Sprühendes Leben im Konzert – beim Lucerne Festival
Von Peter Hagmann
Einen solchen Abend gibt es wohl nur an einem Festival – vielleicht gar nur am Lucerne Festival, wo das Mahler Chamber Orchestra, das Herzstück des Lucerne Festival Orchestra, in Residenz weilt und sich nicht nur flexibel einsetzen lässt, sondern sich auch neugierig dem Unerwarteten öffnet. Das Unerwartete war in diesem Fall die Begegnung mit dem Geiger und Dirigenten Roberto Gonzáles-Monjas, einem ganz und gar einzigartigen Musiker. Sei es, dass er als Konzertmeister bei der Accademia di Santa Cecilia in Rom die Sinfonische Dichtung «Ein Heldenleben» aufnimmt und dabei Richard Strauss’ Ironie freien Lauf lässt. Sei es, dass er beim Musikkollegium Winterthur, wo er demnächst das Amt des Chefdirigenten übernimmt, zusammen mit dem Pianisten Kit Armstrong die nicht leicht zu hörenden (und noch weniger leicht zu spielenden) Violinsonaten Wolfgang Amadeus Mozarts aufführt. Sei es, dass er mit dem kolumbianischen Jugendorchester Iberacademy Ludwig van Beethovens «Eroica» an die Grenzen der Intensität führt – und dass er das nicht mit dem Taktstock in der Hand, sondern als Konzertmeister tut.
Genau so trat Roberto Gonzáles-Monjas gemeinsam mit dem Mahler Chamber Orchestra im Luzerner KKL auf: mit einem überraschungsreichen, geschickt zusammengestellten Programm, mit hinreissenden Interpretationen und schlichtweg sensationellem Erfolg. Schon der Einstieg sorgte für gehörigen Effekt – denn «Le Cahos» aus der «Simphonie Nouvelle ‹Les Elemens›» von Jean-Féry Rebel, eines Zeitgenossen Johann Sebastian Bachs, hebt mit einem wüsten Cluster an, dem Sinnbild für die Ursuppe, aus der sich im weiteren Verlauf eine reizvolle Folge wohlgeordneter Kadenzen erhebt. Ganz ruhig entfaltete sich diese Musik für Streicher, hier durch ein Fagott und ein Cembalo ergänzt, zugleich aber bebte sie vor Spannung und Energie. Beides kam direkt aus dem Körper des 33-jährigen Konzertmeisters, der mit lustvoll animierender Ausstrahlung spielte. Für den Schlussakkord reckte er sich wie eine Feder aus der halben Hocke in die Höhe und zog den Klang unwiderstehlich auf den Schlusspunkt hin.
Von ähnlichen Voraussetzungen profitierte Joseph Haydns Sinfonie in f-Moll Hob. I:49 mit dem Beinamen «La passione». Als krasses Gegenstück zu dem Bild, das Riccardo Chailly mit dem Lucerne Festival Orchestra geboten hat (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 25.08.21), gab die Auslegung durch das von Gonzáles wiederum vom ersten Geigenpult aus geleitete Mahler Chamber Orchestra zu erkennen, in welchem Geist der Einfallsreichtum und der klangliche Reiz von Haydns Musik zum Leben erweckt werden kann – spannend und gegenwärtig war das von A bis Z. Klein besetzt das Orchester mit den solistischen Bläsern und den je sechs Ersten wie Zweiten Geigen, die links und rechts von dem in der Mitte positionierten Cembalo aufgestellt waren – und die wie alle Musikerinnen und Musiker, die es konnten, im Stehen spielten: als Solisten, die ein Orchester bildeten. Dass die Wahl der Instrumente nicht derart ausschlaggebend ist, wie es der Markt suggeriert, dass es viel eher um die stilistische Angemessenheit der Spielweise geht, es war mit Händen zu greifen. Zur stilistischen Angemessenheit gehört etwa die Mässigung im Einsatz des Vibratos; in der Sinfonie Haydns führte das zu einer Schärfung der Dissonanzen, die als Gewürz weitaus stärker einwirkten, als es sonst der Fall ist.
Der Mittelteil des Abends gehörte, zumindest partiell, Yuja Wang. Ihr frech ironisierendes Outfit entzückte, ihr so farb- wie ahnungsloses Spiel auf dem Steinway in Bachs Klavierkonzert in f-Moll BWV 1056 weniger. Blass blieb sie hier, etwas unsicher und mutlos – kein Wunder angesichts der Tatsache, dass dieses Repertoire nicht gerade zum Kern ihres Tuns gehört. Eines Tuns, das durchaus bewundert werden darf, wie ihre leitende Mitwirkung in dem praktisch nie aufs Programm gesetzten Capriccio für ausschliesslich mit der linken Hand gespieltes Klavier und Bläserensemble von Leoš Janáčcek erwies. Ein sehr persönliches, auch horrend anspruchsvolles Werk, das mit letzter Brillanz dargeboten wurde. Nicht weniger erfrischend das Bläseroktett von Igor Strawinsky, in dem vier Holzbläser mit vier Blechbläsern wetteifern. Auch das eine fulminante interpretatorische Leistung. Schade nur, dass die Namen der fürwahr solistisch auftretenden Orchestermitglieder (im Gegensatz zu jenen der Sponsoren…) im Programmheft nirgends verzeichnet waren.
Abende wie dieser erhalten ihre Relevanz auch dadurch, dass sie zur inhaltlichen Erkennbarkeit des Lucerne Festival beitragen. Gastspiele grosser Orchester mit grossen Dirigenten verfügen zweifellos über ihren ganz eigenen Reiz, nur finden sie in der Regel im Rahmen von Tourneen statt, sie tragen ihre Botschaft also nicht nur nach Luzern, sondern auch nach Salzburg, Berlin oder London. Im Gegensatz dazu gehören Auftritte wie jener mit dem Mahler Chamber Orchestra dem Luzerner Festival allein. Das gilt auch für zwei von Schweizer Orchestern bestrittene Programme, die Teil eines Luzerner Schumann-Zyklus bilden – und beide Konzerte sorgten für veritable Aha-Erlebnisse. Zusammen mit seinem Musikdirektor Paavo Järvi erschien das Tonhalle-Orchester Zürich mit einem reinen Schumann-Programm; es umfasste die «Genoveva»-Ouvertüre, das Violinkonzert (das Christian Tetzlaff mit hoher Identifikation und berührender Wärme in Klang setzte) und die Sinfonie Nr. 3 in Es-Dur, die «Rheinische». Blendend war dies Hauptstück gemeistert – in einem Klang, der die dunkle Grundfärbung des Zürcher Orchesters hören liess, sie gleichzeitig jedoch verband mit heller Transparenz, der ausserdem mit der Opulenz der grossen Besetzung mit vierzehn Ersten Geigen prunkte, ebenso sehr aber von geschmeidiger Beweglichkeit lebte. Eindrucksvoll die vorab durch die Arbeit an den Tempi erzielten Spannungssteigerungen, die ebenso eleganten wie markanten Akzentsetzungen, die Präsenz des hier feierlichen, dort enthusiastischen Tons, der diese Sinfonie kennzeichnet. Ein erstklassiges Gastspiel.
Wenige Abende zuvor hatte das Luzerner Sinfonieorchester das Wort ergriffen – mit nicht geringerem Erfolg. Ein Heimspiel, gewiss, aber auch ein besonderer Moment, denn am Pult stand zum ersten Mal in dieser Funktion Michael Sanderling als neuer Chefdirigent. Eine genau richtige Wahl darum, weil auf die zehn erfolgreichen Jahre mit dem Amerikaner James Gaffigan nun eine Phase im Zeichen deutscher Ästhetik folgen dürfte. Darauf wies schon Schumanns Cellokonzert hin, das Steven Isserlis äusserst extravagant anging. Sehr poetisch, ganz innerlich nahm er seinen Part, so als ob er ins Geflecht der Töne hineinzuhorchen und jedem musikalischen Ereignis nachzusinnen suchte. Das Orchester hielt sich zuverlässig an des Solisten Seite – kein Wunder angesichts der Tatsache, dass Michael Sanderling, von Haus aus Cellist, das Stück aus reicher eigener Erfahrung am Instrument kennt. Indessen mochte gerade das nicht nur von Vorteil sein, schienen des Dirigenten Vorstellungen von der Partitur doch etwas anders gelagert als jene des Solisten. Jedenfalls blieb das Orchester bisweilen eher im Mezzoforte stehen, wo Isserlis wagemutig in die Wunderwelt des ganz leisen Singens hinabstieg. Sehr sorgfältig in der klanglichen Balance und firm in der Aussage sodann Schumanns vierte Sinfonie in d-Moll, in der heute üblichen zweiten Fassung von 1851 und mit angeblichen Retuschen von Michael Sanderling – dies eine Mode von gestern, als man noch glaubte, Schumann habe nicht instrumentieren können. Schlank und zeichnend der Klang auch im Forte. Die Posaunen kräftig, aber jederzeit ins Ganze eingebunden, die Holzbläser in ganzer Farbenpracht präsent. Besondere Momente boten die ruhig ausgesungene Romanze des zweiten Satzes und der Übergang vom Scherzo ins Finale. Die Zusammenarbeit hat Potential, es war nicht zu überhören.