«Enoch Arden», das Melodram von Richard Strauss, mit Bruno Ganz und Kirill Gerstein
Von Peter Hagmann
Das Kulturleben ist stillgelegt, Oper und Konzert sind ausgesetzt – versteht sich: Die Öffentlichkeit, welche die Musik braucht wie wir die Luft zum Atmen, ist derzeit besonders gefährlich. Musikkritik muss daher ausfallen. Indes, stimmt das? Oder stimmt es vielleicht nur bedingt? In unseren multimedial durchzogenen Tagen kennt die Musik ja auch andere Formen des Daseins, mediale eben. Darum bleibt «Mittwochs um zwölf» fürs erste in Betrieb: mit Home Music, nämlich mit Hinweisen auf empfehlenswerte Neuerscheinungen oder Schätze aus dem Archiv.
Er war Faust und Orest, Prometheus und Coriolan, Sigmund Freud und Hitler, er erschien als Heidis Alpöhi oder als Schweizer Bundespräsident und gab den Grossvater eines pianistischen Wunderkinds – Bruno Ganz war nicht nur ein grandioser Schauspieler, er übte sein Metier auch in einzigartiger Breite aus. Selbst in den Gefilden der klassischen Musik setzte er Zeichen. Befreundet mit Claudio Abbado, wirkte er in manchen der thematischen Projekte des Dirigenten bei den Berliner Philharmonikern mit. Unvergessen auch sein Auftritt 2012 in Luzern: als Egmont in der gleichnamigen Schauspielmusik Beethovens, die Abbado am Pult des Lucerne Festival Orchestra dirigierte. Für die Inszenierung von Mozarts «Zauberflöte» im Sommer 2018 bei den Salzburger Festspielen sollte er den grossväterlichen Erzähler geben, den sich die Regisseurin Lydia Steier gewünscht hatte – doch diesen Plan durchkreuzte der Krebs. Rasch musste Ganz aus den Vorbereitungen aussteigen und sich in Behandlung begeben. Am 16. Februar 2019 ereilte ihn der Tod.
So ist die Einspielung von Richard Strauss‘ Melodram «Enoch Arden», für die der Pianist Kirill Gerstein im Frühherbst 2016 mit Bruno Ganz ins Studio ging, zu einem Dokument der besonderen Art geworden. Der Text von Alfred Tennyson, der in deutscher Sprache nach der bekannten Übersetzung von Adolf Strodtmann gegeben wird, erzählt die schauerliche Geschichte von Annie und ihren beiden Liebhabern. Enoch, der eine, den sie heiratet, sucht das Glück für sich, seine Frau und seine Familie auf einer grossen Schiffsreise nach China und muss nach einem Jahrzehnt der Abwesenheit als verschollen gelten. Philipp, der andere, sieht angesichts von Annies Kummer und Not seine Stunde gekommen. Das Leben hellt sich wieder auf – doch dann erscheint Enoch mit einem Mal wieder; Opfer eines Schiffbruchs, hat er einsam auf einer Insel überlebt. Gealtert und von niemandem erkannt, muss er feststellen, dass ihm die Felle davongeschwommen sind. Er stirbt an gebrochenem Herzen.
Im Gegensatz zum Melodram üblicher Machart stehen Text und Musik über weite Strecken alternierend nebeneinander. Nur selten fügen sie sich zu jener eigenartigen Verbindung von Wort und Ton, die der eigenartigen Gattung ihr Gepräge verleiht. Die Musik zu «Enoch Arden» gehört vielleicht nicht zu den inspiriertesten Schöpfungen von Strauss, begegnet dem dichterischen Entwurf in hier illustrierender, dort aber mit ihren strukturellen Mitteln in klar und deutlich sprechender Weise. Das mildert das ungelenke Pathos des Textes, das die Geschichte in spätromantische Ferne rückt. Allein, wie Bruno Ganz mit dieser Gemengelage umgeht, mit welcher Sprech-Kunst er das Hölzerne ganz natürlich erscheinen und das Gestelzte zu unverstellter Berührung kommen lässt, das zeugt in gleichem Mass von Einsicht wie von Können. Anders als der Meistersprecher Gerd Westphal, auch anders als der zum Sprecher gewordene Sänger Dietrich Fischer-Dieskau fasst Bruno Ganz das Geschehen in einen ganz und gar unprätentiösen Erzählduktus. Gewiss ist sein Hochdeutsch bis ins Letzte gepflegt, es klingt aber nicht wie das mit einem Zug in Artifizielle versehene Bühnendeutsch. Bruno Ganz ist der Erzähler, der neben uns im Lehnstuhl sitzt und dort allein durch sein Sprechen scharf gezeichnete Bühnenszenen erstehen lässt.
Und Kirill Gerstein folgt ihm mit einem Klavierspiel, das von der Bewunderung für den grossen Künstler an seiner Seite lebt und daraus die Motivation gewinnt, der Musik von Strauss zu einer nicht unbedingt erwarteten Ehrenrettung zu verhelfen. «Enoch Arden» – hier wird’s Ereignis.
Richard Strauss / Alfred Tennyson: Enoch Arden. Bruno Ganz (Sprecher), Kirill Gerstein (Klavier). Myrios 025 (CD, Aufnahme 2016).