Bachs Köthener Trauermusik beim Festival Alte Musik in Zürich
Von Peter Hagmann
Manches klang bekannt, ja vertraut. Aber nicht die Matthäus-Passion Johann Sebastian Bachs stand auf dem Programm, sondern die Trauermusik, die der Leipziger Thomaskantor zum Gedenken an Leopold von Anhalt-Köthen zusammengestellt hat, seinen Dienstherrn in den Jahren vor dem Leipziger Amtsantritt 1723. Die offizielle Verabschiedung des 1728 im Alter von erst 33 Jahren verstorbenen Fürsten, mit dem Bach eine herzliche Freundschaft verbunden hatte, enthielt ein vierteiliges geistliches Werk, dessen Partitur verschollen ist; überliefert ist allein der Text. Allerdings ist schon den Bach-Forschern des frühen 20. Jahrhunderts die formale Verwandtschaft zwischen den Texten zur Matthäus-Passion und jenen zur Trauermusik aufgefallen. Doch erst ein Jahrhundert später, erst in unseren Tagen haben es Musiker und Musikforscher gewagt, die Köthener Trauermusik zu rekonstruieren und im Konzert brauchbare Spielfassungen herzustellen. Unter ihnen befindet sich Alexander Grychtolik. Der deutsche Cembalist und Dirigent legte eine Rekonstruktion vor, für die er zum einen auf originale Musik Bachs zurückgriff, für die er zum anderen neue Rezitative im Stile Bachs komponiert hat. Die Neutextierung eines bestehenden Stücks, die barocke Parodie, gehörte für Bach zum Alltag; von da her erscheint Grychtoliks Vorgehen als absolut legitim. Mehr Angriffsfläche bieten die von ihm nachkomponierten Rezitative – doch angesichts der handwerklichen Solidität dieser Ergänzungen lässt sich damit sehr gut leben.
Dass das grosse, würdige Werk – über die Zeitgebundenheit der Texte Picanders kann man leicht hinwegsehen – jetzt in Zürich zu hören war, ist die eine Sensation, die andere ergab sich aus der überragenden Qualität der Darbietung. Die Besonderheit bestand darin, dass sich die «Deutsche Hofmusik», das von Grychtolik gegründete Ensemble instrumentaler wie vokaler Ausrichtung an den Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis orientierte. Dass also eine Besetzung gewählt wurde, wie sie Bach zu seiner Köthener Zeit vorgefunden haben mag. Am fürstlichen Hof zu Köthen verkehrten die besten Musiker von damals, ein grosses Orchester gab es jedoch nicht; es herrschte weitgehend solistische Besetzung – was die Mitglieder der «Hofmusik» dadurch unterstrichen, dass sie sich, sofern möglich und sinnvoll, für ihre Auftritte erhoben. Dies und die füllige Akustik der Kirche St. Peter führten dazu, dass der hervorragend ausbalancierte Klang trotz der geringen Anzahl an Mitwirkenden zu grossartiger Wirkung kam. Und weil hier Musik vorgetragen wurde, die über weite Strecken aus der Matthäus-Passion stammt, aus einem musikalischen Bereich also, der eher mit grösseren Besetzungen verbunden wird, war das Klangliche von besonderem Reiz. Immer wieder gingen die Gedanken zurück an jene Basler Aufführung von Bachs Johannes-Passion mit Kräften der Schola Cantorum Basiliensis unter der Leitung von Joshua Rifkin, die im März 1986 erstmals in diesen Landen ein grosses Chorwerk Bachs in der quasi originalen Besetzung vorgestellt – und damit ziemlich Staub aufgewirbelt hat.
Im Einzelnen bot der Abend, was die musikalische Verlebendigung betrifft, Höhepunkt an Höhepunkt. Alexander Grychtolik leitete die «Deutsche Hofmusik» vom Cembalo aus, an der Orgel löste ihn bisweilen seine Gattin Aleksandra Grychtolik ab. Von farbenreicher Kraft die Bassgruppe, aus der die Gambistin Heidi Gröger heraustrat. Und packend die Übereinstimmung bei den hohen Streichern mit der Konzertmeisterin Mechthild Karkow. Schlechthin grandios die Bläser; Jan de Winne und Christie Debaisieux holten aus den Traversflöten einen Glanz, der staunen machte, während Marcel Ponseele, der in fast allen Ensembles der alten Musik mitwirkt, zusammen mit Lidewei De Sterck die Oboe prächtig ans Licht hob. Leicht erhöht hinter den Instrumentalisten eine Sängerin und drei Sänger: Chor und Solisten zugleich. Und hier war wieder zu erleben, in welchem Masse die historisch informierte Aufführungspraxis auch das Singen erreicht hat. Zuallererst bedeutet es den Verzicht auf das Vibrato als Grundlage der Tongebung. Der Ton entsteht in gerader Formung, das Vibrato wird wieder zur Verzierung – und wie effektvoll das klingen kann, hier war es zu erleben. Bewundernswert die Sopranistin Miriam Feuersinger mit ihrem strahlenden Ton und der Altist David Erler, der sich mit Kraft und Agilität zugleich einbrachte. Klar zeichnend auch der Tenor von Hans Jörg Mammel, während der Bass Wolf Matthias Friedrich seine Partie äusserst lebendig aus der Sprache heraus gestaltete.
Das Forum Alte Musik in Zürich hat sich mit dem Eröffnungskonzert zu seinem diesjährigen Frühlings-Festival eine grosse Kiste geleistet. Dass es geschah, ist wichtig genug, denn die Musik vor Mozart ist in Zürich zu wenig vertreten – viel weniger jedenfalls, als es die Fülle der Kompositionen verlangte und es der enorme Markt an Interpreten und Aufnahmen ermöglichte. Das Festival – seine dreissigste Ausgabe steht unter dem Thema «Metamorphosen» – geht am kommenden Wochenende weiter. Am Freitag bietet es Metamorphosen mit altgriechischer Musik, unter anderem mit Alkman, keinem Amerikaner, sondern einem Komponisten aus Sparta, der im siebten Jahrhundert vor Christus gewirkt haben soll. Tags darauf stellen Arianna Savall, die Tochter des berühmten Gambisten und Dirigenten Jordi Savall und seiner leider viel zu früh verstorbenen Gattin Montserrat Figueras, Liebeslieder aus dem Mittelalter vor. Und zum Schluss erklingt eine Vesper von Carlo Donato Cossoni, einem Komponisten, Organisten und Kapellmeisters aus Norditalien. Cossonis Musik liegt zu einem guten Teil handschriftlich in der Bibliothek des Klosters Einsiedeln; sie ist dort auch regelmässig aufgeführt worden. Grund genug, sie im Zwingli-Jahr ins reformierte Zürich zu bringen.