Peter Hagmann
Pralles Leben, gute Stimmung
In Konzertsälen von Luzern, Bern und St. Gallen
Und? Welches unter den Schweizer Orchestern ist nun das beste? Genau darum geht es hier nicht. Rankings sind ein merkantiles Instrument, kein künstlerisches. Auch das beste Orchester der Welt, es bleibe offen, um welches es sich handle, kann sehr gewöhnlich klingen. Und im Gegenzug kann ein als mittelmässig eingestufter Klangkörper, woher er auch stamme, zu allerprächtigsten Ergebnissen kommen. Wichtiger als die Position in der fragwürdigen Rangliste ist die Vielfalt – die allen Unkenrufen zum Trotz nach wie vor besteht.
Im internationalen Umfeld ohnehin, aber auch und gerade in der Schweiz mit ihrer dezentralen, föderalistischen Struktur. Hier gibt es in nächster Nachbarschaft nebeneinander Orchester, die allesamt ihr Profil, ihre Identität, ihre Lebendigkeit haben. Und natürlich auch ihre Probleme, versteht sich. Winterthur zum Beispiel leistet sich sein eigenes Orchester, obwohl die Stadt nur gut zwanzig Kilometer von Zürich mit seinem Tonhalle-Orchester entfernt ist. Aber das Musikkollegium Winterthur ist ausgezeichnet verankert in seiner Stadt, und wenn mit Thomas Zehetmair demnächst ein interessanter Chefdirigent ans Pult tritt, könnte es künstlerisch wieder schärfere Kontur finden.
Ein Busoni-Schwerpunkt
Was mit einem Orchester geschehen kann, wenn die Chemie stimmt, zeigt das Beispiel Luzern. Die Eröffnung des KKL mit seinem so besonderen Konzertsaal und das Wirken von Jonathan Nott als Chefdirigent hat das Luzerner Sinfonieorchester in raschen Schritten an einen anderen Ort gebracht. Inzwischen, und dies seit Anfang 2010, ist der 1979 geborene New Yorker James Gaffigan als Chefdirigent tätig, was eine glückliche Fügung darstellt; er hat den von Jonathan Nott ausgelegten Faden aufgenommen und die Formation erfreulich weitergebracht. Dazu kommt mit Numa Bischof, der dem Orchester seit 2004 als Intendant verbunden ist, ein Intendant, der bei weitem nicht nur den Alltag regelt. Dank geschickter Akquisition privater Mittel konnte er den Bestand des Orchesters auf rund siebzig Musiker erhöhen. Selber Musiker, betreut er auch aktiv, ideenreich und mit Sinn für dramaturgische Zusammenhänge die Programmgestaltung. So bleibt Luzern auch ausserhalb des Lucerne Festival musikalisch hochattraktiv.
Eben erst hat es sich wieder bestätigt. Auf dem Programm der jüngsten Konzertserie – die Abende des Luzerner Sinfonieorchesters in dem mit 1800 Plätzen versehenen Konzertsaal des KKL werden zwei Mal bei guter Besetzung durchgeführt – stand nichts Geringeres als das Klavierkonzert von Ferruccio Busoni. Dies im Rahmen eines Busoni-Schwerpunkts, der das so gut wie vergessene Schaffen des grossen Pianisten, Komponisten und Musiktheoretikers an der Wende zwischen Spätromantik und Moderne neu ins Licht rückt. Wer einmal im Leben Busonis Klavierkonzert live hören konnte, darf sich glücklich schätzen, denn kaum jemand wagt sich an dieses monumentale, fünf Viertelstunden dauernde Werk, in dessen fünftem und letztem Satz gar ein Männerchor dazutritt. Und dessen Klavierpart mit schrecklichsten Schwierigkeiten aufwartet, dabei aber über weite Strecken ganz in den Orchesterklang eingebunden ist.
Gerade das, die obligate Anlage der Solostimme, ist in Luzern mit Gewinn unterlaufen worden. Dies mit Unterstützung von Kun Woo Paik, des bald siebzigjährigen Pianisten aus Seoul, der sich en Klippen entspannt näherte und ebenso energisch wie geschmackvoll auf seine Rolle als Solist pochte. James Gaffigan liess das zu, den das Luzerner Sinfonieorchester hatte noch ausreichend Gelegenheit, seine Qualitäten zu zeigen. Zu dem geschmeidigen Gesamtklang, wie er für Gaffigan kennzeichnend ist, gehören leuchtende Holzbläser und ein Blech von samtener Kraft – und das erlaubte dem Dirigenten, das Kreisende, die gründerzeitliche Selbstgewissheit und die verschmitzten Stilzitate der Partitur nach Massen auszukosten. An Mahler, mit dem Busoni gut befreundet war, dachte man eher selten, um so mehr aber im Finale, wo die vorzüglichen Männerstimmen des Ensemble Corund und des Luzerner Chors «Männer molto cantabile» den zweiten Teil von Mahlers Achters in Erinnerung riefen. Eine grandiose Begegnung.
Bruckners «Romantische» – ganz modern
Eine Stunde Fahrt durchs Entlebuch und durchs Emmental – und schon ist man in Bern. Wo seit Herbst 2010, und seit 2012 unter dem Dach von «Konzert Theater Bern», der 1948 geborene Schweizer Mario Venzago und das Berner Symphonieorchesters am Werk sind. Ebenfalls sehr erfolgreich, wie die Besuche in dem 1908 eröffneten Kulturcasino noch und noch erweisen. An diesem Abend jedenfalls ist die Stimmung in dem hellen Konzertsaal mit seinen knapp 1300 Plätzen wieder ausgezeichnet, und das zirka hundert Positionen umfassende Orchester geht fabelhaft mit – und spendet seinem Chefdirigenten am Ende einen herzlichen Sonderbeifall. Es ist auch ein spezieller Abend, ein Abenteuer-Abend. Das Abenteuer heisst: Bruckners Vierte.
Zwischen 2010 und 2014 hat Mario Venzago die zehn Sinfonien Anton Bruckners, die neun bekannten plus die von Bruckner verworfene Nullte, für das deutsche Label cpo auf CD aufgenommen. Dies allerdings nicht mit ein und demselben Orchester, wie es üblich ist, sondern mit verschiedenen Klangkörpern – mit dem Berner Symphonieorchester natürlich, aber auch, besonders erstaunlich, mit der Tapiola Sinfonietta, einem Kammerorchester, mit dem er zum Abschluss der Serie die kontrapunktisch angelegte Fünfte erarbeitet hat. Das entspricht Venzagos Ansatz, der in dieser Musik das Heilige hört, das man in ihr hören kann, aber ein anderes Heiliges als die Mehrheit der Dirigenten. Interpret im besten Sinne des Wortes, setzt Venzago auf klangliche Verschlankung und Durchhörbarkeit statt auf Wucht und Pathos, auf den Spaltklang eher als auf den Mischklang, auf Flexibilität in der Wahl der Tempi anstelle des gleichmässigen Durchziehens. Von all dem ist zu erfahren in einem stimmungsvollen, informativen Dokumentarfilm von Laurent Jaquet mit dem Titel «Venzagos Bruckner»; er kommt dieser Tage ins Kino.
In Bern hat Venzago nun die Vierte in der üblicherweise gespielten Fassung von 1878/80 vorgestellt; 2010, zu Beginn seines Bruckner-Zyklus‘, hat er sie mit dem Sinfonieorchester Basel eingespielt. Erstaunlich, dass in dieser Aufführung nun doch ein verhältnismässig hoher Schallpegel herrschte. Auf den äusserst leisen Streicherteppich zu Beginn plazierte das Solo-Horn seinen Quint-Ruf fast erschreckend laut – vielleicht war hier die Sicherheit des Einsatzes wichtiger als das aus weiter Ferne kommende Piano. Überhaupt trug das Blech, von exzellenter Qualität, ziemlich massiv auf, der Dirigent musste die Posaunisten, die lustvoll bei der Sache waren, in jedem Satz mehrmals zur Zurückhaltung ermahnen. Ohne viel Erfolg übrigens, weshalb das Fortissimo eine Schärfe erhielt, die an die alten Aufnahmen mit Eugen Jochum erinnerte. Ob das mit dem Live-Charakter zusammenhing? Die Aufnahme aus Basel klingt doch merklich anders.
Es kann aber auch Absicht sein. Für Mario Venzago, so der Eindruck an diesem Abend, ist Bruckners Vierte nicht die «Romantische», wie sie der Komponist selber benannt hat, sondern vielmehr die «Moderne». Allerdings nicht in dem Sinn, dass er das Parataktische, das Nebeneinanderstehen, in der musikalischen Entwicklung heraushöbe. Eher geht es ihm um das Trennen und das Pointieren der instrumentalen Farben, die als Einzelne aus dem Geschehen heraustreten und Einzelne bleiben, auch wenn sie sich im Tutti zu einem Ganzen fügen. Eine bedeutende Rolle spielt dabei der Verzicht auf das durchgängige Vibrato, das Bruckner, wie Venzago sehr richtig bemerkt, noch nicht gekannt hat. Das Vibrato wird vielmehr, wie in der alten Musik, zur Steigerung des Ausdrucks eingesetzt. Das führt zu überraschenden Klangmomenten, etwa dann, wenn die Bratschen in den Vordergrund treten und fast so klingen, als wären sie von Klarinetten begleitet. Die (nicht von allen Musikern gleichermassen mitgetragene) Reduktion des Vibratos erzeugt aber auch eine gewisse Härte, denn weder sind die Instrumente dafür eingerichtet noch die Instrumentalisten daran gewöhnt. Wohlfühl-Bruckner hat sich hier nicht ergeben, dafür eine sehr persönliche, äusserst anregende Neubeleuchtung eines altbekannten Stücks.
Natürlichkeit des Musizierens
Dabei sei nichts gesagt gegen das Wohlgefühl, schon gar nicht bei Orchestermusik, vor allem wenn sie so dargeboten wird, wie es, wieder zweihundert Kilometer weiter östlich von Bern, beim Sinfonieorchester St. Gallen geschieht. Seit 2012 steht dort der Niederländer Otto Tausk als Chefdirigent am Pult. Der Habitus des durch einen Frack verkleideten Waldschratts, den Tausk liebevoll pflegt, lenkt ab von der Tatsache, dass in der Tonhalle St. Gallen, einem wunderbaren Jugendstil-Bau von 1909, exzellent musiziert wird. Das wie in Luzern mit rund siebzig Musikern besetzte Orchester lässt einen warmen, sorgsam abgemischten Gesamtklang hören, in dem die Hörner und die Holzbläser besonders auffallen. Und zusammen mit Otto Tausk hat es eine Natürlichkeit und eine Spontaneität des Musizierens ausgebildet, die den akustisch nicht einfachen Saal mit seinen knapp 900 Sitzplätzen, ja das Haus insgesamt ausgesprochen freundlich beleben. Kein Wunder, bleiben nach Konzertschluss nicht wenige Zuhörer im Foyer bei einem Glas Wein zusammen.
Zur Eröffnung «Die Waldtaube», eine kaum je gespielte Sinfonische Dichtung von Antonín Dvořák. Anders als Mario Venzago, der die Musik durch die Nuancierung des Tempos zum Reden zu bringen sucht, bleibt Tausk streng im Schlag. Er vermeidet damit romantischen Überschwang und vertraut darauf, dass die Musik Dvořáks schon selber zu erzählen wisse. Das tritt auch ein, allerdings nicht ohne das Gefühl, dass die Sache hie und da etwas stehenbleibe. Mehr Emphase legen das Orchester und sein Dirigent bei den Vier letzten Liedern von Richard Strauss an den Tag, doch müssen sie sich hier erst recht zügeln, sind diese Orchesterlieder doch so üppig gesetzt, dass die Singstimme leicht in Bedrängnis gerät – bei Malin Hartelius, die an diesem Abend etwas verkrampft wirkte, war das der Fall. Blendend aber, nämlich aus einem Guss und in einem alle vier Sätze umfassenden Spannungsbogen, die dritte Sinfonie von Johannes Brahms, F-dur, deren Aufführung von der in den letzten Jahren bewundernswert gestiegenen orchestralen Agilität lebte. Auch hier liess Orchester am Ende seinen Dirigenten hochleben.
Branchenkenner glauben, dass das Konzert bald an sich selber gestorben sein werde. Und Kaffeesatzleser neoliberaler Herkunft pflegen zu betonen, dass die auf Kleinräumigkeit beruhende orchestrale Vielfalt der Schweiz aus pekuniären Gründen à la longue nicht zu halten sein werde. Vielleicht sind die pekuniären aber nicht die einzigen Gründe, die man hier ins Feld führen kann. Die kleine Tour de Suisse von Luzern über Bern nach St. Gallen liess erleben, auf welch eindrucksvollem Niveau die Orchester wirken und wie sehr sie damit ihre Zuhörer in Bann schlagen. Das ist ein kultureller Mehrwert, der keinesfalls aus der Hand gegeben werden darf.