Aussergewöhnliches nebst Alltäglichem

Lucerne Festival:
Die Wiener Philharmoniker mit Christian Thielemann

 

Von Peter Hagmann

 

Nun also, eine Woche vor dem Gran Finale beim Lucerne Festival mit den wunderbaren spätromantischen «Gurre-Liedern» von Arnold Schönberg, nun also die Wiener Philharmoniker mit ihrem derzeitigen Lieblingsdirigenten Christian Thielemann. Das war darum von Interesse, als das Programm des zweiteiligen Luzerner Gastspiels die erste Sinfonie Anton Bruckners enthielt. Allerdings nicht in der doch wesentlich spannenderen Originalversion von 1865/66 – Bruckner war damals etwas über zwanzig Jahre alt und äusserst mutig –, sondern in der 1890/91 zur Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Wien geschaffenen Zweitfassung. In dieser Gestalt haben die Wiener Philharmoniker, die sich in jenen Jahren lange gegen die Musik Bruckners gesträubt hatten, die c-Moll-Sinfonie aus der Taufe gehoben, und so erscheint sie auch in der vorzüglichen Gesamtaufnahme der Sinfonien Bruckners, die das Orchester zusammen mit Thielemann 2023 bei Sony vorgelegt hat (vgl. «Mittwochs um zwölf» vom 26.06.24).

Allein, die Aufführung im Konzertsaal des Luzerner KKL vermochte nicht zu überzeugen. Grob im Klang, hart in der Artikulation und über weite Strecken viel zu laut wirkte sie – jedenfalls für den Zuhörer, der auf einem für diese Musik wenig geeigneten Platz in der fünften Reihe des Parketts sass, sozusagen zu Füssen des Dirigenten. Von der federnden Eleganz, von der strukturbetonten Transparenz, die der Lautsprecher in Aussicht gestellt hatte, nicht die Spur – schade für die Gelegenheit, ein im Konzertbetrieb zu Unrecht übergangenes Werk zu entdecken. Wie sich Bruckners Erste mit Gewinn anhören lässt, macht eine neue Aufnahme mit dem Gürzenich-Orchester Köln und seinem damaligen, bekanntlich nicht ganz unumstrittenen, als Interpret jedoch fabelhaften Chefdirigenten François-Xavier Roth deutlich (Myrios 035). Hier geht es um die Erstfassung aus Linz, hier wird mit jugendlich frischen Tempi zugegriffen, und der Klang ist so geformt, dass die Hauptsachen klar in den Vordergrund treten und nicht im Gewühl des Gesamtbilds untergehen.

Ganz anders am Abend zuvor «Ein Heldenleben» von Richard Strauss, verfolgt auf einem Platz auf dem zweiten Balkon. Eine Riesenbesetzung war auf dem Podium versammelt, erklungen ist aber reinste Kammermusik – so licht und duftig gelang das von Thielemann subtil gesteuerte Klangbild. Nicht dass der kräftige Ton keinen Platz gehabt hätte, keineswegs, aber er war eingebettet in ein dicht gewobenes Spinnennetz von Klängen und Motiven. Die Wiener Philharmoniker führten vor, dass sie wie kaum ein Orchester sonst in der Lage sind, dergestalt ziselierten Klanggewebe herzustellen. Ob «Ein Heldenleben» tatsächlich ein Selbstporträt des Komponisten mit Gattin und Feinden darstelle, wie viele Gramm Ironie, wenn überhaupt, in der Partitur stecke, ob darin nicht, wie man im Gefolge Theodor W. Adornos denken musste, ein Zuviel an Eitelkeit stecke – diese Fragen stellten sich nicht. Mit seinem nicht nur akkuraten, sondern auch pointierten Zugriff lieferte der Konzertmeister Rainer Honeck in den ausführlichen Einwürfen der konzertierenden Geige, dem Werben, dem Tuscheln, dem Schimpfen der Gattin, in seiner Weise die Antworten dazu.

Bei den Wiener Philharmonikern, das ist bekannt, kann Aussergewöhnliches direkt neben Alltäglichem stehen. So am ersten Abend bei der Sinfonie Nr. 3, der «Schottischen» in a-Moll, von Felix Mendelssohn Bartholdi. Sie kam in philharmonischer Routine daher – solide und gepflegt, doch in keinem Augenblick weltbewegend. Muss das denn sein? Bei einem Orchester dieses Rangs schon, angesichts der Bewegung auf der Ebene der Mendelssohn-Interpretation erst recht. Etwas aktiver zeigten sich die Wiener Philharmoniker am zweiten Abend, dies gegenüber der jungen Cellistin Julia Hagen, die mit dem Orchester und in Luzern debütierte, weil sie den Young Artist Award gewonnen hat. Im Jahre 2000 von Michael Haefliger, dem Intendanten des Lucerne Festival, im Verein mit der Credit Suisse eingerichtet und inzwischen von der UBS übernommen, hat der alle zwei Jahre ausgerichtete Preis, der von einer fünfköpfigen Jury im Berufungsverfahren vergeben wird, einige der besten Musikerinnen und Musiker der jüngeren Generation gefördert. Unter ihnen eben Julia Hagen, die sich mit Robert Schumann und seinem Cellokonzert in a-Moll vorstellte. Sehr kantabel, sehr poetisch, dabei durchaus temperamentvoll nahm die junge Salzburgerin aus einer bekannten musikalischen Familie ihren eher konzertierenden als solistischen Part, im zweiten Satz trefflich sekundiert vom Solocellisten Peter Somodari. Der Solidarität des Orchesters konnte sich die Solistin jederzeit sicher sein.

Jedes Orchester verfügt über eine eigene Persönlichkeit, bei den Wiener Philharmonikern tritt sie besonders heraus. Dass infolge der Internationalisierung des Musikbetriebs alle Orchester gleich klängen – nichts ist falscher als diese oberflächliche Aussage des aus Estland stammenden, weitgereisten Dirigenten Neeme Järvi. Beim Lucerne Festival, bei dem neben der kräftig erweiterten Vertretung der neuen Musik und der intensiven Erkundung alternativer Darbietungsformen die Orchestergastspiele das Rückgrat des Programms bilden, lässt es sich überprüfen. Natürlich kommen alle diese Orchester von irgendwoher und haben sie an ihren angestammten Sälen die nach Luzern gebrachten Programme erprobt. In einer derart engen Abfolge der Auftritte, wie sie am Vierwaldstättersee geboten wird, erschliesst sich dem Konzertbesucher die Vielfalt der Orchesterlandschaft jedoch in einer Weise, deren Einzigartigkeit nirgendwo sonst erreicht wird – vom Eigengewächs des Lucerne Festival Orchestra und des Lucerne Festival Contemporary Orchestra ganz zu schweigen. Nach Luzern brauche man nicht zu fahren, dort werde bloss wiederholt, was schon anderswo erklungen sei – die saloppe Bemerkung, die gerade aus Deutschland nicht selten zu vernehmen ist, hat sich auch diesen Sommer wieder als peinliches Vorurteil entpuppt.