Der Geist lebt – und wie

Ertragreiche Wochen beim Lucerne Festival

 

Von Peter Hagmann

 

Diesen Sommer hat es das Lucerne Festival nicht nur mit dem Paradies und seinen Äpfeln, sondern auch mit den alten Instrumenten. Genauer: mit dem Instrumentarium, wie es den Komponisten zur Zeit der Niederschrift ihrer Werke vertraut war wie mit jenen Spielweisen, die sich den überlieferten Quellen entnehmen lassen. Mit der historisch informierten Aufführungspraxis also. Beim Lucerne Festival erhielt diese Spielart der musikalischen Interpretation, heute weit verbreitet und durch einen eigenen, bedeutenden Markt vertreten, bisher vergleichsweise wenig Raum. Sie wurde vielleicht auch nicht ihrer Bedeutung gemäss geschätzt. Nach einem Auftritt des Dirigenten Philippe Herreweghe mit einem seiner Orchester habe er, so verriet der Luzerner Intendant Michael Haefliger, aus dem Publikum eine Reihe deutlich ablehnender Zuschriften erhalten.

Nun also das: gleich drei Abende im Zeichen der historischen Praxis. Und Abende, die nicht nur von der Vielfalt in dieser Art des Musizierens zeugten, sondern auch kapital neue Sichtweisen auf vermeintlich altbekannte Werke eröffneten. So war es bei der konzertanten Aufführung von «Rheingold», dem Vorabend zu Richard Wagners «Ring des Nibelungen», von der vor Wochenfrist an dieser Stelle die Rede war (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 30.09.23). Und so war es vor wenigen Tagen bei der Begegnung mit Joseph Haydns «Jahreszeiten», einem für seine Natürlichkeit, seine Eingängigkeit, ja seine Volkstümlichkeit geschätzten Oratorium. So berührend, so erschütternd, jedenfalls so aufregend habe ich diesen Gang vom Frühling über Sommer und Herbst in den Winter nie gehört. Ermöglicht hat es Giovanni Antonini, der Haydn-Spezialist dieser Tage, der die Erfahrungen, die er im Rahmen der Gesamtaufnahme der Sinfonien Haydns sammelte und weiterhin sammelt, auf das grossangelegte, vierteilige Vokalwerk angewandt hat.

Mit einem schockierenden Schlag hob der Übergang vom Winter zum Frühling in der orchestralen Einleitung an; der Pauker benützte dafür die Griffseite seiner Schlägel und hieb mit aller Kraft aufs Fell. Deutlicher hätte nicht markiert werden können, dass es in den nun folgenden gut zwei Stunden ernsthaft zur Sache gehen würde. Antonini setzt durchwegs auf explizites, ja zugespitztes Musizieren – im Dynamischen, in der Akzentuierung, in der Ausformung des Rhythmischen, auch in der Gestaltung der teilweise atemberaubenden Tempi; nichts gerät hier beiläufig, jeder Ton, jede Geste wird beim Wort genommen. Möglich wird das, weil das in Mailand domizilierte Orchester Il Giardino Armonico, Antoninis Gründung 1985 und seither sein Erfolgsmodell, mit Instrumenten arbeitet, die den Klang der Jahre um 1800 evozieren. Die Streicher verwenden Darmsaiten, die duftige Beweglichkeit ermöglichen, die Bläser mit ihren Instrumenten nach der Bauart jener Zeit steuern äusserst pointierte Farben bei – zumal die hochvirtuosen Naturhörner, die in der herbstlichen Jagdszene durch schallende Jagdhörner ersetzt wurden. Krass klingt das bisweilen und dann wieder flüsterzart, jederzeit aber ausdrucksvoll und packend. Dabei kommt alles aus einem einzigen Guss, die Musik scheint den Fingern des ungeheuer temperamentvoll agierenden Dirigenten zu entspringen.

Dazu kamen der aus dem polnischen Wroclaw angereiste, dort von Lionel Sow betreute NFM-Chor, der Transparenz mit Homogenität verbindet und überwältigende Klangpracht entfaltet, sowie ein hochstehendes Solistenterzett. Florian Boesch (Simon) hielt seinen opulenten Bass perfekt im Zaum; mit natürlicher Frische versah er den Landmann, der in der Frühlingssonne über sein Feld schreitet, mit Augenzwinkern berichtete er im Herbst von den auf der Lauer liegenden Jägern. Der Tenor Maximilian Schmitt (Lukas) liess anfangs noch etwas viel Vibrato hören, fand in seiner sommerlichen Cavatine, in der sich sehr konkret die Hitzewelle 2023 spiegelte, eindrucksvoll zu schaurig ermattetem Ton – spätestens da konnte jedermann bewusst werden, was uns Haydns «Jahreszeiten» bedeuten könnten. Verschmitzt und mit sorgsam eingesetztem Vibrato trug danach die Sopranistin Annett Fritsch (Hanne) die Geschichte von der jungen Bauerntochter vor, die dem Edelmann, der sie mit Geld und Schmuck um den Finger zu wickeln sucht, ein Schnippchen schlägt. Was Interpretation vermag, wie die Kunst der Verlebendigung die Gestalt eines Werks prägen kann, hier war es zu erleben.

Ähnliches gilt für den Auftritt des 1979 eingerichteten, bis heute von seinem Gründer William Christie geleiteten Ensemble Les Arts Florissants. Auch hier gelten die Prinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis – dies aber doch in der ganz persönlichen Handschrift Christies. Der ursprünglich aus Amerika stammende, heute hochdekorierte Franzose strahlt eine auf Anhieb erkennbare Fröhlichkeit aus, er steht auch für eine elegante, geschmeidige Helligkeit des Klangs. Ausgezeichnet zu hören war das bei «The Fairy Queen», der von 1692 stammenden Semi-Opera Henry Purcells, die auf dem Konzertpodium des KKL in halbszenischer Wiedergabe dargeboten wurde. Die vielen Passacaglien, Variationen über einen gleichbleibenden Bass, die in Halbtönen absteigenden Klagelaute, der reich besetzte Basso continuo, das diskret, aber effektvoll eingesetzte Schlagwerk – all das zeugte auch an diesem Abend von der ungebrochenen Vitalität der jahrhundertealten Musik.

Zu erleben war zudem, wie im Kreis rund um William Christie nicht nur instrumental, sondern auch vokal der stilistisch adäquate Zugang gepflegt – und weitergegeben wird. Le Jardin des voix nennt sich die von Les Arts Florissants betriebene Werkstatt, in der junge Sängerinnen und Sänger ihr Handwerk in Sachen alter Musik perfektionieren können. Das ist darum sinnvoll, weil sich bei manchen Aufführungen mit alten Instrumenten die vokale Seite an der heute üblichen Ausprägung des Belcanto orientiert; Willliam Christie hielt das schon in früher Zeit anders. Bei «The Fairy Queen» war ein Ensemble von vier Sängerinnen und vier Sängern mit von der Partie – auf durchwegs respektablem Niveau. Nur war es leider nicht in ausreichendem Masse wahrzunehmen. Denn vor den Instrumentalisten im Hintergrund mischte sich unter die Vokalisten im Vordergrund eine Gruppe von Tänzerinnen und Tänzern, die das musikalische Geschehen sehr heftig und sehr lautstark begleiteten. Der Versuch zu zeigen, dass in der Semi-Opera die Musik nicht die Hauptsache, sondern Teil eines vielfältigen Ganzen darstellte, und das mit heutigen Formen der Körpersprache zu tun, mag zu ehren sein. Im Endeffekt ging er jedoch daneben, denn die von Mourad Merzouki organisierte Körperarbeit hat die zarte Musik Purcells regelrecht zertrampelt.

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Neben der alten gehört auch diesen Sommer die neue Musik zur DNA des Lucerne Festival, und das in Verbindung mit der Förderung nachrückender Generationen. Das war und ist die Aufgabe der von Michael Haefliger zusammen mit Pierre Boulez begründeten und heute von Wolfgang Rihm geleiteten Lucerne Festival Academy. Jahr für Jahr wird seit 2004 eine gute Hundertschaft an jungen Leuten, Komponistinnen, Instrumentalisten, Dirigentinnen, nach Luzern eingeladen, um dort unter kundiger Anleitung die Welt der neuen und neusten Musik zu erkunden. Den Höhepunkt des Unternehmens bildet jeweils der Auftritt des Lucerne Festival Contemporary Orchestra auf dem Podium des KKL: mit einem Programm, das es in sich hat, und mit einem Dirigenten, der auch bei neuster Musik seiner Sache sicher ist. Dieses Jahr war die Finnin Susanna Mälkki dafür auserkoren – das war die denkbar beste Wahl.

Gewiss, «Fett» für Orchester (2018/19) des Deutschen Enno Poppe, seines Zeichens «composer in residence» dieses Sommers, ist ein gewiss leicht zu durchschauendes, wenn auch vielleicht nicht leicht zu spielendes Stück. Es operiert mit klanglichen Blöcken, die sich, nun ja, bekämpfen, wie es in Gesellschaft und Politik unserer Tage die Regel geworden ist. In den Vordergrund tritt dabei eine fein austarierte Mikrotonalität, Augenblicke des Gleitens, des Rutschen, des Jaulens, was beim Zuhören nicht ungerührt lässt. Allein, in dieser Hinsicht gibt es von Poppe bessere Stücke, zum Beispiel «Salz» für Ensemble von 2005. Auch nicht gerade vom Sessel geworfen hat mich «Šu», ein einsätziges Konzert für die chinesische Mundorgel Sheng und Orchester von Unsuk Chin. Unvergessen die 2010 in Genf uraufgeführte Oper «Alice in Wonderland», mit der die Koreanerin einen unerfüllt gebliebenen Wunsch ihres Lehrers György Ligeti in die Tat umgesetzt hat. Im Vergleich dazu wirkte das Mundorgelkonzert etwas trivial – aber vielleicht war diese Wahrnehmung auch die Folge des Auftritts von Wu Wei, des Virtuosen an der Sheng. Amüsant war der, aber nicht mehr.

Mit reinem Sachbezug, untadelig ausgebildetem Handwerk und einer formidablen Präsenz auf dem Podium – damit punktete dagegen Susanna Mälkki. Die von ihr geleitete Wiedergabe von Igor Strawinskys «Sacre du printemps» geriet zu einem grossen Moment des Festivals. Mit energischer, klarer Zeichengebung, souverän in der Bewältigung der komplexen Taktwechsel, aus spürbarer Übersicht über den musikalischen Verlauf heraus führte sie das Lucerne Festival Contemporary Orchestra durch die Klippen der Partitur, und die jungen Leute gaben ihr Letztes. Nicht dass sich sagen liesse, das Orchester habe sich gut entwickelt, es wird ja jedes Jahr neu zusammengesetzt. Aber der Eindruck eines Ritts über den Bodensee, der frühere Aufführungen von Strawinskys Meisterwerk zum «Sacré Sacre» hatten werden lassen, stellte sich an dem heftig bejubelten Abend nicht ein. Im Gegenteil, es war auch hier zu beobachten, was Interpretation bewirken kann. Jedenfalls trat die rituelle Anlage des Stücks klar heraus, ohne dass der Brutalismus die Oberhand über die sehr wohl vorhandene Schönheit der Partitur gewonnen hätte.

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Herzstück und Rückgrat des Lucerne Festival bildet jedoch nach wie vor die dichte Folge an Gastspielen grosser Orchester und ihrer Dirigenten. Das ist auch richtig so; wo in aller Welt lässt sich das in dieser Weise haben? Dabei geht es keineswegs um einen sportlich getönten Wettkampf – um die Frage, welches Orchester nun besser als das andere sei oder gar das beste von allen. Äpfel können nicht gegen Birnen ausgespielt werden, jedes Orchester trägt seine durch vielerlei Faktoren bestimmte Individualität in sich. Hier im engen Zeitraum von vier Wochen Höhen und Tiefen zu erkunden, Entwicklungen zu verfolgen – das bietet Reize von nicht nachlassender Kraft. Jedenfalls für Menschen, die zuzuhören bereit sind.

Vielleicht, ich wiederhole mich, dürfte der Horizont in der Auswahl der gastierenden Klangkörper um ein Weniges erweitert werden. Dass von den Schweizer Orchestern nur das auf bemerkenswerten Pfaden wandelnde Luzerner Sinfonieorchester, nicht aber das ebenso gut aufgestellte Orchestre de la Suisse Romande auftritt, ist kaum nachzuvollziehen. Warum nicht wieder einmal die Tschechische Philharmonie, die mit Semyon Bychkov hervorragende Arbeit an Mahler leistet? Oder das Orchestre philharmonique de Radio France mit Mikko Franck? Ob das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wieder nach Luzern kommt, wenn Simon Rattle dort sein Amt als Chefdirigent angetreten hat? Es dürfte als ausgemacht gelten.

Dass der Dirigent – über dessen Funktion wird nicht erst heute, inzwischen aber besonders kritisch nachgedacht –, dass der Dirigent die entscheidende Rolle spielt, trat in den zurückliegenden Luzerner Wochen wieder in aller Deutlichkeit heraus. Besonders beim Royal Concertgebouw Orchestra, das, seit es 2018 als Folge einer #MeToo-Affäre seinen damaligen Chefdirigenten Daniele Gatti in die Wüste geschickt hat, ohne musikalischen Leiter auszukommen hat. Ebenso geschätzt wie das Orchester aus Amsterdam ist der Dirigent Iván Fischer, zumal wenn er an der Spitze des von ihm gegründeten Budapest Festival Orchestra steht. Was das Concertgebouworkest mit Fischer am Pult diesen Sommer in Luzern bot, war freilich unter beider Seiten Niveau. Das Vorspiel zu Wagners «Meistersingern» geriet grob und pompös, ja pathetisch, während die Siebte Sinfonie Gustav Mahlers manche technische Schwäche im Zusammenspiel offenbarte – als ob der Dirigent das komplexe Stück aus dem Ärmel hätte schütteln wollen. Mehr Glück hatte Klaus Mäkelä, der 2027 die Position des Chefdirigenten beim Concertgebouworkest antreten wird. Allerdings nicht mit Mahler. Dessen Sinfonie Nr. 4 in G-dur, die der junge Finne mit dem von ihm seit 2020 geleiteten Oslo Philharmonic im KKL darbot, zeugte gerade im Finale mit der lieblichen Sopranistin Johanna Wallroth vom Paradies, liess aber wenig von jener Gebrochenheit erkennen, die das Werk Mahlers trägt. Aber Mäkelä ist ja erst siebenundzwanzig. Und die siebte Sinfonie von Jean Sibelius, bei der Mäkelä das rhapsodische Fortschreiten optimal im Griff behielt und das Orchester zu aller Pracht führte, sprach vom Potential dieses genuin wirkenden Dirigenten.

Die Zusammenarbeit zwischen einem Orchester und einem Dirigenten erfordert einen langen Atem, das ist bekannt. Wohin die Reise im besten Fall führen kann, machte der erste der beiden traditionellen Auftritte der Berliner Philharmoniker ohrenfällig. Seit 2019 steht Kirill Petrenko an deren Spitze, und nun war zu erkennen, was hier grossartig gewachsen ist. Mit Max Regers Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart boten die Berliner ein deutliches Plädoyer für einen zu Unrecht vergessenen Komponisten. Dann allerdings «Ein Heldenleben» von Richard Strauss: ein Musterbeispiel an orchestraler Kunst wie an kluger Interpretation. Die Berliner gaben sich der gerade auch in ihrer Ironie meisterlichen Tondichtung mit ihrer ganzen Klangpalette hin (und die Konzertmeisterin Vineta Sareika-Völkner liess des Komponisten Gattin munter singen), während Petrenko das dichte Geflecht der Partitur auflichtete und wie ein zartes Spinnengewebe erscheinen liess. Nichts war da aufgesetzt, nichts süsslich, es herrschten Gelassenheit und Ruhe – und so blieb der Saal auch in den nirgends verkürzten Pausen mucksmäuschenstill. Allein, das war noch nicht das Nonplusultra, dafür sorgten das Gewandhausorchester Leipzig und der inzwischen nicht weniger als 96 Jahre alte Meister Herbert Blomstedt mit einer Auslegung von Anton Bruckners Sinfonie Nr. 7, die einen sprachlos zurückliess. Selbstverständlich lag auf des Dirigenten Pult die neue Ausgabe der Sinfonie von Paul Hawkshaw, sie blieb aber geschlossen, denn Blomstedt gab das Werk ganz aus seinem Inneren, aus einer lebenslang gewachsenen und zugleich uneingeschränkt gegenwärtigen Einfühlung heraus. Und in einer Demut vor der Grösse des Kunstwerks, die zu unbeschreiblicher interpretatorischer Eindringlichkeit führte. Da stimmte einfach, was stimmen muss. Das Gewandhausorchester stellte sich ganz nah an seinen früheren Chefdirigenten heran und wuchs über sich heraus.

Wenn der Geist über den Körper triumphiert: Herbert Blomstedt vor dem Gewandhausorchester / Bild Patrick Hürlimann, Lucerne Festival

Kein Ende der Geschichte

Bachs h-moll-Messe mit William Christie

 

Von Peter Hagmann

 

Als bei der Osterausgabe des Lucerne Festival 2015 – die entsprechende CD folgte wenig später – John Eliot Gardiner seinen Blick auf die Messe in h-moll von Johann Sebastian Bach vorstellte, konnte man sich an einen Endpunkt in der Kunst der musikalischen Interpretation versetzt fühlen. Derart kompakt und zugleich agil klang der Monteverdi Choir, derart ausdrücklich sprachen die English Baroque Soloists die Musik aus, dass sich ein non plus ultra nicht denken liess. Das Ende der Geschichte gibt es natürlich keineswegs, die klingende Kunst ist ein lebendig Ding, das sich als solches von Tag zu Tag verändert – und gerade darum weiterlebt. Nichts macht das besser greifbar als die jüngste CD mit William Christie und den Mitgliedern des von ihm gegründeten Ensembles «Les Arts Florissants». Sie gilt der h-moll-Messe Bachs und stellt interpretatorisch nicht weniger als eine Art Gegenentwurf zur Deutung Gardiners dar.

Einen nicht nur äusserst valablen, sondern auch einen sehr anregenden Gegenentwurf. Dass die h-moll-Messe als Kulmination in der vokalen Polyphonie Bachs, ja als Summe seines künstlerischen Lebens gesehen werden muss, steht auch für Christie fest; er lässt es in der bei Harmonia mundi erhältlichen CD durch einen fundierten Text des renommierten Bach-Forschers Christoph Wolff darlegen. Christie selbst fügt diesen Ausführungen indessen Gedanken an, die erkennen lassen, dass er die h-moll-Messe nicht nur als Vermächtnis, nicht nur als Denkmal wahrnimmt, dass er in ihr vielmehr auch hört, wie vital Bach auf seine musikalische Umwelt reagiert hat. Darum trägt die Messe bei Christie weniger den Charakter eines feierlichen Schlusspunkts. In seiner Auslegung klingt sie eher wie ein Moment fröhlich belebter Gegenwärtigkeit.

Das wird gleich im eröffnenden «Kyrie» hörbar. Während der Chor bei Gardiner gerade darum frappiert, weil er in seiner unglaublichen Homogenität wie mit einer einzigen Stimme zu sprechen scheint, gibt sich das etwas kleiner besetzte Vokalensemble der «Arts Florissants» bewusst als eine Gruppierung einzelner Stimmen. Nicht alles ist da auf Klangverbindung und Abmischung ausgerichtet, es sind durchaus stimmliche Individualitäten hörbar, auch ein die Homogenität brechendes Vibrato und ein fast laszives Portamento treten da und dort auf. Dafür herrscht eine unerhörte Beweglichkeit, die bis zur makellosen Ausführung von Verzierungen reicht, wie sie sonst nur in der solistisch besetzen Instrumentalmusik üblich sind.

In ähnlicher Weise leichtfüssig bewegt sich das stilistisch hochgradig versierte Instrumentalensemble, das im Generalbass neben der im sakralen Kontext obligaten Orgel ein Cembalo einsetzt. An ihm wirkt der Dirigent William Christie, der hier nicht nur als Dirigent agiert, sondern sich auch als Musiker zu den Musikern gesellt. So stellt sich denn auch ein Geist der Kammermusik ein, der den ins Grosse, ja Majestätische zielenden Tonfall vieler Aufführungen der h-moll-Messe, auch jener mit Gardiner, aus den Angeln hebt, ohne dass dadurch jedoch die Musik Bachs verkleinert würde. Interpretation, auch wenn sie ganz und gar dem Text verpflichtet bleibt, kann schon ausserordentlich wirksam werden.

Eindrucksvoll auch die Solisten. Mit ihrem hellen Sopran bildet Katherine Watson, die keineswegs aufs Vibrato verzichtet, es aber ebenso gekonnt wie lustvoll einsetzt, einen munteren Diskant. Während Tim Mead mit seinem klar zeichnenden Countertenor markante Kontraste einbringt und in seiner Arie «Qui sedes ad dextram patris» mit einem enorm weiten Atem auffällt. Grossartig in Timbre wie Stimmführung der Tenor Reinoud Van Mechelen, leuchtend der Bass von André Morsch, der die vom Jagdhorn und den beiden Fagotten konzertant belebten Arie «Quoniam tu solus sanctus» zu einem Höhepunkt macht. Aufnahmen, die in so reichem Masse zum Mitdenken anregen, wie sie Hörlust erzeugen, sind alles andere als alltäglich.

Johann Sebastian Bach: Messe in h-moll BWV 232. Katherine Watson (Sopran), Tim Mead (Countertenor), Reinoud Van Mechelen (Tenor), André Morsch (Bass), Les Arts Florissants, William Christie. Harmonia mundi 8905293.94 (2 CD). Die Edition erscheint am 9. März 2018.