Das Fordernde als Attraktion

Salzburger Festspiele:
Opern von Weinberg, Prokofjew und Offenbach

 

Von Peter Hagmann

 

Bogdan Volkov als Fürst Myschkin – als «Der Idiot» kurz vor seinem epileptischen Anfall / Bild Bend Uhlig, Salzburger Festspiele

Als einen Ort für die Reichen und die Schönen, ach ja, so sieht Volkes Mund hie und da die Salzburger Festspiele. Ganz falsch ist es nicht, wenn für einen Platz der besten Kategorie in, sagen wir «Don Giovanni», 465 Euro fällig sind (Taylor Swift kann hier ausgeklammert werden) und wenn sich auf das Ende der Vorstellungen hin die Limousinen der höchsten Preisklasse zusammen mit ihren Chauffeuren in Reih und Glied gestellt haben. Allein, das ist bloss die eine Seite; die andere Seite weiss, dass es auch, und gar nicht wenige, preisgünstigere Angebote gibt und dass sich mit einer Eintrittskarte ein grosses Zeitfenster lang vor und nach dem Anlass der Öffentliche Verkehr im Salzburger Verbund kostenlos benutzt werden kann.

Vor allem aber ist nicht zu vergessen, dass es bei den Salzburger Festspielen der Kunst gilt, der grossen Kunst. Unglaublich umfangreich, vielgestaltig in der Werkauswahl und höchststehend in den Interpretationen präsentiert sich das Konzertprogramm; es reicht von der Ouverture spirituelle des Beginns über die fünf bis zu dreifach geführten Sinfoniekonzerte der Wiener Philharmoniker und die thematischen Schwerpunkte (dieses Jahr wurde die «Zeit mit Schönberg» verbracht) bis hin zu den Kammerkonzerten, den Liederabenden und den solistischen Auftritten – und immer wieder ergeben sich Glücksmomente der besonderen Art (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 17.08.24).

Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht jedoch die Oper. Sie trat diesen Sommer mit drei Neuinszenierungen, einer Wiederaufnahme sowie nicht weniger als fünf konzertanten Aufführungen in Erscheinung. Das späte «Capriccio» des Festival-Mitbegründers Richard Strauss eröffnete den Reigen der Opern auf dem Konzertpodium, worauf «Hamlet» von Ambroise Thomas erschien, hier mit Stéphane Degout, dem Grandseigneur des französischen Gesangs. Schliesslich gab es reichlich Zeitgenössisches: «Koma» von Georg Friedrich Haas, einen Doppelabend mit Luigi Dallapiccola und Luigi Nono, das «Begehren» von Beat Furrer, das Anfang September auch zum Lucerne Festival kommt.

«Der Idiot»

Auch im Kernbereich des Angebots herrscht alles andere als kulinarisches Wohlgefühl. Neben der überarbeiteten Wiederaufnahme des ebenso anregenden wie unbequemen «Don Giovanni» von 2021 (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 11.08.21) und «La clemenza di Tito», einer weiteren Mozart-Produktion als Übernahme von den Pfingstfestspielen, gab es überaus anspruchsvolle Kost. Den Höhepunkt bildete fraglos «Der Idiot» von Mieczysław Weinberg. Der polnische Komponist jüdischen Glaubens (1919-1996), der 1939 nach dem deutschen Überfall auf Polen nach Minsk und Taschkent flüchten musste und sich 1942 in Moskau niederliess, teilte anfangs das Schicksal seines engen Freundes Dmitri Schostakowitsch, schuf in den wechselvollen Jahren der Sowjetunion und später Russlands jedoch ein weit ausholendes Œuvre. Heute ist es so gut wie vergessen. Seine Oper «Der Idiot» nach dem Roman Fjodor Dostojewskis und auf ein Libretto Alexander Medwedews stellte er 1987 fertig. Uraufgeführt wurde sie 1991 in Moskau, dies jedoch in einer kammermusikalischen Fassung. In der vollen Orchesterbesetzung kam «Der Idiot» erst 2013 im Nationaltheater Mannheim zur Uraufführung; Initiant und Dirigent war damals Thomas Sanderling. Eine zweite Produktion gab es zehn Jahre später beim Theater an der Wien. Salzburg folgte nun mit der dritten und, so darf man wohl sagen, folgenreichsten Inszenierung.

Ein unerhört eindrucksvolles Werk, es steht auf Augenhöhe mit den grossen Opern des 20. Jahrhunderts – dass es bei den Salzburger Festspielen in einer so vorbildlichen Produktion gezeigt worden ist, kann nicht hoch genug geschätzt werden. Allerdings, leicht macht es das vierstündige Stück weder dem Zuhörer noch der Zuschauerin. Dostojewskis Roman bildet hochkomplexe Verästelungen aus und spart nicht mit Personal, Medwedew hat geschickt eingedampft, kann die ziselierte Struktur aber nicht wirklich in dramatische Spannung überführen. Als operngewohnter Rezipient muss man sich auf langsam voranschreitende Prozesse einstellen; die Ankunft des als «Idioten», nämlich des hier als «Gutmenschen» gezeichneten Fürsten Myschkin in der degenerierten St. Petersburger Gesellschaft des mittleren 19. Jahrhunderts und die Wirkung auf sie kommt nur schleichend voran; sie gewinnt gerade daraus ihre Attraktivität. Genau gleich wie die musikalische Handschrift Weinbergs, die genaues Zuhören und ein offenes Herz einfordert, vor allem aber Geduld, denn nur so kann man sich in diesen Kosmos einleben. Ganz eigen klingt diese Musik, sie ist weder tonal noch atonal, lebt vielmehr in einem Zwischenreich. Sehr geholfen beim Eindringen in die Partitur haben die Wiener Philharmoniker, die sich mit ihrer vollen Kompetenz auf ihre Aufgaben eingelassen haben, aber auch die lettische Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, die zusammen mit dem russischen Geiger Gidon Kremer die Entdeckung Weinbergs vorantreibt und sich die Handschrift des Komponisten in hohem Mass zu eigen gemacht hat.

Blendend die Inszenierung von Krzysztof Warlikowski. Die Bühnen- und Kostümbildnerin Malgorzata Szczęśniak spreizt das Geschehen über die ganze Breite der Bühne in der Salzburger Felsenreitschule auf; geradezu sensationell der Beginn des Werks, die Bahnreise des Fürsten Myschkin nach St. Petersburg, für die ein 1.-Klass-Coupé ganz langsam von rechts nach links bewegt wird, es dazu den Blick aus dem Fenster als Videoprojektion gibt und schliesslich die Einfahrt des Zuges in den Bahnhof vom Videokünstler Kamil Polak überblendet wird. Mit äusserster Sorgfalt sind die einzelnen Figuren ausgestaltet, und da bewährt sich ein osteuropäisch-russisch besetztes Ensemble – in Salzburg wird ja auf den verschiedensten Ebenen sehr genau zwischen Russland und Putin unterschieden. Grossartig im vokalen Laut wie im körperlichen Ausdruck Bogdan Volkov als Fürst Myschkin, Vladislav Sulimsky gibt den düsteren Gegenspieler Rogoschin mit schwarzen Stimmfarben, stupend verkörpert Ausrine Stundyte die undurchdringliche Emanze Nastassja, während Xenia Puskarz Thomas als die gutbürgerliche Aglaja mit einem hellen Sopran auf sich aufmerksam macht. Zahlreiche liebevoll und klug ausgedachte Details beleben die Szene. Und getragen wird sie von einem starken Ensemble. Mehr noch: von einer Identität stiftenden künstlerischen Familie, wie sie Markus Hinterhäuser als temporäres Mitglied der Truppe um Christoph Marthaler kennengelernt haben mag.

«Der Spieler»

Zur Familie gehört auch Peter Sellars. Der unkonventionell, auch witzig denkende Amerikaner meisterte in diesem Sommer, ebenfalls in der Felsenreitschule, als Regisseur die selten aufgeführte Oper «Der Spieler» von Sergej Prokofjew, ein scharf kritisierendes Werk. Er tat das in seiner Weise. Die Handlung, sie basiert wie «Der Idiot» auf einem Roman von Dostojewski und spielt in einer ähnlichen gesellschaftlichen Konstellation wie Weinbergs Oper, versetzte er in die Gegenwart – etwas zaghaft, doch durchaus erkennbar: Statt zu Briefen und zu Schuldscheinen wird zum Smartphone gegriffen, und wenn ein aus Deutschland angereister Gast im Spielcasino seine Werte zu verteidigen sucht, wird sein Anzug mit oranger Farbe bestrichen. Das kann man umso mehr hinnehmen, als Österreich derzeit von einem Finanzjongleur der ärgsten Sorte heimgesucht wird. Dass am Ende die etwas moralinsaure Erkenntnis im Raum steht, dass Geld allein weder heilt noch glücklich macht, so ist das freilich schon wieder ein Allgemeinplatz. Nur ist das nicht Sellars’ Schuld, sondern jene des Werks – einer Oper, die mitten im Ersten Weltkrieg auf der Basis eines von Prokofjew selbst eingerichteten Librettos entstand und 1929 musikalisch überarbeitet wurde, in der Sowjetunion jedoch erst 1970 vollgültig aufgeführt werden konnte.

Der temporeiche, darum kurzweilige Abend spielt auf einer ebenfalls ganz in die Breite gezogenen Bühne. George Tsypin hat sie mit riesigen, an Ufos erinnernden, nach der Art eines Balletts auf- und absteigenden Roulettetischen bestückt, und die Kostüme von Camille Assaf sorgen für Farbeffekte, die mit der frechen Musik Prokofjews durchaus etwas gemein haben. Die Partitur befindet sich bei dem noch jungen Russen Timur Zangiev und den Wiener Philharmonikern in besten Händen. Das Orchester agiert auf seinem bewundernswert hohen Niveau, und der Dirigent lässt den Farbeffekten den ihnen gebührenden Raum, behält die musikalischen Verläufe aber stets in ruhiger Hand. Gewinnend auch hier das riesige Ensemble, allen voran Sean Panikkar als der wirtschaftlich auf unsicheren Beinen stehende Hauslehrer, der am Spieltisch mehr als das benötigte Kleingeld erwirtschaftet und dafür seine Geliebte verliert – und diese Geliebte, Polina, ist Asmik Grigorian, die als eigenwillige Frau starke Akzente setzt, sich aber zugleich ganz selbstverständlich in ihr Umfeld integriert. Für ein Glanzlicht besonderer Art sorgt Violeta Urmana, der reichen, von allen Seiten in den Tod gewünschten Grossmutter, die sich aus ihrem Rollstuhl erhebt und im Casino all ihr Hab und Gut verliert.

«Hoffmanns Erzählungen»

Eine andere Art von Sucht herrscht in der dritten Neuinszenierung der Salzburger Festspiele dieses Sommers. Es ist der Alkoholrausch, der Ernst Theodor Wilhelm (später: Amadeus) Hoffmann seinen Brotberuf als Beamter aushalten und in nächtlichen Sitzungen in Gasthäusern das Dichten ermöglichte. Jacques Offenbach war von E. T. A. Hoffmann derart angezogen, dass er sich für «Les Contes d’Hoffmann», seine einzige ernste Oper, von Jules Barbier ein Libretto zusammenstellen liess, in dem der Dichter dreien der von ihm erfundenen Frauenfiguren begegnet – für den Tenor Benjamin Bernheim ergab sich hier eine Sternstunde. Nicht nur war er der agile Hauptdarsteller der im Salzburger Grossen Festspielhaus gezeigten Inszenierung, er sang sich auch buchstäblich von Höhepunkt zu Höhepunkt – wenn ihm denn der Dirigent Mark Minkowski am Pult der Wiener Philharmoniker den Raum dafür liess. Ihm zur Seite standen in dieser vokal exzellenten Produktion Kathryn Lewek, welche die vier Frauenfiguren bewältigte, und Christian Van Horn in den Partien der vier männlichen Gegenspieler, vor allem aber Kate Lindsey, die mit blühender Sonorität und packender Bühnenpräsenz als Hoffmanns guter Geist Nicklausse begeisterte. Szenisch hatte der Abend allerdings ein grosses Problem. Für die Regisseurin Mariame Clément war Hoffmann ein innerlich zerrissener Filmer, der die Fäden einer grossen Produktion in den Händen zu behalte, was die Ausstatterin Julia Hagen dazu bewog, die Bühne mit einer Vielzahl stummer, unablässig gestikulierender Techniker und Assistentinnen zu füllen, ja zu verstopfen. Durchaus plausibel erfundene Nebenhandlungen schoben sich in den Vordergrund, dies zu Lasten der Hauptsache, nicht zuletzt der herrlichen Musik Offenbachs. Auf hohem Niveau gescheitert. Doch ohne Scheitern keine Kunst.

Der Hund als Herr

«Barkouf», ein Meisterwerk von Jacques Offenbach, an der Opéra du Rhin in Strassburg ausgegraben

 

Von Peter Hagmann

 

Offenbach, der Witzbold. Offenbach, der Meister der allzu leichten Muse. Offenbach, der Vielschreiber. Die abwertenden Vorurteile sind rasch gefällt und weit verbreitet. Nur: Was ist von Jacques Offenbach (1819-1880) schon bekannt? Gewiss, Operetten wie «La belle Hélène» oder «Orphée aux enfers» oder die unvollendete Oper «Les contes d’Hoffmann», sie werden ab und zu gespielt, sie vermitteln von einem Schaffen, das über hundert Bühnenwerke umfasst, jedoch höchst einseitige Vorstellungen. Inzwischen beginnt sich allerdings die Einsicht zu verbreiten, dass das Bild, das von dem französischen Komponisten deutscher Herkunft gemeinhin gepflegt wird, vielleicht doch zu revidieren sei. Zurückzuführen ist dieser Wandel zuallererst auf die hartnäckige Arbeit, die der französische Musikwissenschaftler und Dirigent Jean-Christophe Keck als Betreuer einer grossen Werkausgabe leistet. Und auf den Mut von Theaterleitern, die bisher bestenfalls dem Namen nach bekannte Werke Offenbachs in ihre Spielpläne aufzunehmen wagen.

 

Verschwörer vor dem Palast, unter ihnen nicht ganz unbelkannte Gesichter: «Barkouf» von Jacques Offenbach in Strassburg / Bild Klara Beck, Opéra National du Rhin Strasbourg

 

So geschehen dieser Tage an der Opéra National du Rhin, dem Verbund der Opernhäuser von Strassburg, Colmar, und Mulhouse. Eva Kleinitz, die 2017 von der Staatsoper Stuttgart ins Elsass gezogen ist und dort als Intendantin gleich für frischen Wind gesorgt hat, ist zu verdanken, dass «Barkouf», die opéra-bouffe, die Jacques Offenbach an Heiligabend 1860 in der Pariser Opéra-Comique herausgebracht hat, nun zu ihrer zweiten Produktion gekommen ist. Die Vorbereitungen damals hatten sich äusserst turbulent gestaltet, die Uraufführung selbst an jenem Haus, das Offenbach bis dato ausgeschlossen hatte, geriet zu einem mässigen Publikumserfolg, während es danach zu einer ausserordentlich gehässigen Pressedebatte kam. In ihrem Zentrum stand die Frage, ob es sich bei «Barkouf» nicht um eine unerhörte Zumutung handle.

Ganz unverständlich ist die Frage nicht. «Barkouf» ist ein Stück von scharfzüngigem, subversivem Witz. Das Textbuch von Eugène Scribe, dem Pariser Gross-Librettisten jener Tage, verhandelt die Geschichte von einem unbotmässigen Kleinstaat, in dem die Vize-Könige, die von einem fernen, selten zu Besuch erscheinenden Gross-Mogul eingesetzt werden, vom Volk in schöner Regelmässigkeit zum Fenster hinaus geworfen werden. Dieser Widerspenstigkeit überdrüssig, beschliesst der Gross-Mogul, als nächsten Repräsentanten keinen Beamten seines Hofs, sondern schlicht einen Hund einzusetzen. Dessen Gebell muss von der ursprünglichen Besitzerin des Tiers übersetzt und zu Regierungsbeschlüssen umgeformt werden – die natürlich durchwegs gegen die Absichten der Herrschenden, sondern vielmehr im Sinne des aufbegehrenden Volks ausfallen. Dazu gibt es Intrigen und Liebeshändel, alles gewürzt mit gepfefferten Anspielungen (die in der Strassburger Produktion auf die heutige Zeit hin angepasst wurden). Getragen wird dieses Geschehen von der nun einmal sehr persönlichen, treffsicher charakterisierenden und immer wieder mit herrlich schrägen Einfällen überraschenden Musik Offenbachs.

An vorderster Front der Gegner stand in den Wochen nach der Pariser Uraufführung der von Offenbach zutiefst verehrte Hector Berlioz, an dessen Seite wirkte eine Reihe einflussreicher Kritiker. Geschmäht wurde das Werk seines Sujets wegen wie auch wegen der von Scribe verwendeten Ausdrucksweise; beides wurde als der Opéra-Comique unangemessen gescholten. Kritik löste aber auch die Musik aus, die als unelegant und harmonisch abstrus empfunden wurde. Nach einigen Wiederholungen in der Salle Favart verschwand «Barkouf» in jenen Archiven, die 1887 dem Grossbrand in der Opéra-Comique zum Opfer gefallen sind. Wie durch ein Wunder erhalten geblieben ist hingegen das Autograph, das sich im Besitz der Familie Offenbach befindet und dort von Jean-Christophe Keck ausfindig gemacht wurde. Ein im Notentext fehlender Teil wurde von Keck zudem in den USA entdeckt – ein unglaublicher Zufall. Da das Autograph die Spuren der bewegten Probenarbeit trägt und diverse Varianten enthält, musste eine Spielfassung erstellt werden – und auf dieser Basis ist das Stück jetzt in Strassburg vorgestellt worden.

Das geschah in einer Produktion erster Güte. Am Pult des hellwach und klangschön agierenden Orchestre symphonique de Mulhouse, als dessen Chefdirigent er seit diesem Herbst wirkt, setzt der Dirigent Jacques Lacombe auf straffe, zügige Tempi, welche die Regisseurin Mariame Clément szenisch brillant aufnimmt. Wie ein Uhrwerk läuft der Beginn ab. Er stellt die Mechanismen des Herrschens, wie es der Gross-Mogul (Nicolas Cavallier) ausübt, und des Beherrscht-Werdens, das der von Alessandro Zuppardo geleitete Chor verkörpert, in unbarmherziger Skurrilität aus. Kommt das Geschehen nach der Exposition im ersten Akt dann in Gang, fällt der Blick in ein enormes Staatsarchiv mit Türmen mehr oder weniger bearbeiteter Staatsakten, die von einem Faktotum Marthalerscher Prägung gehütet werden. In diesem von Julia Hansen gestalteten Ambiente – Schrecken und Komik halten sich da die Waage – bleibt der Regisseurin ausreichend Raum, die Figuren aus ihren typologischen Anlagen zu befreien und sie plastisch auszuformen. Maïma, die Blumenverkäuferin, deren Hund in seiner Hütte mit gewaltigem Bellen und gefährlichem Zubeissen königliche Funktionen ausübt – Maïma wandelt sich, je mehr sie als Übersetzern ihres Herrn an Einfluss gewinnt, von einem mechanisch bewegten Püppchen zu einer emanzipierten Frau: grossartig, auch stimmlich hinreissend, wie Pauline Texier das Wirklichkeit werden lässt. Ihre Freundin Balkis, die sich bei der beeindruckenden Mezzosopranistin Fleur Barron in besten Händen befindet, wird dagegen von der Revolutionärin zur Liebenden.

Dominiert werden die Kräfteverhältnisse freilich von dem durchtriebenen, machtgierigen Mundschenk Bababek, der alle Hebel in Bewegung setzt, aber ein fürs andere Mal den Kürzeren zieht. Was Rodolphe Brand in dieser Partie an sprachlichem Slapstick, stimmlicher Agilität und Bühnenpräsenz vorlegt, ist grosse Klasse. Hochvirtuos sorgt er dafür, dass sich das Rad des Schicksals immer schneller dreht – und wenn dann schliesslich aus der ins Monumentale gewachsenen Hundehütte ein mit Krone und Hermelin versehenes Zwergpinscherchen herausschiesst, ist der Höhepunkt erreicht. Zum Schluss bleibt nur mehr das von der Zensur erzwungene «lieto fine», das in Strassburg als die Krönung eines Kaisers vom Schlage Napoleons III. gezeigt wird. Bitterbös ist das, aber in restloser Übereinstimmung mit Text und Musik.

In ihrer feinsinnigen Deutlichkeit bietet die Produktion zusammen mit dem fundierten Programmbuch allen Anlass, über Offenbach neu nachzudenken. In jüngerer Zeit wurde der Komponist ja gerne als Anpasser dargestellt; mit den Instanzen, zum Beispiel mit dem Kaiser und seiner Administration, habe er sich jederzeit gut zu stellen gewusst, auch wenn er die Hand, die ihn nährte, mit dreister Lust schlug. Indes bringt «Barkouf ou Un chien au pouvoir» bei allem Witz an den Tag, wie kritisch Offenbach den gesellschaftlichen, ja den politischen Verhältnissen seiner Zeit gegenüberstand. Das bestätigt die vier Jahre später entstandene Oper «Les Fées du Rhin». In Wien in einer Übersetzung auf Deutsch aus der Taufe gehoben, erlebte die Originalfassung des Stücks diesen Herbst erst seine Uraufführung: in einer Produktion der Opéra de Tours, die inzwischen ans ‘Musiktheater in Biel und Solothurn übergeben worden ist. Das radikal pazifistische Manifest, das in den «Fées du Rhin» verkündet wird, zeugt in seiner Weise davon, dass Offenbach weit mehr ist als ein Witzbold, ein Meister der allzu leichten Muse und ein Vielschreiber.