«Gehorsam wie ein Kind»

«Arabella» von Richard Strauss in Zürich

 

Von Peter Hagmann

 

Ein Ball, ausgerichtet von den bankrotten Waldners. Oben in der Mitte die Ballkönigin Arabella (auf dem Bild Julia Kleiter, an der Premiere im Opernhaus Zürich sang Astrid Kessler), unten in der Mitte ihr spielsüchtiger Vater Graf Waldner (Michael Hauenstein), links aussen ihr Bräutigam Mandryka (Josef Wagner) / Bild Toni Suter, Opernhaus Zürich

Für eine bedeutende gesellschaftliche Schicht des ehemaligen k.u.k-Reichs lag nach 1918 nicht nur die Welt, sondern ihre Existenz ganz allgemein in Trümmern. Österreich war zu einem Rumpfstaat geworden, die Geldbeutel waren leer, die Ausrufung der Republik, das Aufstreben der Linken und die manifeste Emanzipation der Frauen hatten zu einer gesellschaftlichen Umwälzung sondergleichen geführt – und draussen vor der Tür scharrten die Unzufriedenen, die sich unterm Hakenkreuz eine bessere Zukunft erhofften.

In diesem Umfeld entstand «Arabella», die letzte Zusammenarbeit zwischen Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, der kurz nach Vollendung des Librettos 1929 starb. Für Strauss war die Vertonung des Textes Ehrensache, aber auch Pflicht, wie die nicht durchgehend attraktive Partitur hören lässt. Vielleicht standen dem Komponisten auch die Zeichen der Zeit im Weg. Bei der Uraufführung der «Lyrischen Komödie» im Sommer 1933 war Hitler ein halbes Jahr an der Macht und konnte Strauss trotz seiner Position als Präsident der Reichsmusikkammer nicht verhindern, dass am Opernhaus Dresden der Dirigent Fritz Busch wie der Intendant Alfred Reucker seiner Funktionen enthoben wurden. An Buschs Stelle stand bei der Uraufführung der von Hitler geschätzte Clemens Krauss am Dirigentenpult.

Etwas von diesem Umfeld sucht Robert Carsen in seine Inszenierung von «Arabella» am Opernhaus Zürich aufzunehmen – dies im Bemühen, dem in seiner dramaturgischen Anlage, vor allem aber in seiner Aussage schwierigen Stück einigermassen beizukommen. «Arabella» spielt in Zürich nicht, wie es Hofmannsthal gewünscht hat, um 1860, sondern um 1930, und zwar in der Halle jenes vornehmen Wiener Hotels, in das sich die Familie des ruinös spielsüchtigen Grafen Waldner zurückgezogen hat. In der erlesenen Ausstattung von Gideon Davey dominieren Kostüm und Dreiteiler, Robe und Frack sowie schwarze Nazi-Uniformen von eigener Eleganz, deren Träger am Ende, einen Lidschlag vor dem finalen Blackout, der verschreckten Gesellschaft mit gezogenen Pistolen zu verstehen geben, dass jetzt endgültig die neue Zeit angebrochen ist.

Der Versuch, das Stück aus den Jahren seiner Entstehung heraus zu verstehen, ist ehrenwert, gelingt aber nicht wirklich. Die Nazi-Symbole erscheinen als verharmlosende Opern-Staffage, obwohl das von Philippe Giraudeau choreographierte Ballett vor dem dritten Akt die Verbindung zwischen dem von der Fiaker-Milli repräsentierten Volkstum und dem Nationalsozialismus krass herausstellt. Im Vordergrund stehen trotz allem der irritierend ungebrochene Abgesang auf die Welt von gestern und das Feiern eines Frauenbilds, mit dem, wenn nicht kritisch, so doch wenigstens neutralisierend umzugehen wäre – so wie es Christof Loy 2014 in Amsterdam überzeugend getan hat. Für mein Dafürhalten gibt es auch eine Unschärfe im gedanklichen Ansatz der Inszenierung. Die Veränderung in der gesellschaftlichen Rolle der Frau, wie sie vom Roten Wien nach 1918 so energiegeladen und so erfolgreich vorangetrieben worden ist, sie ist genau von jenen konservativen Kreisen, denen sich die Nationalsozialisten verbunden fühlten, bekämpft und schliesslich unterbunden worden. Warum sollten ausgerechnet die Nationalsozialisten die frivole Gesellschaft rund um Arabella mit Waffengewalt zusammentreiben?

«Gehorsam wie ein Kind» wolle sie als Gattin sein, so singt Arabella. Ob sie es wirklich will, ob sie wollen soll – es bleibt auch bei Carsen offen. Astrid Kessler, die sehr kurzfristig für die erkrankte Julia Kleiter eingesprungen ist und damit die Premiere gerettet hat, bringt ihre Partie, die so gern als die seelische Reifung eines jungen Mädchens aus gutem Hause gesehen wird, mit untadeliger Technik, mit bestechender Disposition der Kräfte und allem Liebreiz in der Stimme zum Ausdruck. Nicht immer dringt sie durch. Das in die Höhe strebende Bühnenbild schafft den Darstellern akustische Probleme, und nicht zuletzt greift die Philharmonia Zürich (Leitung: Fabio Luisi) immer wieder zu dickem Pinsel.

Etwas zu schaffen macht das auch Daniel Behle, der als Matteo durchgängig am Rand des Nervenzusammenbruchs zu stehen hat. Grossartig Valentina Farcas als Zdenka, die von ihren Eltern aus finanziellen Gründen zum Buben gemachte Schwester Arabellas, die recht eigentlich als das Zünglein an der dramaturgischen Waage wirkt. Ein Rollenporträt von enormer psychologischer Spannbreite und grandioser stimmlicher Ausstrahlung schafft Josef Wagner als der neureiche Gutsbesitzer Mandryka, der zum Schluss von Arabella das Glas Wasser überreicht bekommt, mit dem die Braut dem Bräutigam ihre Unterwerfung anzeigt. Ihm stehen mit Gräfin Adelaide, der witzig karikierenden Judith Schmid, und mit dem bankrotten Grafen Waldner, dem imposanten Michael Hauenstein, zukünftige Schwiegereltern gegenüber, die am Gefälle zwischen den Schichten wenig Zweifel lassen. «Arabella» ist auch eine Komödie über den Sozialstatus, und der Sozialstatus ergibt sich hier eins zu eins aus dem Portemonnaie. Insofern hat das Stück keineswegs nur mit der Welt von gestern zu tun.

Robert Carsen – Handwerk und Kunst

 

orfeo
Charon (Nicolas Courjal) steuert auf Orpheus (Fernando Guimarães) zu: «L’Orfeo» von Claudio Monteverdi in der Oper Lausanne / Bild M. Vanappelghem, Opéra de Lausanne

 

Peter Hagmann

Den Mythos ins Präsens gesetzt

Monteverdis «Orfeo» mit Ottavio Dantone und Robert Carsen in Lausanne

 

Eigenartig fern ist die Geschichte von jenem jungen Mann, der seine heiss geliebte, eben geehelichte, wenig später jedoch durch einen Schlangenbiss wieder verlorene Gattin aus der Unterwelt ins Leben zurückzuholen sich vorgenommen hat. Und dies durch die Kraft der Musik, auf die er sich als Sänger und Virtuose auf der Lyra wie kein Zweiter versteht. Claudio Monteverdi hat den Mythos von Orpheus und Eurydike vor gut vierhundert Jahren in eine Oper gefasst – als eines der ersten Stücke dieser Gattung. In der Opéra de Lausanne ist von Distanz nicht das Geringste zu spüren, das Geschehen wirkt musikalisch wie szenisch so präsent, als entstamme es der Gegenwart.

Das ist es, was Robert Carsen in einer ganz besonderen Weise kann. Vor dreissig Jahren hat der kanadische Regisseur in Lausanne seine erste grosse Operninszenierung vorgelegt – nicht weniger als «Ariadne auf Naxos» von Richard Strauss. Jetzt ist er, berühmt geworden, allerorts begehrt, aber frei von jeglicher Starallüre, an den Ort seines Aufbruchs zurückgekehrt. Und hat vorgezeigt, in welchem Mass ihm handwerkliches Können und künstlerisches Empfinden zugewachsen sind. Ersteres erweist sich zu Beginn: dort, wo «L’Orfeo» noch nicht wirklich Oper ist. Weit offen hält Radu Boruzescu die Bühne, der Boden ist mit Blütenblättern in Rot-, Gelb- und Grüntönen bedeckt, und in der gleichen Farbskala sind die sommerlichen Kostüme gehalten, die Petra Reinhardt für die fröhlich tanzende Gruppe junger Leute entworfen hat. Unter ihnen mit Orpheus und Eurydike das junge Paar, dessen Liebe noch scheu wirkt. Das ist jener Ästhetizismus, der jedem Verächter des Regietheaters Labsal schafft.

Wie das tragische Schicksal seinen Lauf nimmt, verdüstert sich das Bild – grossartig, wie effektvoll Carsen hier als sein eigener Beleuchtungsmeister Gegen- und Seitenlicht einsetzt. Als eine ausstrahlungsmächtige, stimmlich souveräne Botin verkündet Josè Maria Lo Monaco den Tod Eurydikes. Womit in die schönen Bilder Carsens jene scharf gezeichneten Charaktere treten, die diesem Regisseur immer wieder gelingen, selbst im Umfeld eines eben nur scheinbar fernen Mythos. In seiner Verzweiflung, in seinem Aufbegehren gegenüber den Mächten der Unterwelt wird Orpheus zu einem Menschen von bebender Vitalität, und zugleich zeigt sich Fernando Guimarães den heiklen stilistischen Anforderungen seiner Partie hervorragend gewachsen – was die begrenzte Dynamik seiner Stimme vergessen lässt.

Mit Nicolas Courjal, der einen glänzenden Bass von präziser Lineatur ins Spiel bringt, stellt sich dem fordernden Orpheus die Unerbittlichkeit des Todes entgegen, doch führt die Kraft der Musik dazu, dass sowohl beim Schiffer Charon als auch bei Pluto, dem Herrscher der Unterwelt, das Eis des Amtes rasch schmilzt. Selbst Plutos Frau Proserpina, von Delphine Galou mit klangvoller Tiefe gesungen, entdeckt wieder die Reize des Erotischen; sie überlässt ihrem Gatten erst maliziös einen Lederhandschuh, bevor sie ihn dann ihren schweren schwarzen Umhang abstreifen lässt. Das alles auf einem Boden, der tief unten liegt und darum von Wasser bedeckt ist – das gehört zur Prägnanz der szenischen Bilder, mit denen Carsen zu arbeiten pflegt.

Dort aber kommt es dann zu jenem Moment, da Eurydike ihrem Gemahl in das vermeintlich wiedergewonnene Leben folgt. Die Insistenz, mit der Federica Di Trapani die Augen auf den Rücken des vorangehenden Mannes heftet, schafft ein Theaterbild, das sich der Erinnerung einprägt – genau gleich, wie es die Intensität tut, mit der sie ihre Hingabe in Klang fasst. Überhaupt steht der Abend im Zeichen einer innigen Verbindung zwischen dem Szenischen und dem Musikalischen. Robert Carsen reagiert sensibel auf die überraschenden Harmoniewechsel in Monteverdis Musik, und Ottavio Dantone am Pult bereitet ihm den Boden dafür.

Der italienische Cembalist, der zusammen mit seinen Mitstreitern an Harfe, Laute, Gitarre, Theorbe, Orgel und Regal für einen äusserst farbenprächtigen, vielgestaltigen Generalbass sorgt, hält das Geschehen bisweilen nur mit der Linken zusammen, formt es aber jederzeit entschieden. Dass das Orchestre de Chambre de Lausanne auf konventionellen Instrumenten spielt, natürlich ergänzt durch Zinken und alte Posaunen, ist nicht wirklich von Belang; entscheidend ist vielmehr der Geist – und es ist der einer historisch informierten Aufführungspraxis neuer Generation. Da ist nichts mehr zu beweisen oder gar durchzusetzen wie 1975, als Nikolaus Harnoncourt «L’Orfeo» am Opernhaus Zürich der Jetztzeit wieder erschlossen hat. Deshalb neigt auch nichts zum Demonstrativen. Das Sprechende gerät vielmehr ganz selbstverständlich, flüssig und geschmeidig. Und die fremdartigen Harmonien wie die immer wieder überraschend eintretenden Dissonanzen fügen sich zu einem Ganzen, das von tief berührender Wirkung ist.

Vorstellungen bis 12. Oktober.