Une soirée parisienne

«Fortunio» von André Messager
in der Opéra de Lausanne

 

Von Peter Hagmann

 

Bild Carole Parodi / Opéra de Lausanne

Man kennt ihn aus dem Lexikon, nicht aus gelebter Erfahrung. Dabei war André Messager (1853 bis 1929) Lichtgestalt wie Zentralfigur im Musikleben der Belle Epoque, jener Ära zwischen dem für Frankreich schmählichen Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1871 und dem Ausbruch der Ersten Weltkriegs 1914. Ausbildet an der Ecole Niedermeyer in Paris und von da her in gutem Einvernehmen mit Camille Saint-Saëns und Gabriel Fauré, trat er von der kleinen Orgel in der Pariser Madeleine aus den Gang durch die Institutionen an; er führte ihn als Musikdirektor an die Opéra-Comique, als künstlerischer Leiter zur Covent Garden Opera London und schliesslich als Direktor an die Pariser Opéra. Am Ende sah er sich geehrt als Commandeur in der Légion d’Honneur. Das Dirigieren nahm einen wichtigen Platz ein; dass er bei der Uraufführung von Claude Debussys «Pelléas et Mélisande» am Pult der Opéra-Comique stand, hat ihm einen Platz in den Geschichtsbüchern gesichert. Auch komponiert hat er, und nicht wenig, doch das ist heute so gut wie vergessen.

Leider – das darf sagen, wer in der Opéra de Lausanne «Fortunio» gesehen und gehört hat, eine comédie-lyrique André Messagers, die auf einer Komödie von Alfred de Musset basiert. Als Messager als Dirigent der Uraufführung seines Werks 1907 ans Pult trat, soll ihn das Orchester der Opéra-Comique mit Ovationen begrüsst haben – so ist es der Rezension zu entnehmen, die Gabriel Fauré für «Le Figaro» verfasst hat. Tatsächlich hat es die Partitur in sich; sie klingt ausgeprägt französisch, ohne jeden Anklang an den Wagnerismus von César Franck, an die schwere Süsse von Jules Massenet oder den Klassizismus von Saint-Saëns – ganz eigen eben, aber durchaus eingebettet in die musikalische Umgebung ihrer Zeit. Leichtfüssig, aber nie seicht erzählt sie die Geschichte der jungen, schönen, biestigen Jacqueline, die mit dem in die Jahre gekommenen Notar Maître André verheiratet ist, daneben aber gerne auf Nebengeleisen fährt, etwa mit dem smarten Hauptmann Clavaroche oder dem Unschuldslamm Fortunio, das es freilich faustdick hinter den Ohren hat.

Nach der Uraufführung wurde «Fortunio» bis 1953 gegen achtzig Mal gespielt, in Frankreich hielt sich das Stück bis ins frühe 21. Jahrhundert auf den Bühnen, im deutschsprachigen Kulturbereich dagegen scheint es bloss verächtliches Schulterzucken erzeugt zu haben. Claude Cortese, der neue Direktor der Opéra de Lausanne, sieht gerade darin seine Chance. Er will in seinem Haus vornehmlich Stücke zeigen, die in Lausanne bisher nicht zu sehen waren. Und er will, so jedenfalls der implizite Tenor, die gar nicht so kleine Oper von Lausanne mit ihren drei Rängen und ihrem modernen Anbau als Stätte der Produktion zu einem Hafen für die französische Oper in der mehrsprachigen Schweiz etablieren. Das ist im besten Fall eine klare Ansage und schafft ein interessantes Gegengewicht zu dem ungleich grösseren, mächtig ausstrahlenden Grand Théâtre de Genève, das mit seinem Intendanten Aviel Cahn entschieden den Anschluss an das internationale Opernbusiness gesucht und gefunden hat.

In Lausanne hat sich Claude Cortese, ein mit allen Wassern gewaschener Theaterpraktiker, daran erinnert, dass es 2009 an der Pariser Opéra-Comique zu einer Produktion von André Messagers «Fortunio» gekommen ist, die gute Resonanz erzeugt und sogar auf das Medium der DVD gefunden hat. Die Produktion, nicht selbstverständlich, war noch zu haben – und so hat sie Cortese eingekauft: eine ausgezeichnete Tat. Die Inszenierung von Denis Podalydès, einem Sociétaire der Comédie-Française, hält sich denkbar weit entfernt von Ideen des Regietheaters, sie zeigt das Stück als Stück, was allerdings nicht eben wenig ist. Sie tut es mit schauspielerischer Energie und Spielwitz, schlägt den Zuschauer wie die Zuschauerin in Bann und schafft echtes Theatervergnügen. Das Bühnenbild von Eric Ruf spielt geschickt mit den Situationen und den mit ihnen verbundenen Klischees, die Kostüme von Christian Lacroix verorten das Stück amüsant lavierend zwischen der Entstehungszeit des Textes von Musset und jener der Musik. Und die Akteure auf der Bühne geraten in Fahrt, dass es eine Freude ist.

Wesentlich getragen wird das Vergnügen durch die Tatsache, dass in Lausanne ein Ensemble versammelt ist, dessen Mitglieder allesamt französischer Muttersprache zu sein scheinen. Das ist darum von Belang, weil sich die Musik André Messagers elegant dem Sprachduktus des Französischen anschmiegt. Gepflegte Diktion herrscht hier, eine geradezu lustvolle Sorgfalt etwa in der Färbung der Vokale und im Umgang mit Hebung und Senkung. So ist der bisweilen von Ironie geprägte Text über weite Strecken gut verständlich, auch bei den Stimmen in hoher Lage. Nicht zuletzt ist das dem Orchester Sinfonietta de Genève zu verdanken, das unter der Leitung von Marc Leroy-Calatayud einen schlanken, allerdings etwas unpersönlichen, die Farbigkeit der Musik unterspielenden Ton hören lässt.

Umso prachtvoller kommt dank Sandrine Buendia die Sinnlichkeit der im Zentrum der männlichen Begehrlichkeiten stehenden Jacqueline zur Geltung, wogegen der in der Partie des Fortunio sehr authentische Pierre Derhet als zuletzt lachender Vierter im Bunde bisweilen etwas viel Druck aufsetzt. Umwerfend Marc Barrard als der alte Notar und mehrfach gehörnte Ehemann, ein Schüler des grossen Gabriel Bacquier und sein würdiger Nachfahre. Während Christophe Gay als der mehr als wendige Hauptmann Clavaroche nicht nur durch einen höhensicheren Tenor, sondern auch durch akrobatische Beweglichkeit in Erinnerung bleibt. Während in Zürich und München die Pimmel hüpfen, blickt Lausanne auf die Sache, auf die Kunst. Zum Glück.

Der Ritt über den Genfersee

«Guillaume Tell» von Gioachino Rossini
an der Opéra de Lausanne

 

Von Peter Hagmann

 

Gessler und seine mutigen Opfer / Bild Carole Parodi, Opéra de Lausanne

«Guillaume Tell», die neununddreissigste und letzte Oper Gioachino Rossinis, ist in jeder Hinsicht übermässig: in ihrer Aufführungsdauer, in den Aufzügen der Chöre, in den Spitzentönen, die dem primo tenore abverlangt werden, nicht zuletzt in der heiss geliebten Ouvertüre mit ihren irrwitzigen Anforderungen an die Kantabilität wie die Virtuosität des Orchesters. Wie soll ein solcher Koloss in der nicht besonders ausladenden Opéra de Lausanne Platz finden? Tatsächlich ist «Guillaume Tell», ohnehin vergleichsweise selten gespielt, in Lausanne noch nie gegeben worden. Wir können das, sagte sich jedoch Claude Cortese, der neue Direktor des Hauses, der sich beim Publikum nicht mit einer eingekauften, sondern einer an Ort und Stelle neu erstellten Produktion einführen wollte. Cortese konnte das Risiko abschätzen, verfügt er doch über reiche Erfahrung im Metier. So wagte er es – und hat Recht behalten. Die Produktion ist in hohem Mass gelungen und lässt für die Zukunft einiges erwarten.

Hinreissend schon die Ouvertüre mit dem elegischen, von solistisch eingesetzten Celli getragenen Beginn und dem wirbelnden Ende. Das Orchestre de Chambre de Lausanne war schon hier ausgesprochen guter Laune; überhaupt zeigte es sich äusserst agil und geschmeidig – was nicht zuletzt auf den Dirigenten Francesco Lanzillotta zurückgeht. Mit acht Ersten Geigen spielte das Orchester gleichsam in einer Kammerbesetzung; wahrzunehmen war es jedoch nicht wirklich, das Instrumentale entwickelte ausreichend Präsenz, und die Balance, jene zwischen den Bläsern und den Streichern wie jene zwischen dem Vokalen und dem Instrumentalen, blieb jederzeit gewahrt. Eine imposante Leistung bot an der Premiere auch der von Alessandro Zuppardo vorbereitete Chor der Oper Lausanne; schöner, homogener, klar gezeichneter Klang war da zu hören – die grossen Aufzüge liessen nichts zu wünschen übrig.

Wie das Spiel in Lausanne anhebt, erstrahlt auf der Bühne von Alex Eales ein bekanntes Bildnis Ferdinand Hodlers, vielleicht «Landschaft am Genfersee»; dazu kommen die Herren im Chor, die gerne die Bewegungen des ebenfalls von Hodler so markig abgebildeten Holzfällers andeuten. Der Regisseur Bruno Ravella verortet die von Schiller in seinem Schauspiel erzählte Geschichte vom Kampf eines Volkes um seine Freiheit eindeutig in der Schweiz und im mythologischen Gewand. Am Ende jedenfalls fährt der Felsbrocken, auf dem Wilhelm Tell mit seiner Armbrust steht, dergestalt in die Höhe, dass der siegreiche Held wie die berühmte Helvetia auf der gegenwärtig im Umlauf befindlichen Ein-Franken-Münze erscheint. Dass es in diesen Tagen noch ein anderes Volk gibt, das um seine Freiheit kämpft, zeigt sich allein in zwei Bändern mit den ukrainischen Landesfarben, die in der Feier zur Hochzeit von drei jungen Paaren zu Beginn des Eröffnungsaktes verwendet werden. Das ist gut so; jede konkrete Anspielung an das Geschehen unserer Tage, so nahe es läge, käme einer Plattitüde gleich.

Die Besetzung der Urschweiz durch die Habsburger wird in der Inszenierung allerdings in schauerlicher Genauigkeit vorgeführt. Mit seinem kernigen Timbre gibt Luigi De Donato einen zynisch brutalen Gessler, der mit einer Fingerbewegung über Leben und Tod entscheidet. Und die von Sussie Juhlin-Wallén weinrot gekleidete Soldateska geht mit ihren Knüppeln schonungslos gegen Mann wie Frau vor. Das bildet den Hintergrund. Im Zentrum des Geschehens, so will es die Grand Opéra, steht aber das private Drama. Die Eindringlichkeit, mit der die zwischenmenschliche Interaktion szenisch wie musikalisch realisiert wird, ist von zutiefst berührender Wirkung. Wenn Tell von Gessler in der nicht enden wollenden Szene vor dem Apfelschuss erniedrigt wird, gibt Jean-Sébastien Bou das Letzte an darstellerischer Intensität und vokaler Expression. Ihm zur Seite steht Jemmy, der von der kleinen, ebenfalls ausdrucksstarken und stimmlich erstaunlichen Elisabeth Boudreault als der mutige Sohn seines Vaters gezeigt wird. Die Dritte im Bunde ist die Gattin und Mutter Hedwige, die von Géraldine Chauvet mit würdigem Profil versehen wird.

Und dann eben die liaison dangereuse zwischen dem jungen Arnold von Melchtal und Mathilde, der habsburgischen Prinzessin im Gefolge Gesslers. Im entscheidenden Moment des (übrigens leicht, aber geschickt gekürzten) Stücks nimmt die junge Frau aus dem gegnerischen Lager den von Gessler bedrohten Sohn Tells unter ihren Schutz stellt und wechselt damit die Seiten – schade nur, dass sie dann nicht ihre weinrote Schärpe von der Schulter nimmt und nicht auch im Gewand als eine Gleiche unter Gleichen von der Bühne geht. Wie die Ukrainerin Olga Kulchynska, neben Luigi De Donato das zweite Ensemblemitglied nichtfranzösischer Zunge, ihre Partie zum Leben erweckt, wie hoch ihre nur ganz leicht gefärbte Diktion steht, wie tadellos ihr die Koloraturen gelingen, wie treffend sie ihre Gefühle mit ihrer wunderschönen Stimme zur Geltung bringt, es verdient alle Bewunderung. In nichts steht ihr Julien Dran nach, der als einer der hohen französischen Tenöre den Ritt über den Genfersee prächtig meistert; souverän erklimmt er die Spitzen in der Partie des Arnold, und ohne Einbusse lässt er auf den stimmlichen Gipfeln seiner Partie Glanz und fassbaren Klang erstrahlen – das alles in Verbindung mit vorbildlicher Diktion.

Wer wissen möchte, worin die Kunst des französischen Gesangs bestehen kann, an diesem Abend kann er es erfahren. In der Akzentsetzung auf dem Frankophonen, die der Spielplan der Saison 2024/25 andeutet, findet die Opéra de Lausanne anregenden Kontrast zu dem eher international ausgerichteten Programm des Grand Théâtre de Genève. Wenn ab der Spielzeit 2026/27 Alain Perroux, bis vor kurzem der Chef von Claude Cortese,  als Nachfolger Aviel Cahns von Strassburg nach Genf kommt, könnte die bekanntlich nicht ganz konfliktreiche Beziehung zwischen beiden Kantonshauptstädten auch auf dem Gebiet des Musiktheaters richtig spannend werden.