«Orphée et Euridice» als kopfstehender Albtraum

Glucks Oper in der Fassung von Berlioz und Marthaler in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Wenn der Lift in die Unterwelt hochfährt: «Orphée et Euridice» in Zürich / Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Ein Werk wie «Orphée et Euridice» von Christoph Willibald Gluck auf die Bühne zu bringen, erscheint geradewegs als ein Ding der Unmöglichkeit. Was Oper ausmacht – Intrige, Spannung, Personal in Haupt- und Nebenfunktionen –, es ist hier auf ein Minimum reduziert. 1762 in einer italienischen Fassung am Wiener Burgtheater aus der Taufe gehoben und 1774 in einer französischen Version an die Königliche Oper von Paris gebracht, steht das Stück für die Ideen der von Gluck gegen die in Künstlichkeit erstarrte Opera seria in Gang gesetzten Opernreform – für Einfachheit, Natürlichkeit, Wahrhaftigkeit. Nur drei Personen treten in Erscheinung, und die zwei Figuren neben dem Protagonisten sind nicht mehr als Impulsgeber. Eine umso wichtigere Rolle nehmen dafür Chor und Orchester ein.

Die Pariser Aufführung von 1774 brachte Gluck einen Erfolg enormen Ausmasses ein; das Stück blieb über Jahrzehnte hinweg im Spielplan. Als es 1859 in Paris wieder aufgeführt werden sollte, machte sich Hector Berlioz, ein glühender Anhänger Glucks, im Auftrag des Pariser Opernintendanten an die Arbeit und erstellte eine neue Fassung. Als Basis diente ihm die französische Version, er zog aber auch die italienische Ausgabe bei – und vor allem richtete er die Titelpartie, die in Wien von einem Kastraten, in Paris dagegen von einem hohen französischen Tenor gesungen worden war, für eine Altstimme ein, nämlich für die berühmte Sängerin Pauline Viardot-García. In dieser von mancher Seite kritisierten, aber mit einer grandiosen, auch dankbaren Hosenrolle versehenen Fassung kam «Orphée et Euridice» zu neuer Wirkung.

Zu einer Wirkung, die weniger im Aspekt des Gesamtkunstwerks als im rein Musikalischen verankert ist. Nummern wie das «Ballet des ombres heureuses» (der «Reigen seliger Geister» mit seinem Flötensolo) oder die Arie «J’ai perdu mon Euridice» (besser bekannt unter dem italienischen Incipit «Che farò senza Euridice») zeugen davon. In der soeben herausgebrachten Produktion von «Orphée et Euridice», die das Opernhaus Zürich der Pandemie wegen vor leeren Rängen zur Premiere gebracht hat und bis zum 5. April in seinem Streaming-Angebot zeigt, bestätigt sich das. Sowohl der von Ernst Raffelsberger vorbereitete Chor der Oper Zürich als auch die Philharmonia Zürich – beide Kollektive wie stets seit Beginn dieser Saison über Glasfaserkabel aus dem Probenraum am Kreuzplatz zugeschaltet – stellen sich kompromisslos in den Dienst dieser eingängigen und gerade darum so schwierigen Musik.

Entschieden befördert wird dies Engagement durch den Dirigenten Stefano Montanari, einen Repräsentanten der bekanntlich sehr umtriebigen italienischen Szene der historisch informierten Aufführungspraxis. Er lässt die Musik Glucks, wie sie von Berlioz gewandet ist, im Geist des 19. Jahrhunderts klingen: mit differenziert eingesetztem Vibrato und in einer klanglichen Transparenz, in der die Mittelstimmen zu pointiertem Leben finden. Zudem animiert er das Zürcher Opernorchester, das gibt schon die Ouvertüre zu verstehen, zu elegant federnder, energiegeladener Artikulation. Und nicht zuletzt arbeitet er die Farbtupfer, mit denen die Bläser den durchgehenden Streichklang bereichern, mit ebenso viel Sinn für den Effekt wie Sorgsamkeit heraus. Momente der gepflegten Langeweile, wie sie bei diesem Stück durchaus auftreten können, ergeben sich keine.

Dazu kommt nun aber: Nadezhda Karyazina, eine packende Darstellerin des Orphée. Mezzosopranistin sei die junge, in Moskau ausgebildete Sängerin. Das stimmt insofern, als sie ohne Mühe in die Höhe steigt, dort sicheren Halt findet und ausserdem eindrückliche Beweglichkeit vorführt. Vor allem aber vermag sie, bruchlos die Register überwindend, in geradezu bronzen klingende Tiefen zu steigen – ein betörender Stimmumfang. Auf dieser Basis gestaltet sie ihre Partie eindringlich, aber jederzeit so gezügelt, wie es der Musik des Opernreformators geziemt – ausser am Ende, wo Orphée seiner geliebten Euridice in herrischem Ton ansagt, wohin es jetzt des Wegs wäre. Die verstorbene, von der Unterwelt losgelassene Gattin wiederum wird von Chiara Skerath mit einem kraftvollen Sopran gegeben. Ganz anders dann aber Alice Duport-Percier, die als L’Amour, als der die Strippen ziehende Liebesgott, einen hellen, leichten, wunderbar zeichnenden Sopran einbringt. Sehr schön zusammengestellt, dieses Ensemble.

So weit, so gut – nur handelt es sich bei «Orphée et Euridice» hier um ein Stück Musiktheater, und das benötigt die Bühne. Entworfen hat sie, es ist so unverkennbar wie bei den Kostümen, Anna Viebrock. Zu sehen ist kein Styx, kein Hades, kein Elysium, vielmehr ein düsteres Foyer zu einem in zwei Räume geteilten Kaffeehaus, an dessen Tischen sich trefflich dösen, bisweilen aber auch auffahren lässt – und beides wird nach Massen getan, denn als Regisseur ist Christoph Marthaler am Werk. Genau der Richtige in dieser heiklen Lage. Der Chor darf nicht auf die Bühne, also bleibt Raum für eine Gruppe von Schauspielern mit dem krächzenden Graham F. Valentine an der Spitze; er ist der Einzige, der spricht: bedeutungsschwere Sätze zur Volatilität der Wahrnehmung am Anfang und solche über das Ende am Ende. Gezeigt werden dafür Mimik, Gesten und eine Vielzahl kurioser akrobatischer Bewegungen, das eine in Zeitlupe, das andere repetiert – wie es eben zur szenischen Handschrift Marthalers gehört. Und nicht unbedingt sinnstiftend gemeint ist. Immerhin, vieles unterstreicht das Klima eines lastenden Albtraums, etwa die quälenden Zuckungen der Akteure oder der unglaublich schwere Lavastein, auf dem Orphée seine Euridice erwartet. Wer mag, kann da an die zahlreichen Versuche der choreographischen Bewältigung von «Orphée et Euridice» denken.

Hin und wieder darf man sich aber auch ein wenig amüsieren in der ernsten, feierlichen Stimmung, in die man von Gluck und Berlioz versetzt wird. Zum Beispiel dann, wenn eine der beiden Schauspielerinnen, ich glaube, es sei Liliana Benini, mit einem Schlag nervös die obligate Handtasche durchsucht, ein Mikrophon zu Tage bringt und über dieses nach der Art des radiophonen Wunschkonzerts die Glückwünsche verkündet, die Bruno, Luigi und Goffredo ihrer Tante Francesca Nannini aus Bormio zu deren 75. Geburtstag übermitteln und dies mit Hilfe der Philharmonia Zürich und ihrem Dirigenten Stefano Montanari tun – worauf folgt: der «Reigen seliger Geister». Christoph Marthaler, wie er leibt und lebt.