«Eiger», eine Oper von Fabian Müller und Tim Krohn, in Solothurn
Von Peter Hagmann
Wer erinnert sich nicht an die Bilder von der Kleinen Scheidegg. Dicht gedrängt stehen die Menschen, gespannt blicken sie durch ihre Feldstecher auf ihn: den Eiger und seine steil abfallende Nordwand. Winzig klein, der extremen Natur ausgesetzt, hängen dort Alpinisten in ihren farbigen Seilen. Ihr Weg führt durch Schreckensorte wie den Eisschlauch, das Bügeleisen und das Todesbiwak hin zum Gipfel auf 3967 Meter über Meer – wenn sie es denn schaffen, wenn sie nicht ausrutschen, von herabfallenden Steinen getroffen, von Gewittern überrascht oder von Lawinen in die Tiefe gerissen werden. Im Sommer 1935 unternahmen die beiden Münchner Max Sedlmayr und Karl Mehringer einen Versuch, die Eigernordwand zu bezwingen. Er endete im Tod der Bergsteiger; zur Rettung taugliche Helikopter gab es damals noch keine. Ein Jahr später stiegen eine deutsche und eine österreichische Zweierseilschaft in die Wand, beide im Zeichen nationalistischen Gedankenguts, die Österreicher zudem Mitglieder der SA. Auch sie scheiterten und bezahlten den Wagemut mit dem Leben. Wenn das kein Stoff für eine Oper ist…
Sagte sich der Schweizer Komponist Fabian Müller, dem es der Eiger ohnehin angetan hatte. 2004 legte er eine Sinfonische Dichtung mit dem Titel des Bergs vor, sie wurde im gleichen Jahr durch das Lettische Nationale Sinfonieorchester unter der Leitung von Andris Nelsons in Interlaken aus der Taufe gehoben. Die Idee, das Orchesterwerk zur Oper werden zu lassen, liess den Komponisten nicht los. Schliesslich bat er den Schriftsteller Tim Krohn, ihm ein Libretto über die Eigernordwandtragödie von 1936 zu schreiben. Herausgekommen ist eine Bühnenvorlage, die es in sich hat. Ganz nah kommen einem die vier Schicksalsgenossen, man erfährt viel über den Mythos dieses Bergs, über Männlichkeit und Ehrgeiz, über das Konkurrenzdenken, über Schicksalsschläge und deren fatale Folgen. Der Tod ist allgegenwärtig. Einer wird von einem Stein getroffen; er verliert die Kraft, wird den anderen zur Last und hängt schliesslich tot an jenem Seil, das seinem Kameraden die Luft abschneidet. Ein dritter wird von einem Schneebrett hinweggefegt, der vierte schafft es am Ende nicht, das rettende Seil zu Hilfe geeilten Bergführers zu greifen. Das alles wird unerhört drastisch geschildert und schafft eine Spannung wie in einem Krimi.
Zumal die Vertonung handwerklich geschickt und äusserst erfindungsreich ihre eigene Erzählebene schafft. Fabian Müller ist in der Volksmusik aufgewachsen und diesem Genre auf vielen Ebenen bis heute treu. Zugleich hat der 1964 geborene Aargauer in Zürich bei Claude Starck Violoncello und bei Josef Haselbach Komposition studiert. Vielfach angeregt wurde er durch Begegnungen in den USA, namentlich beim Aspen Festival, wo er David Zinman kennengelernt hat. Zinman hat ihn kräftig gefördert – und die, wenn man es so generell sagen kann, amerikanische Ästhetik hat ihn erheblich beeinflusst. Fabian Müller pflegt ein eklektisches Denken – und so erstaunt nicht, dass er keinem der tonangebenden Zirkel angehört. Vor dem Tonalen hat er ebenso wenig Scheu wie vor der Dissonanz. Das kennzeichnet auch seine Oper: die Stilebenen überlagern sich phantasievoll und entwickeln eine ganz eigene Gestik. Dass dem knapp eineinhalbstündigen Einakter eine Sinfonische Dichtung zugrunde liegt, ist nicht zu überhören; das Orchester spielt eine wichtige Rolle, nicht zuletzt in den zahlreichen rein instrumentalen Passagen (beim Bergsteigen kann schliesslich auch nicht pausenlos gesprochen werden). Insgesamt wirkt die Musik fast filmisch untermalend, sie weist aber auch Zeichen auf, die sich als programmatisch empfinden lassen.
So nimmt die im Auftrag von Theater-Orchester Biel-Solothurn vollendete Komposition Fabian Müllers die Attraktivität von Tim Krohns Libretto ungeschmälert auf; der Abend ist jedenfalls im Nu vorbei. An der Premiere im stimmungsvollen Stadttheater Solothurn – die Uraufführung hat vor einigen Wochen in Biel stattgefunden – gelang dem Sinfonie-Orchester Biel-Solothurn unter der Leitung seines Chefdirigenten Kaspar Zehnder nicht ganz alles, bisweilen herrschte in dem kleinen Raum auch etwas viel Lautstärke; die fassliche, aber nicht einfache Partitur wurde dennoch auf hohem Niveau dargeboten. Besonders eindrucksvoll Alexander Kaimbacher als der heimliche Anführer und bis zuletzt auf Rettung hoffende Toni Kurz. Nichts zu wünschen übrig lässt Robert Koller als der durch seinen gefährlichen Quergang in der Eigernordwand verewigte Deutsche. Sehr charakteristisch auch Wolfgang Resch als Eduard Rainer, der eine der beiden Österreicher, und Jonathan Macker als der vom Stein getroffene Willy Angerer (die Namen der vier Bergsteiger entsprechen der historischen Wirklichkeit). In kleineren Aufgaben bewähren sich Konstantin Nazlamov als Retter und die junge Natalia Pastrana als Berggeist.
Auf der Bühne von Alain Rappaport und in den präzise zeichnenden Kostümen von Sabine Blickenstorfer kann sich das Ensemble uneingeschränkt entfalten – und das heisst hier viel. Die Regisseurin Barbara-David Brüesch zeigt die Geschichte nicht einfach eins zu eins als Aufstieg und Fall in der Schicksalswand, sondern vielmehr in der Erinnerung Albert von Allmens (Walter Küng), des Streckenwärters der Jungfraubahn, der wenig zu sprechen hat, die Atmosphäre des Abends durch seine Präsenz jedoch entscheidend prägt. Schauplatz ist jenes Restaurant auf der Kleinen Scheidegg, wo sich durch hölzern gerahmte Fenster (und bei Bedarf eben mit dem Feldstecher) die Eigernordwand beobachten lässt. Liebevoll ist das Interieur ausgestaltet und belebt: durch Aromat, Kaffee fertig und ein veritables Fondue, das die hinreissend agierende Bedienerin (Adi Denner) virtuos serviert. Wenn Steine fallen, und sie fallen reichlich, stürzen Abdeckungen aus Holz zu Boden, so dass der Berg nach und nach zum Vorschein kommt. Auf dem solcherart entstehenden Gerüst tummeln sich die vier Bergsteiger-Sänger in einer Art, dass man den Atem anhält. Am Schluss wischt man sich einen Schweisstropfen von der Stirn.
Nach «Casanova» von Paul Burkhard (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 04.11.20) ist dem Theater-Orchester Biel-Solothurn ein weiterer Coup gelungen. Man kann nur bewundern, was dem kleinen, von Dieter Kaegi ebenso sicher wie einfallsreich geleiteten Haus gelingt.