Schauerliches Thema, schönste Musik

«L’incoronazione di Poppea» von Claudio Monteverdi im Opernhaus Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich

Über vierzig Jahre sind vergangen, seit Nikolaus Harnoncourt als Dirigent und Jean-Pierre Ponnelle auf der Bühne die Opern Claudio Monteverdis in Zürich wieder ans Licht gebracht haben. Sie taten es auf Anregung des damaligen Opernhaus-Direktors Claus Helmut Drese, und es darf mit Fug und Recht behauptet werden, dass damals in Gang kam, was heute selbstverständlich wirkt. «Orfeo», «Il ritorno d’Ulisse in patria» und «L’incoronazione di Poppea» gelten längst nicht mehr als Raritäten, die drei Stücke gehören in Europa vielmehr zum Standard-Repertoire. Allerdings ist die Aufführung der Opern Monteverdis noch immer mit besonderen Herausforderungen verbunden. Die Partituren enthalten nämlich nur ein Skelett, meist bloss Singstimme und Bass, alles andere darf und muss, das war im 17. Jahrhundert Tradition, von den Interpreten eigenhändig eingerichtet werden. So ist es auch bei «L’incoronazione di Poppea», der letzten Oper Monteverdis, die jetzt im Opernhaus Zürich Premiere gehabt hat – knapp fünfzehn Jahre nach einer zweiten Produktion des Werks mit Nikolaus Harnoncourt am Pult.

Fast vierhundert Jahre alt ist dieses Stück, und es wirkt, als stamme es von heute. Tatsächlich zeigt «L’incoronazione di Poppea», entstanden wohl 1642, eine Versammlung von Menschen, die nichts anderes kennen als: das Ich. Sei es im Rom Kaiser Neros einige Jahrzehnte nach Christi Geburt, sei es im mächtigen, übersatten Venedig des Komponisten Claudio Monteverdi, sei es heute, im Zeitalter der Willkürherrscher und des Selfiesticks – die Verhaltensmuster sind dieselben. Im Opernhaus Zürich legt Calixto Bieito den Finger nun genau darauf, und er tut das so unbarmherzig, wie es seine Art ist. Die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst hat ihm einen ovalen Laufsteg der Eitelkeiten entworfen; er läuft aus der Bühne heraus über den Orchestergraben in den Zuschauerraum und von dort wieder zurück.  Das schafft eine ungewohnte Nähe – die noch dadurch unterstützt wird, dass die Video-Einrichtung von Sarah Derendinger das Geschehen scharf heranzoomt und auf zwei Mal sieben Bildschirmen links und rechts im Raum vergrössert. Die Bühne selbst ist dominiert von einem steil ansteigenden Podest mit zusätzlichen Sitzplätzen für Zuschauerinnen und Zuschauer sowie einer Mitteltreppe, über die auf- wie abgetreten werden kann.

Die Wirkungsmacht dieses vervielfachten Raumtheaters hat den Vorteil, dass das Egomane der Figuren in Monteverdis Oper krass zutage tritt. Mit seiner unerhört klangvollen Höhe zeigt der Sopranist David Hansen, der an die Stelle des erkrankten Valer Sabadus getreten ist, den Nerone als einen Nihilisten der ersten Stunde; für diesen wahrhaft zügellosen Machthaber zählt einzig das momentane Bauchgefühl, sei es Lust oder Wut. Zuckt es ihm zwischen den Beinen, nimmt er sich, was er braucht, und sei es der Erste Offizier seiner Garde (Thobela Ntshanyana), der nach vollzogenem Akt mit einem lautlosen Kopfschuss beseitigt wird. Wer ihm jedoch widerspricht, wie es der salbungsvolle Philosoph Seneca tut (und wie es Nahuel Di Pietro mit wohlklingender Tiefe hören lässt), dem versucht der Tyrann mitten unter den Zuschauern eigenhändig die Zunge auszureissen – ein einigermassen blutiges Unterfangen wie stets bei Bieito. Abhanden kommt dem Kaiser die Macht allein vor Poppea, die ihren Weg nach oben noch eine Spur kaltblütiger verfolgt; die Domina nimmt man der ausgezeichnet singenden Julie Fuchs allerdings nicht restlos ab. Da wirkt Deanna Breiwick mit ihrem hellen Sopran als die unverstellt mit ihren Reizen spielende Drusilla doch noch eine Spur packender.

Allein, so intensiv Monteverdis Oper über die Rampe gebracht wird, so rasch zeigt der Ansatz der Produktion seine Grenzen. In ihrer blinkenden Bilderflut geht die szenische Einrichtung über eine durchschnittliche Aufnahmekapazität hinaus; vor lauter Zuschauen gerät das Zuhören bald einmal ins Hintertreffen. Das wird noch dadurch verstärkt, dass die Bühnenarchitektur akustisch nicht eben zu überzeugen vermag. Delphine Galou, die den von Poppea verschmähten Liebhaber Ottone verkörpert, muss mit ihrer im Leisen verankerten Stimme merklich pressen, was bisweilen auch für Stéphanie d’Oustrac gilt, die als die von ihrem Gatten verstossene Kaiserin Ottavia einen ebenso majestätischen wie berührenden Auftritt hat. Noch schwieriger ist die Lage im Graben. Koordiniert von Ottavio Dantone, der die Partitur eingerichtet hat und den Abend vom Cembalo aus brillant leitet, bringt La Scintilla, das mit der Musik Monteverdis bestens vertraute Originalklangorchester der Oper Zürich, gewiss ein Optimum an instrumentalem Reiz ein, doch derart versenkt im Inneren des ovalen Laufstegs vermögen die Musikerinnen und Musiker ihre Vorzüge, gerade etwa im reich besetzten Generalbass, nicht wirklich zur Geltung zu bringen.

Dennoch herrscht trotz des grausigen Sujets fast durchwegs gute Laune. Das liegt an den komischen Einlagen und dem witzigen Spielen mit dem Genderismus. Die tragende Figur des Nerone wird von einem in hoher Kopfstimme singenden Mann verkörpert, während des Kaisers rasch abgehalfterter Nebenbuhler Ottone von einer tief klingenden Frau gespielt wird. Die beiden Ammen wiederum, tief liegende Frauenpartien, sind in Zürich Männern übertragen, die nicht als weibliche Vertraute, sondern als (wenigstens halb) männliche Berater erscheinen: Emiliano Gonzalez Toro als Arnalta an der Seite Poppeas, Manuel Nuñez Camelino als Nutrice an jener Ottavias. Dennoch bleibt unter dem Strich der Eindruck, dass die neue Zürcher «Poppea» nicht immer das erreicht, was sie erreichen könnte – weder in der Flexibilität der Prosodie noch in der instrumentalen Agilität, weder in der orchestralen Farbigkeit noch in vokalen Qualität. Die Erinnerung an die sensationelle halbszenische Aufführung, die John Eliot Gardiner letzten Sommer beim Lucerne Festival geboten hat, steht übermächtig im Raum. Auch an das Elementare der Zürcher Wiederentdeckung von 1977 kommt sie nicht heran. Angesichts der Tatsache, dass heute vertraut ist, was damals neu wirkte, ist das aber vielleicht kein Wunder.

Robert Carsen – Handwerk und Kunst

 

orfeo
Charon (Nicolas Courjal) steuert auf Orpheus (Fernando Guimarães) zu: «L’Orfeo» von Claudio Monteverdi in der Oper Lausanne / Bild M. Vanappelghem, Opéra de Lausanne

 

Peter Hagmann

Den Mythos ins Präsens gesetzt

Monteverdis «Orfeo» mit Ottavio Dantone und Robert Carsen in Lausanne

 

Eigenartig fern ist die Geschichte von jenem jungen Mann, der seine heiss geliebte, eben geehelichte, wenig später jedoch durch einen Schlangenbiss wieder verlorene Gattin aus der Unterwelt ins Leben zurückzuholen sich vorgenommen hat. Und dies durch die Kraft der Musik, auf die er sich als Sänger und Virtuose auf der Lyra wie kein Zweiter versteht. Claudio Monteverdi hat den Mythos von Orpheus und Eurydike vor gut vierhundert Jahren in eine Oper gefasst – als eines der ersten Stücke dieser Gattung. In der Opéra de Lausanne ist von Distanz nicht das Geringste zu spüren, das Geschehen wirkt musikalisch wie szenisch so präsent, als entstamme es der Gegenwart.

Das ist es, was Robert Carsen in einer ganz besonderen Weise kann. Vor dreissig Jahren hat der kanadische Regisseur in Lausanne seine erste grosse Operninszenierung vorgelegt – nicht weniger als «Ariadne auf Naxos» von Richard Strauss. Jetzt ist er, berühmt geworden, allerorts begehrt, aber frei von jeglicher Starallüre, an den Ort seines Aufbruchs zurückgekehrt. Und hat vorgezeigt, in welchem Mass ihm handwerkliches Können und künstlerisches Empfinden zugewachsen sind. Ersteres erweist sich zu Beginn: dort, wo «L’Orfeo» noch nicht wirklich Oper ist. Weit offen hält Radu Boruzescu die Bühne, der Boden ist mit Blütenblättern in Rot-, Gelb- und Grüntönen bedeckt, und in der gleichen Farbskala sind die sommerlichen Kostüme gehalten, die Petra Reinhardt für die fröhlich tanzende Gruppe junger Leute entworfen hat. Unter ihnen mit Orpheus und Eurydike das junge Paar, dessen Liebe noch scheu wirkt. Das ist jener Ästhetizismus, der jedem Verächter des Regietheaters Labsal schafft.

Wie das tragische Schicksal seinen Lauf nimmt, verdüstert sich das Bild – grossartig, wie effektvoll Carsen hier als sein eigener Beleuchtungsmeister Gegen- und Seitenlicht einsetzt. Als eine ausstrahlungsmächtige, stimmlich souveräne Botin verkündet Josè Maria Lo Monaco den Tod Eurydikes. Womit in die schönen Bilder Carsens jene scharf gezeichneten Charaktere treten, die diesem Regisseur immer wieder gelingen, selbst im Umfeld eines eben nur scheinbar fernen Mythos. In seiner Verzweiflung, in seinem Aufbegehren gegenüber den Mächten der Unterwelt wird Orpheus zu einem Menschen von bebender Vitalität, und zugleich zeigt sich Fernando Guimarães den heiklen stilistischen Anforderungen seiner Partie hervorragend gewachsen – was die begrenzte Dynamik seiner Stimme vergessen lässt.

Mit Nicolas Courjal, der einen glänzenden Bass von präziser Lineatur ins Spiel bringt, stellt sich dem fordernden Orpheus die Unerbittlichkeit des Todes entgegen, doch führt die Kraft der Musik dazu, dass sowohl beim Schiffer Charon als auch bei Pluto, dem Herrscher der Unterwelt, das Eis des Amtes rasch schmilzt. Selbst Plutos Frau Proserpina, von Delphine Galou mit klangvoller Tiefe gesungen, entdeckt wieder die Reize des Erotischen; sie überlässt ihrem Gatten erst maliziös einen Lederhandschuh, bevor sie ihn dann ihren schweren schwarzen Umhang abstreifen lässt. Das alles auf einem Boden, der tief unten liegt und darum von Wasser bedeckt ist – das gehört zur Prägnanz der szenischen Bilder, mit denen Carsen zu arbeiten pflegt.

Dort aber kommt es dann zu jenem Moment, da Eurydike ihrem Gemahl in das vermeintlich wiedergewonnene Leben folgt. Die Insistenz, mit der Federica Di Trapani die Augen auf den Rücken des vorangehenden Mannes heftet, schafft ein Theaterbild, das sich der Erinnerung einprägt – genau gleich, wie es die Intensität tut, mit der sie ihre Hingabe in Klang fasst. Überhaupt steht der Abend im Zeichen einer innigen Verbindung zwischen dem Szenischen und dem Musikalischen. Robert Carsen reagiert sensibel auf die überraschenden Harmoniewechsel in Monteverdis Musik, und Ottavio Dantone am Pult bereitet ihm den Boden dafür.

Der italienische Cembalist, der zusammen mit seinen Mitstreitern an Harfe, Laute, Gitarre, Theorbe, Orgel und Regal für einen äusserst farbenprächtigen, vielgestaltigen Generalbass sorgt, hält das Geschehen bisweilen nur mit der Linken zusammen, formt es aber jederzeit entschieden. Dass das Orchestre de Chambre de Lausanne auf konventionellen Instrumenten spielt, natürlich ergänzt durch Zinken und alte Posaunen, ist nicht wirklich von Belang; entscheidend ist vielmehr der Geist – und es ist der einer historisch informierten Aufführungspraxis neuer Generation. Da ist nichts mehr zu beweisen oder gar durchzusetzen wie 1975, als Nikolaus Harnoncourt «L’Orfeo» am Opernhaus Zürich der Jetztzeit wieder erschlossen hat. Deshalb neigt auch nichts zum Demonstrativen. Das Sprechende gerät vielmehr ganz selbstverständlich, flüssig und geschmeidig. Und die fremdartigen Harmonien wie die immer wieder überraschend eintretenden Dissonanzen fügen sich zu einem Ganzen, das von tief berührender Wirkung ist.

Vorstellungen bis 12. Oktober.