Reines Glück

Die Sinfonien Anton Bruckners mit den Wiener
Philharmonikern und Christian Thielemann

 

Von Peter Hagmann

 

Nun liegt sie vor, die majestätische Box mit den Sinfonien Anton Bruckners, welche die Wiener Philharmoniker mit Christian Thielemann am Pult zwischen 2019 und 2022 zur Hauptsache im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins, in drei Fällen auch im Grossen Festspielhaus Salzburg aufgenommen haben. Es ist das erste Mal, dass die Wiener Philharmoniker, die mit der Musik Bruckners seit ihrem Entstehen genuin verbunden sind, diesen Werkkomplex als Zyklus mit ein und demselben Dirigenten erarbeitet haben. Und es ist eine der eher wenigen Ausgaben, die nicht nur die acht vollendeten Sinfonien Bruckners und die unvollendete neunte, sondern auch die vor der Ersten entstandene «Studiensinfonie» sowie die sogenannte Nullte aus den Jahren vor der Zweiten enthält.

Das Projekt bildet einen Markstein in der reichhaltigen, ausserordentlich vielschichtigen Rezeptionsgeschichte der Sinfonien Bruckners. Es reiht sich ein in den Korpus der Gesamtaufnahmen, der von den herben, spätromantisch geprägten Arbeiten des Schweizers Volkmar Andreae am Pult der Wiener Symphoniker aus dem Jahre 1953 über die Phase des perfekt austarierten Schönklangs bei Herbert von Karajan in den sechziger und siebziger Jahren und die extreme Verlangsamung der Tempi bei Sergiu Celibidache ab 1987 hinführt zu einem strafferen Bruckner-Bild bei Michael Gielen und Günter Wand an der Wende zum 21. Jahrhundert und zu der neuen Emotionalität von Bernard Haitink und Nikolaus Harnoncourt in der jüngsten Vergangenheit.

In diesem Kosmos nimmt der bei Sony erschienene Wiener Bruckner-Zyklus einen ganz besonderen Platz ein. Zunächst aufgrund der engen Verbindung der Wiener Philharmoniker mit Christian Thielemann, die der Dirigent uneingeschränkt als freundschaftlich bezeichnet – und das will etwas heissen bei einem Orchester, das seine Dirigenten in hohem Masse selbst bestimmt und dabei, um es mild auszudrücken, sehr wählerisch sein kann. Tatsächlich erhalten die Wiener von Thielemann, was sie sich als erstes zu erhalten wünschen: die Freiheit zu musizieren. Der doch auch unpreussische Preusse aus Berlin zwingt den Musikern nichts auf, er lässt ihnen das nicht immer messerscharf genaue Einsetzen, auch ihr Vibrato und das bisweilen knappe Fassen der Pausen. Ja, er toleriert auch, im Falle der Vierten, der Siebten wie der Achten, die Verwendung der unsäglichen Mischfassungen, die Robert Haas, der ehemalige Leiter der Musiksammlung in der Österreichischen Nationalbibliothek, in krasser Grenzüberschreitung erstellt hat. Umgekehrt ist von Orchestermitgliedern immer wieder zu hören, sie bekämen in der sparsamen Zeichengebung des Dirigenten genau das, was sie benötigten.

Das Ergebnis, wenn man all das in Rechnung stellt: reines Glück. Bruckner-Glück. Grösse und Kraft gibt es fürwahr, aber nirgends ist die Balance gestört, selbst bei vollem Blech bleiben die von Streichern formulierten Harmonien zu hören – auch in der Vierten, wo das Horn-Signal so rasch im Getöse untergehen kann. Auf der anderen Seite herrscht in diesem Bruckner-Bild eine Kultur des Leisen – und in Verbindung damit ein überwältigendes Fest der Farben. Da ist zu hören, was die Wiener Philharmoniker zu bieten haben, wenn sie es bieten wollen, und es geschieht nicht um seiner selbst willen, sondern zum Gewinn der Musik Anton Bruckners. Dabei ist alles eingebettet in weiche Konturen, ohne dass das Geschehen verflösse – Welten liegen zwischen dem Klangbild Thielemanns und jenem Eugen Jochums, bei dem der grosse Bruckner-Dirigent Bernard Haitink gelernt und von dem er sich später so gründlich emanzipiert hat. Und dann, vor allem: die Übergänge. Ganz organisch wirkt die Musik Bruckners hier, obwohl sie ja in manchem Moment parataktisch gedacht ist, Dinge unvermittelt nebeneinanderstellt. Das muss erst einmal gelingen.

Anton Bruckner: Die 11 Sinfonien. Wiener Philharmoniker, Christian Thielemann (Leitung). Sony 19658760172 811 CD).