ausgesehen hat im Kopf des Nikolaus Lenau – des berühmten Dichters der Schumann-Zeit, dessen einzigartiger Ruf nicht zuletzt auf die zahlreichen Vertonungen seiner Verse zurückging. Immer wieder dieses Dunkel, immer wieder diese Erinnerungsfetzen, zum Beispiel an die diversen Frauen, denen der Dichter zugetan war, denen er aber doch nicht nahe kommen konnte. Und dann dieser Blitz, wohl ein Schlaganfall, der am 29. September 1844 den in geselliger Runde singenden Lenau traf, ihm die eine Hälfte des Gesichts lähmte und ihn auf eine Schleuderfahrt hinab in die Unterwelt des Wahnsinns trieb.

Ver-rückt war er, so sagten sie damals, so sagen wir heute. Auch Heinz Holliger sagt es – obwohl er für die geläufige Verbindung zwischen Wahnsinn und Genie wenig übrig hat. Wenn etwas Aussergewöhnliches entstehe, sei immer eine Spur Verrücktheit im Spiel; ohne diese Spur komme zum Beispiel ein Komponist nicht über das Niveau von Czerny hinaus. Es gibt genügend Beispiele in dieser Richtung, Heinz Holliger kennt sie. Dem im Turm eingesperrten Hölderlin galt seine Aufmerksamkeit im «Scardanelli-Zyklus», dem internierten Robert Walser in seiner 1998 in Zürich uraufgeführten Oper «Schneewittchen», dem Maler und Geiger Louis Soutter im Violinkonzert von 2002. Jetzt also Nikolaus Lenau, der 1850 im Alter von nur 48 Jahren in einer psychiatrischen Klinik bei Wien starb.

Den Dichter kannte Holliger schon lange. Dem Patienten begegnete er, als ihm vor Jahren Lenaus «Notizbuch aus Winnenthal» in die Hände fiel. In diesen Aufzeichnungen aus einer psychiatrischen Klinik bei Stuttgart finden sich Lebens-Sätze, die in Form wie Inhalt weit über die Gedichte Lenaus hinausgehen. An ihnen hat sich Holligers Phantasie entzündet; einige hat er zur Grundlage für einen Vokalzyklus mit dem Titel «Lunea» gemacht. Die 23 Sätze für Bariton und Klavier oder 23 Instrumentalisten von 2013 bilden das Gerüst von «Lunea», der abendfüllenden Oper Holligers, die vom Opernhaus Zürich bestellt und jetzt zu bejubelter Uraufführung gebracht worden ist. Händl Klaus, der ebenso versierte wie phantasiebegabte Librettist, hat die Leitsätze neu angeordnet und durch weitere Satzfragmente ergänzt. In einem Akt berührender Empathie hat sich der Librettist in das Leben und das Schreiben Lenaus eingegraben; jedes Wort im Textbuch zu «Lunea» stammt von Lenau.

Eine Geschichte wird nicht erzählt. Jenseits jeder Logik, vielmehr nach der Art eines Traums werden Situationen evoziert, die sich mit dem Leben Lenaus in Verbindung bringen lassen. Einige seiner Frauen ziehen vorbei, etwa die verheiratete Sophie von Löwenthal, die Lenau besitzen, aber nicht haben wollte, die manisch verehrte Mutter oder der unverbrüchlich treue Schwager Anton Schurz. Das fügt sich in Zürich zu einem Bilderbogen, der durch eine schwarze Wand gegliedert wird. Formal bestimmend ist dabei das Verfahren der Symmetrie, wie es sich schon im Werktitel, einem Anagramm des Dichter-Namens, niederschlägt. Ihren Ursprung findet diese Idee im Wirken des Psychiaters und Schriftstellers Justinus Kerner, eines Freundes von Lenau, der Tintenkleckse auf einem Papier durch dessen Faltung verdoppelt hat (was ein knappes Jahrhundert später im Rorschachtest wiederaufgenommen wurde). Ab der Mitte der Oper läuft vieles rückwärts, werden auch Schlüsselworte in ihre buchstabengetreue Umkehrung gesetzt. Und die teilende Wand, die in der ersten Hälfte des Abends von links über die Szene fährt, nimmt ihren Weg im zweiten von rechts. Selbst die Logik der Zeit, so Holliger, sollte in seiner Oper aufgehoben sein.

Als Rezipient wird man durch das Stück in eine Art Schwebezustand versetzt, was die Musik in ihrer Weise nachhaltig unterstützt. Schon allein durch ihre Langsamkeit, die der Komponist am Dirigentenpult mit einer Radikalität sondergleichen realisierte. Vor allem aber fesselt die Partitur durch den Reichtum ihrer Assoziationen. Holligers Musik, so enigmatisch sie in einem ersten Höreindruck erscheinen mag, wirkt in ihrer Weise doch sehr beredt, und das auf vielen Ebenen, strukturell wie klanglich. Manche Einzelheit der musikalischen Formung reflektiert das Leben Lenaus (oder jenes des Komponisten). Und durch die Verwendung tradierter Modelle wie der barocken Floskel des passus duriusculus, des Abstiegs in Halbtönen als Ausdruck höchsten Schmerzes, werden mit kleinen Zeichen grosse Wirkungen erzielt. Das alles in einem äusserst delikaten Klangbild. Leise, farbenreich und äusserst vielgestaltig kommt die Musik daher; sie fordert höchste Aufmerksamkeit und belohnt den Zuhörer durch eine Sinnlichkeit, wie sie sich in der neuen Musik nicht von selbst versteht. Ein Spätwerk ist Holligers «Lunea», getragen von in langen Jahren gereiftem Handwerk, belebt durch nicht versiegende Inspiration, hochgetrieben bis zum Manierismus. Eben: überaus anregend und wunderschön.

Der Regisseur Andreas Homoki und seine Mitstreiter haben absolut bezwingend, um nicht zu sagen: genau richtig auf die Partitur reagiert, nämlich musikalisch. Wie der Komponist und sein Librettist arbeiten sie mit Assonanzen und Andeutungen, konkret in der Erscheinung und abstrakt in der Bedeutung. Und Christian Gerhaher in der Titelpartie ist darum eine Idealbesetzung, weil dieser Tage kein Sänger so ausgeprägt von der Sprache her denkt wie der deutsche Bariton mit seinem herrlich zeichnenden Timbre. Ebenbürtig stehen ihm Juliane Banse als Sophie von Löwenthal und Ivan Ludlow als Anton Schurz, aber auch Sarah Maria Sun und Annette Schönmüller zur Seite. Die von Raphael Immoos geleiteten Basler Madrigalisten und die 34 Mitglieder der Philharmonia Zürich tragen das Ihre zu einer Produktion bei, die von der ungebrochenen Gegenwärtigkeit des Musiktheaters zeugt.

Weitere Vorstellungen am 8., 13., 15., 18., 23. und 25. März 2018.