Hoffnungsschimmer?

Rafael Payare und Vilde Frang zu Gast beim Tonhalle-Orchester Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Er verkörpert Hoffnungen, wie sie El Sistema ausstrahlt, das venezolanische Netzwerk mit klassischer Musik, aus dem er hervorgegangen ist. Es sind Hoffnungen auf neues Leben im angeblich verkrusteten Klassik-Betrieb: auf neue Energie in der Interpretation des hergebrachten Repertoires und auf eine Lockerung der Gebräuche in der äusseren Form des Konzerts. In seiner äusseren Erscheinung mag Rafael Payare, der demnächst vierzigjährige venezolanische Dirigent, solchen Hoffnungen Nahrung geben. Wieviel Erneuerung in der Sache selbst, im Musikalischen, von ihm ausgeht, das liess sein Auftritt beim Tonhalle-Orchester Zürich dagegen offen.

Das Orchester selbst zeigte sich bei diesem Gastspiel von denkbar aufgeräumter Seite. Hellwach in der Reaktion, kernig in der Attacke und leuchtend im Klang ging es die Suite aus Béla Bartóks Ballett «Der wunderbare Mandarin» an. Dass das Stück dennoch zu oft in orgiastischen Lärm auswuchs, geht weniger auf die Musiker als auf den Dirigenten zurück, der die klangliche Schärfe der Partitur zu wenig im Griff hatte – vielleicht auch eine Frage der Erfahrung. Natürlich fehlt es bei diesem Werk Bartóks nicht an Extraversion und Zuspitzung; auf der anderen Seite handelt es sich aber doch immer noch um Musik, um Kunst – um artifiziellen Lärm, nicht um wirklichen. Fragen liess auch die Darbietung von Antonín Dvořáks Sinfonie Nr. 7 in d-moll offen. Das Klima des Stücks traf Payare sehr überzeugend. Um es metaphorisch auszudrücken: Es herrschte heller Sonnenschein, Munterkeit, Fröhlichkeit. Aber auch eine Art Äusserlichkeit, die zu den Klischees rund um die musikalische Physiognomie Dvořáks gehört. Weniger auf Vitalität allein, mehr auf Ausleuchtung im Inneren der Partitur ausgerichtet, strahlt diese Musik ganz anders.

Den emotionalen Höhepunkt des Abends bot das Violinkonzert Nr. 1 in a-moll von Dmitri Schostakowitsch – dies dank überragenden Präsentation durch die Solistin Vilde Frang. Die 33-jährige Norwegerin lässt sich restlos auf die Musik und ihre inneren Werte ein, daraus gewinnt sie Ausstrahlung und Überzeugungskraft. Wie sie im Kopfsatz die Töne zieht und ihnen dadurch Kraft verleiht, ist schon grossartig; Erschütterung löst jedoch ihre Identifikation mit dem Notentext und den in ihm verborgenen Botschaften aus. Dabei bleibt sie klanglich jederzeit nobel, kontrolliert und frei von Überdruck – ihr Umgang mit dem Vibrato spricht diesbezüglich Bände. Das gilt auch für die Groteske des zweiten Satzes, der sie nichts an Schärfe schuldig blieb. Tief bewegend die Passacaglia des dritten Satzes, ein immenser Klagegesang, der in eine enorme Kadenz mündet. Wenn es Hoffnungsschimmer braucht für die klassische Musik, dann ist es eine Künstlerin wie Vilde Frang, die hierzu Licht beisteuert.

Mozarts Violinkonzerte

 

Peter Hagmann

Das Schwere am Leichten

Vilde Frang, Christian Tetzlaff und Frank Peter Zimmermann spielen Mozart

 

Zeiten kommen und gehen, auch in der klassischen Musik – das macht ihr Leben aus. Die Violinkonzerte Wolfgang Amadeus Mozarts (und mit ihnen die Sinfonia concertante für Violine, Viola und Orchester in Es-dur, KV 364) sprechen davon. Sie im philharmonischen Gewand zu spielen, wie es etwa Herbert von Karajan 1978 mit der noch blutjungen Anne-Sophie Mutter getan hat, ist heute obsolet. Nur die Wiener Philharmoniker als die Gralshüter des Vergangenen wagen es noch. Sie taten es im Sommer 2014 beim Lucerne Festival, zusammen mit dem Konzertmeister Rainer Küchl und dem Solo-Bratscher Heinrich Koll, am Dirigentenpult begleitet von Gustavo Dudamel – ein gespenstischer Moment «à la recherche du temps perdu».

Beim Musikkollegium Winterthur

Selbst ein so ausgeprägt, aber auch bewusst der Tradition verbundener Geiger wie Frank Peter Zimmermann hält fest, dass er Mozarts Violinkonzerte keinesfalls mehr so spielen könne, wie er es in seinen Aufnahmen von 1984 (mit dem Württembergischen Kammerorchester und dem Dirigenten Jörg Faerber) und von 1995 (mit Wolfgang Sawallisch am Pult der Berliner Philharmoniker) getan habe. Tatsächlich herrscht in der Einspielung der Konzerte Nr. 1, 3 und 4, die er im letzten Jahr vorgelegt hat (Hänssler 98.039), ein neuer Ton: leichter in der Substanz und zugleich griffiger in der Artikulation. Die historisch informierte Aufführungspraxis hat ja manches an den Tag gebracht, was heute auch von Musikern, die nicht explizit für diese Richtung stehen, ganz selbstverständlich berücksichtigt wird. Der sorgsame Umgang mit dem Vibrato, das nicht mehr als Grundlage der Tonbildung eingesetzt, sondern wieder als Verzierung verstanden wird, mag davon zeugen.

Die Verschlankung des Tons hat natürlich auch mit der Besetzungsstärke des begleitenden Orchesters zu tun. Heute werden die Violinkonzerte Mozarts im Prinzip als Kammermusik angesehen – dies im Gegensatz zu den Klavierkonzerten, die schon von der Gattung her mehr auf Repräsentanz als auf Intimität hin angelegt sind. Beispiel dafür ist das Projekt des Musikkollegiums Winterthur, das die fünf Geigenkonzerte und die Sinfonia concertante mit Christian Tetzlaff erarbeitet hat – mit ihm allein, ohne Dirigenten. Ein interessanter, auch mutiger Ansatz, der durchaus die Zeichen der Zeit aufnimmt: Das Zürcher Kammerorchester, das Kammerorchester Basel, das Freiburger Kammerorchester, aber auch grösser besetzte Klangkörper wie die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, Les Dissonances aus Dijon oder Spira mirabilis verzichten bisweilen auf den Dirigenten.

Allein, auch das braucht Übung, das war beim Musikkollegium Winterthur zu hören. Fehlt der Dirigent, nicht nur als Koordinator, sondern auch als Energiezentrum, sind die Orchestermusiker in einer besonderen Weise gefordert, einer anderen als unter der Leitung eines Dirigenten. Der Konzertmeister – leider werden im Programmheft die Namen der an den jeweiligen Konzerten beteiligten Orchestermitglieder im Gegensatz zu jenen der Gönner nicht genannt – hielt die Fäden energisch in der Hand, die beiden Hörner und die beiden Oboen setzten leuchtkräftige Farblichter – und dennoch fehlte den Interpretation so etwas wie eine Mitte.

Das vielleicht um so mehr, als Christian Tetzlaff doch eher als Solist und nicht so sehr Primgeiger in Erscheinung trat. Ausserdem hinterliess der eine von mir besuchte Abend im Musiksaal des Winterthurer Stadthauses den Eindruck, Tetzlaff habe seine Aufgabe vielleicht doch nicht ernst genug genommen. Viel Temperament gab es da, gewiss – und das hat als Einspruch gegen das Apollinische, das Verharmlosende, das bei den Geigenkonzerten Mozarts auch heute noch gern hervortritt, Reiz wie Berechtigung. Aber es war auch ein gerüttelt Mass an Ungenauigkeit, an Verschleifungen und Beiläufigkeit wahrzunehmen. Als ob der gerade auch für seine Präzision geschätzte Geiger hier den stürmischen Naturburschen hätte geben wollen.

Arcangelo aus London

Von diesem Burschikosen ist die Vorstellung der Violinkonzerte Mozarts durch die kometenhaft aufsteigende Norwegerin Vilde Frang und das Londoner Ensemble Arcangelo mit seinem Dirigenten Jonathan Cohen ganz und gar frei. Hier herrschen so viel Innigkeit des Gefühlsausdrucks und so natürliche Musikalität, dass diese Stücke in neuer Beleuchtung erscheinen – und was die ebenfalls letztes Jahr erschienene CD (Warner 08256462776776) diesbezüglich erkennen lässt, hat der Live-Auftritt bei der Neuen Konzertreihe Zürich voll und ganz bestätigt.

Vilde Frang gehört zu den Geigerinnen einer neuen Generation. Sie spielt nicht auf einem Instrument aus der Entstehungszeit der Kompositionen, wenn auch immerhin auf einer (übrigens sehr schönen) Geige von Jean-Baptiste Vuillaume von 1864. Aber das an sprachlichen Mustern orientierte Phrasieren statt dem möglichst weiten Bogen, die lebendige Artikulation anstelle des möglichst geschlossenen Legatos sind ihr selbstverständlich. Dazu pflegt sie einen mit feinem Pinsel gezogenen, äusserst farbenreichen Ton, der nicht das Gepresste des philharmonischen Klangs hat, aber auch nicht das Zirpende, das in der historischen Praxis da und dort auftaucht. Und nicht zuletzt verbindet sie ihre unverstellte, direkte Emotionalität mit grossartiger Präzision. Und das will etwas heissen, denn die Violinkonzerte Mozarts sind diesbezüglich nicht zu unterschätzen; das scheinbar Leichte ist hier besonders schwer.

Mit Arcangelo bildet die junge Geigerin eine sozusagen ideale Partnerschaft. Vor vier Jahren von dem Cellisten, Cembalisten und Dirigenten Jonathan Cohen gegründet und hierzulande erst wenig bekannt, gehört das Ensemble nicht im strengen Sinn der historischen Praxis an. Die Hörner arbeiten zwar ohne Ventile, die Streicher halten die Bögen so, wie es im 18. Jahrhundert üblich war, also etwas weiter entfernt vom Frosch, aber der Stimmton bleibt bei 440 Hertz. Auch das, die Vermischung von Elementen aus der hergebrachten wie der historisch informierten Praxis, gehört zum neuen Stil dieser Tage. Dazu eben der Beizug eines Dirigenten – der sich hier um so vorteilhafter auswirkt, als Jonathan Cohen starke, federnde Energie aus dem klein besetzten und geschickt ausbalancierten Ensemble hervorzulocken vermag. Das verleiht auf der CD den beiden Violinkonzerten Nr. 1 (B-dur, KV 207) und Nr. 5 (A-dur, KV 219) hinreissenden Biss. Im Zürcher Konzert profilierte sich das Ensemble zudem mit der A-dur-Sinfonie, KV 201, von Mozart und der sehr eigenartigen, überaus spannend wiedergegebenen Sinfonie in G-dur, Hob. I:47, von Joseph Haydn.

Weniger gut gelang in der Zürcher Tonhalle Mozarts Sinfonia concertante. Lawrence Power war nicht der richtige Partner für diese Interpretation. Sein Ton trägt viel kräftiger auf als der von Vilde Frang und von Arcangelo, was dazu führte, dass die Bratsche sinnwidrig in den Vordergrund geriet. Die Geigerin musste sich nach Kräften dagegen wehren, an die Wand gespielt zu werden, zumal die Körpersprache des Bratschers, der sich über weite Strecken von seiner Partnerin an der Geige abwandte und seine Aufmerksamkeit den Oboen schenkte, einige Fragen in den Raum stellte. Mit Maxim Rysanov gerät das auf der CD erheblich besser. Weitaus eindrücklicher wirkte das Stück auch beim Musikkollegium Winterthur, wo der Geiger Christian Tetzlaff mit Hanna Weinmeister an der Bratsche ein echtes Duo bildete und das Orchester aktiv bei der Sache war.

Hohe Kunst und privates Engagement

Das gemeinsame Musizieren hat eben in hohem Mass mit der zwischenmenschlichen Beziehung zu tun. Das war auch vor dem Auftritt von Arcangelo bei einem Sonderkonzert im Kleinen Saal der Tonhalle zu erleben, wo Jürg Hochuli, der engagierte Unternehmer, der die Neue Konzertreihe Zürich veranstaltet, die Gründung einer Stiftung zur Förderung junger Musikerinnen und Musiker bekanntgab. Geboten wurden das Klavierquartett in g-moll, KV 478, von Mozart und das Klavierquartett von Brahms, das ebenfalls in g-moll steht und die Opuszahl 25 trägt. Und das auf jenem hohen Niveau, das in den Konzerten Hochulis fast die Regel ist. Bei Mozart brachte sich der Pianist Martin Helmchen auf dem etwas grellen, für diesen Saal zu lauten Steinway derart prononciert ein, dass einem im Zuhören bewusst wurde, wie sehr dieses Stück ein heimliches Klavierkonzert ist. Bei Brahms dagegen fügte er sich ganz in den Gesamtklang ein und bildete mit der Geigerin Veronika Eberle, dem Bratscher Antoine Tamestit und der Cellistin Marie-Elisabeth Hecker ein äusserst vital agierendes Ensemble. So lange es solche Musiker gibt, wird es klassische Musik geben. Der Saal war nämlich voll besetzt.